Stadt oder Dorf?

Wird Winterthur sich in den nächsten Jahren stärker Richtung eines urbanen Zentrums entwickeln – oder schlägt das Pendel zurück zu einer dörflichen Politik? Dies entscheiden vermutlich ungefähr ein Drittel der Stimmberechtigten am kommenden Sonntag. Der Ausgang ist offen, die fortschrittliche Allianz von GLP, EVP, Grünen und SP müsse zittern, sagen die einen. Die Allianz andererseits hat den Vorteil, dass sie geeint auftritt und gemeinsam rund 56,5 Prozent der WählerInnen vertritt.

 

Matthias Erzinger

 

Es ist nicht die Polarisierung zwischen links und rechts, die Winterthur in den letzten Jahren zu einer «Swing-Stadt» gemacht hat. 2014 hatte eine konservative Koalition aus SVP, FDP und CVP die Mehrheit im Stadtrat erobert, nachdem zuvor acht Jahre lang eine Mehrheit aus SP und Grünen die Stadt regierte. 2018 kehrte Winterthur zu einer rotgrünen Mehrheit zurück, und 2020 eroberte die GLP mit Katrin Cometta einen Sitz auf Kosten der FDP, nachdem ein Jahr zuvor schon eine Ersatzwahl klar zugunsten des SP-Kandidaten Kaspar Bopp ausgegangen war. Im Zentrum stand primär die Verkehrspolitik und damit das Baudepartement. 2014 wurde die damalige Bauvorsteherin Pearl Pedergnana (SP) abgewählt, 2018 dann ihr Nachfolger Josef Lisibach von der SVP. Sitzt jetzt also die jetzige Bauvorsteherin Christa Meier (SP) wieder auf einem Schleudersitz? Schafft es die progressive Allianz trotz einem aufwändigen Wahlkampf der neuen FDP-Kandidatin, ihre fünf Sitze zu verteidigen und zudem mit Kaspar Bopp das Stadtpräsidium zu erobern?

 

Die Antwort werden wir am Sonntag wissen. Auch wenn natürlich vor allem von Seiten der SVP gegen die ‹linke› Stadtregierung geschossen wird, liegt der eigentliche Konflikt im Spannungsverhältnis zwischen einer zunehmend urban ausgerichteten Bevölkerung und den Promotoren einer ‹dörflichen› Politik. Auf der einen Seite Klimaschutz, weniger Autoverkehr, attraktive Betreuungsangebote, Lebensqualität und ein breites kulturelles Angebot. Dem gegenüber steht wie auf dem Dorf das Primat des automobilisierten Individualverkehrs, von Parkplätzen, einer konservativen Rollenteilung und einer rein auf die wirtschaftlichen Interessen ausgerichteten Stadtentwicklung.

 

«Team Freiheit» 

Mit einem 5er-Ticket will die konservative Seite, die auch von den stark ideologisch geprägten Wirtschaftsverbänden unterstützt wird, die Mehrheit von GLP, SP und Grünen knacken. Es besteht aus zwei neuen KandidatInnen der SVP, einer Zweier-Kandidatur der FDP mit dem Bisherigen Stefan Fritschi und Gemeinderätin Romana Heuberger als Angreiferin, sowie dem bisherigen Stadtpräsidenten Michael Künzle von der sogenannten Mitte. Heuberger führte einen sehr engagierten Wahlkampf mit sehr viel Mitteln. Im Vordergrund steht ihr Kampf gegen Tempo-30-Beschränkungen und für mehr Parkplätze. Ihr Ziel, SP-Bauvorsteherin Christa Meier abzulösen. Mit einem «Dialograum» an der Marktgasse landete sie einen kommunikativen Coup, während sich Fritschi im Wahlkampf auffallend zurückhielt. Michael Künzle hingegen schüttelte viele Hände, war an vielen Anlässen präsent. Ein Fragezeichen bildet seine Heimbasis: Seine Partei ist geschrumpft und hat sich deutlich in die konservative Richtung verschoben. Sie lehnte eine Neuorganisation der Schulbehörden ebenso ab wie die neue Gemeindeordnung, welche unter Federführung ‹ihres› Stadtpräsidenten entstand. Künzle landete bei den letzten Erneuerungswahlen bereits nur auf dem drittletzten Platz der Gewählten. Seine Auftritte finden praktisch ausschliesslich bei Anlässen statt, während er politisch gesehen wenig in Erscheinung tritt. So hat er es fertiggebracht, gesetzliche Grundlagen der Kulturförderung auch zehn Jahre nach einer entsprechenden Absichtserklärung nicht vollendet zu haben. Während der Corona-Pandemie tauchte er zeitweise völlig ab. Zugestehen muss man ihm, dass er MitarbeiterInnen im kulturellen Bereich eingesetzt hat, die vor allem in den ersten eineinhalb Jahren der Pandemie sehr viel leisteten und die Kulturschaffenden stark unterstützt haben. Sonst allerdings wird Kultur in Winterthur vor allem verwaltet. Auffallend ist, dass Künzle sich schwertat, beim Covid-Gesetz Stellung zu beziehen. Sein Smartspider zeigt zwar ein rundum eingemittetes Profil, in lokalen Fragen jedoch vertritt er klar konservative Positionen. 

 

Die Kandidatin der SVP, Maria Wegelin, erreichte vor allem als Corona-Massnahmengegnerin und Kämpferin gegen die neue Gemeindeordnung Bekanntheit. Durch ihre Auftritte auf dem einschlägigen «Stricker-TV» und gegen ausserfamiliäre Betreuungsangebote ist sie eine typische Vertreterin einer konservativen, neolibertären Ideologie. Ihr Parteikollege, Thomas Wolf, Gemeinderat und Präsident von Gastro-Winterthur, hatte während Corona sehr viel Medienpräsenz und versuchte sich lange als moderater SVP-Kandidat und Gewerbler zu verkaufen. Allerdings behauptete er aus Versehen gegen Ende des Wahlkampfes noch, dass der Klimawandel zu hinterfragen sei …

 

Winterthur als urbanen Raum entwickeln

Diesem rechtskonservativen Dorf-Team steht die progressive Allianz gegenüber. Die fünf bisherigen Mitglieder des Stadtrates können auf eine solide Basis zählen. Dem Zusammenschluss von GLP, EVP, Grünen und SP kommt insofern Bedeutung zu, als die Allianz über die reine gegenseitige personelle Unterstützung hinausgeht und im Bereich Klima, Schule und Stadtentwicklung ein breiter Konsens besteht. Sie hat in den letzten vier Jahren versucht, die durch die konservative Mehrheit zuvor bewirkte Blockade im Bereich Verkehr und Stadtentwicklung Schritt um Schritt zu korrigieren. Auf explizite ‹linke› Massnahmen wurde verzichtet. Eine Ausnahme bildete der Versuch vor eineinhalb Jahren, die Steuern gleich um sieben Prozent zu erhöhen.

 

Bei den Volksabstimmungen hat der Stadtrat in den letzten Jahren eine hohe Zustimmung der Bevölkerung erhalten. So zum Beispiel bei der neuen Gemeindeordnung und der Neuorganisation der Schulbehörden oder auch dabei, das Ziel Netto-Null im Klimabereich schneller als ursprünglich geplant zu erreichen. Mit GLP-Stadträtin Katrin Cometta ist auch Zug in die lokale Klimapolitik gekommen, während die frühere FDP-Stadträtin Barbara Günthard sich in diesem Bereich auffallend zurückhielt.

 

Einen grossen Erfolg konnte Sozialvorsteher Nicolas Galladé bei der Abgeltung von Soziallasten auf kantonaler Ebene verbuchen. Auch sein Projekt, bei der Sozialhilfe durch gezielte Investitionen in eine intensivere Betreuung der SozialhilfebezügerInnen längerfristig die Kosten zu senken, war erfolgreich.

 

Schulvorsteher Jürg Altwegg steht einem Departement vor, in dem zwischen Verwaltung und den vier Kreisschulpflegen viele Unklarheiten bezüglich der Kompetenzen herrschten. So war das Departement mehr oder weniger immer bei Problemen ‹verantwortlich›. Dabei fällt auf, dass der beliebteste Vorwurf derjenige der ungenügenden Kommunikation ist.

 

Am exponiertesten ist Bauvorsteherin Christa Meier. Sie stand in den letzten Wochen am stärksten unter Beschuss. Insbesondere beim Verkehr, in dem sich die Widersprüche der ‹Autostadt› Winterthur am stärksten manifestierten. Entzündet hat sich dies vor allem an der schrittweisen flächendeckenden Einführung von Tempo 30 in den nächsten 20 Jahren und der Einführung von Blauen Zonen in den Quartieren. Positiv kann sie unter anderem die Entwicklung im Amt für Städtebau verbuchen, das in den letzten vier Jahren umfassende Grundlagen für die zukünftige Stadtentwicklung erarbeitet hat.

 

Winterthur ist nach progressiv-links gerutscht

Mit der neuen Gemeindeordnung wurde der Name des Parlamentes in Winterthur geändert. Es heisst neu Stadtparlament statt Grosser Gemeinderat. In diesem Parlament haben weder die konservative Seite noch SP, Grüne und AL eine Mehrheit. Die entscheidenden Fraktionen sind die Grünliberalen und die EVP. Die ehemalige CVP, die sich neu ja bekanntermassen als «Mitte» positioniert, ist hingegen ganz klar eine sehr konservativ und bürgerlich ausgerichtete Partei, die ihren christlich-sozialen Flügel, der effektiv noch eine Mitte verkörperte, entsorgt hat. An diesem Gesamtsystem wird sich voraussichtlich auch mit den erstmaligen Stadtparlamentswahlen nichts gross ändern. Interessant wird sein, welcher Flügel gestärkt wird. Kann die SP ihre vor drei Jahren gewonnenen drei Sitze verteidigen? Können die Grünen, die ihre inhaltliche Position in der Bevölkerung bisher nicht zu entsprechenden Parlamentssitzen ummünzen konnten, ihren Nachholbedarf verringern und deutlich Sitze gewinnen?

 

Mit dem Wachstum der Bevölkerung hat sich das Stimmverhalten geändert 

Winterthur ist gemäss einer Studie der Forschungsstelle Sotomo seit 2014 bei den eidgenössischen Abstimmungen deutlich in Richtung links-progressiv gewandert. Nun stellt sich die Frage, wer diesen Trend bei den Wahlen stärker umsetzen kann. Für die SP spricht, entgegen allen politischen Auguren, dass auch ihre Mitgliederzahl in den letzten Jahren stark angestiegen ist. Es ist daher eher eine Überraschung, wenn das klar rot-grüne Lager gesamthaft Sitze verliert. Normal hingegen wäre es, wenn SVP und Mitte erneut Wähleranteile verlieren, teilweise an GLP oder EVP und Grüne, teilweise eventuell auch an die FDP. 

 

Als Fazit kann also festgehalten werden, dass ein ‹normales› Resultat der Wahlen eine Bestätigung der bisherigen Mitglieder des Stadtrates sowie eine leichte Verschiebung der Sitze im Stadtparlament von rechts-konservativ in Richtung der Parteien der progressiven Allianz wäre. Der Wahlausgang beim Stadtpräsidium wird davon abhängen, wie stark der Mitleidseffekt mit dem amtierenden Stadtpräsidenten wirkt, der ja wirklich nett ist und niemandem etwas zuleide tut – aber halt auch nicht wirklich prägend wirkt. Und den man daher nochmals in Kauf nimmt.

 

Schulpflege: Progressive Allianz gegen EinzelkandidatInnen

Am Sonntag wird in Winterthur auch erstmals die neue Schulpflege gewählt. Dabei geht es um sechs Sitze, die in einem gut dotierten Halbamt zu besetzen sind. Auch für die Schulpflege hat die Progressive Allianz ein gemeinsames Quartett nominiert, während die anderen Parteien je für sich antreten. Es wäre daher eine Überraschung, wenn die vier progressiven KandidatInnen Karin Hürlimann, (GLP), Marco Innocente (EVP), Christoph Lanz (SP) und Susanne Trost Vetter (SP) nicht gewählt würden oder zumindest die Spitzenplätze belegen für einen zweiten Wahlgang. Positiv aus der übrigen Kandidatenschar sticht die FDP-Kandidatin Anna Graf hervor. 

 

Was bedeutet die tiefe Stimmbeteiligung?

Das «Team Freiheit», dessen Wahlkampfstratege im letzten Herbst den Bettel hinwarf, weil er sich mit der Corona-Skeptikerin Wegelin überwarf, wird es schwierig haben, die Mitte-Links-Koalition vollständig zu knacken. Am ehesten ist die FDP-Newcomerin Heuberger für eine Überraschung gut. Angesichts des konservativen Angriffs auf die bisherigen Mitte-Links-StadträtInnen ist aber die relativ tiefe Stimmbeteiligung die erste Überraschung dieser Wahlen. Bis zum 9. Februar haben 28 Prozent der Stimmberechtigten ihre Unterlagen eingesendet. Unklar ist dabei aber der Anteil bei den Stadtrats- und Parlamentswahlen. Dieser dürfte tiefer sein. Bei den Wahlen vor vier Jahren lag die Stimmbeteiligung bei 40,5 Prozent, vor acht Jahren bei 43 Prozent, während die Beteiligung an den eidgenössischen Abstimmungen jeweils deutlich höher lag. Geht man davon aus, dass die StammwählerInnen der Parteien tendenziell ihre Stimmen abgeben, kann aus dieser Stimmbeteiligung darauf geschlossen werden, dass der Angriff auf die bisherigen StadträtInnen von der konservativen Seite gescheitert ist, da sie stärker mobilisieren müsste, um den Basisrückstand wettzumachen. 

 

Andererseits machen wenige Stimmen bei einer tiefen Stimmbeteiligung viel aus und sind Überraschungen einfacher zu realisieren. Als weitere Unwägbarkeit muss die Corona-Pandemie genannt werden. Wie motiviert sind die Corona-LeugnerInnen, ihren Frust an die Urne zu tragen? Möglicherweise kann bei dieser Ausgangslage die Überraschung auch darin bestehen, dass die Newcomerin der FDP den eigenen bisherigen Stadtrat verdrängt …

 

So oder so ist in Winterthur für Spannung gesorgt. Und einmal mehr gilt hier ganz besonders: Jede Stimme zählt. 

 

* Matthias Erzinger ist ehemaliger Journalist und Rentner. Er war bis September letzten Jahres Mitglied des SP-Wahlteams in Winterthur und hat in den letzten Monaten die Progressive Allianz beratend begleitet.

 

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