- Im Gespräch
«Staatsverweigerer:innen führen heute schon Feindeslisten»
Der Nationalrat verlangt einen Bericht zu Staatsverweigerer:innen. Der Rat stimmte einem Postulat von Nina Schläfli (SP) zu, das den Bundesrat aufforderte zu prüfen, «inwiefern Staatsverweigerer:innen, Selbstverwalter:innen und Reichsbürger:innen in der Schweiz tätig sind». In der Woche zuvor unterstrich ein Fall aus Pfäffikon ZH die Dringlichkeit des Anliegens: Ein 64-Jähriger stieg zu einem Gemeindemitarbeiter ins Auto, drohte ihm mit einer Waffe und zwang den 27-Jährigen, der im Betreibungsamt tätig ist, loszufahren. Wie Recherchen von ‹Blick› und der NZZ ergaben, ist der mutmassliche Täter ein Staatsverweigerer. Der Kriminologe Dirk Baier ist spezialisiert auf politischen Extremismus und befasst sich schon länger mit Staatsverweigerer:innen.
Was haben Sie gedacht, als Sie letzte Woche von der Entführung gelesen haben?
Dirk Baier: Ehrlich gesagt, dachte ich da noch nicht an Staatsverweigerer:innen. In letzter Zeit war es eher ruhig um die Szene, und Gewalt von Staatsverweigerer:innen in der Schweiz ist sehr selten. Ich war also auch überrascht. Als ich dann gelesen habe, dass der Täter ein älterer Mann mit Schusswaffe war und das Opfer vermutlich beim Betreibungsamt tätig ist, ergab die Spur zu einem mutmasslichen Staatsverweigerer schon Sinn.
Ist der Fall also typisch für Gewalt von Staatsverweigerer:innen?
Von einer typischen Gewalttat würde ich nicht sprechen. Physische Gewalt von Staatsverweigerer:innen ist in der Schweiz ein neues Phänomen, obwohl es in den Telegramgruppen und in Workshops bei Treffen der Szene sicher einen Hang zu Gewaltphantasien gibt. Weil es aber bislang kaum Gewalttaten in der Schweiz gab. Ich fände es deshalb heikel, diese Tat nun als typisch zu bezeichnen. Was aber zutrifft, ist das Profil: Männlich, hohe Affinität zu Schusswaffen und Verschwörungstheorien und über 50, das passt zu dem, was wir aus Deutschland über die Szene wissen. Man spricht hier von einer Radikalisierung in der zweiten Lebenshälfte.
Und woher kommt diese Radikalisierung?
Oft beginnt es mit persönlichen Krisensituationen wie Scheidungen, Verlust des Arbeitsplatzes oder Verschuldungen. Forschung aus Deutschland zeigt, dass viele Leute aus dem staatsablehnenden Milieu in der ersten Lebenshälfte ein unauffälliges Leben führen. Dann ist es die Kombination aus der Krisensituation und einem fehlenden sozialen Auffangnetz, die Menschen radikalisiert. Besonders Männer, die sich Schwäche schwer eingestehen können und den Fehler bei anderen suchen, sind anfällig. Dazu kommt, dass sie im Internet auch wahnsinnig schnell bei verschwörungstheoretischen Inhalten landen. Wer googelt, wieso man Steuern zahlen muss, landet in drei Klicks bei Inhalten aus dem Milieu der Staatsverweigerer:innen. Insofern ist das Internet ein Durchlauferhitzer für die Radikalisierung. Da kommen Menschen in Chatgruppen und später auch zu Veranstaltungen zusammen, wo sie noch mehr Gleichgesinnte treffen.
Wie könnte denn eine Prävention für dieses Altersprofil aussehen?
Das ist denkbar schwierig. Schulen oder Jugendzentren, wo wir sonst bei der Prävention ansetzen würden, fallen weg. Ich denke, es ist wichtig, dass die Gesellschaft besser sensibilisiert und achtsam ist. So fällt den Leuten auf, wenn sich jemand radikalisiert, und im besten Fall wendet sich das Umfeld dann an eine Extremismusfachstelle. Dort wissen die Mitarbeitenden, wie solche Themen am besten angesprochen werden können. Am Ende ist die Staatsverweigerung oft auch Ausdruck von realen Problemen wie Arbeitslosigkeit oder einer schwierigen finanziellen Situation, bei denen eine Fachstelle Unterstützung leisten kann.
Gibt es auch Frauen unter den Staatsverweigerer:innen?
Beim Thema Kesb (Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde), das in der Schweizer Szene wichtig ist, gibt es viele durchaus Frauen, die sich engagieren. Wenn es allerdings um Gewalttaten geht, sind es meist Männer. Es ist also keine rein männliche Szene, aber eine, in der Männer dominant sind.
Woher kommt denn diese Gewaltaffinität der Männer?
Diese Männer stellen sich auf einen Konflikt mit den Behörden ein oder suchen ihn aktiv. Darauf bereiten sie sich vor, mit Wissen und Recherche und in den krassesten Fällen eben auch mit Schusswaffen. Dazu kommt ein archaisches Männerbild, in dem man sich umzingelt von Feinden sieht, die man bekämpfen muss.
Wie gross ist die Szene der Staatsverweigerer:innen in der Schweiz?
Das ist eine total wichtige Frage, auf die wir zurzeit keine Antwort haben, weil uns für die Schweiz die Zahlen fehlen. In Deutschland sind es ungefähr 25 000 Menschen, die man der Staatsverweigerer-Szene – dort meist Reichsbürger – zurechnet. Rechnet man das runter auf die Schweiz, wären es irgendwo zwischen 2000 und 3000 Menschen. Wir wissen, dass in der Schweiz zwei Prozent der Menschen staatsablehnende Haltungen teilen. Wie viele davon aber wirklich radikalisiert sind oder sich staatlichen Stellen widersetzen, wissen wir noch nicht.
In Deutschland hat eine Gruppe von Staatsverweigerer:innen den Umsturz geplant. Ist die Szene in der Schweiz auch so vernetzt?
Das Bild einer komplett stark vernetzten Szene in Deutschland muss ich etwas relativieren. Viele Staatsverweigerer:innen sind Selbstverwalter:innen und wollen mit niemandem etwas zu tun haben. Es waren also nie riesige Netzwerke, die einen Umsturz geplant haben. Was es aber durchaus gab, sind Zellen wie jene um Heinrich Prinz Reuss, bei denen auch einflussreiche Menschen dabei waren. Rechtsanwälte und hohe Militärs planten da gemeinsam den Umsturz. Ich denke, eine grössere Gruppe von Staatsverweigerer:innen zu finden, die ein gemeinsames Ziel und die finanziellen Mittel haben, ist in der Schweiz alleine schon aufgrund der Grösse des Landes schwierig. Dazu kommt noch die Mehrsprachigkeit, die die Vernetzung zusätzlich erschwert. Ich denke also nicht, dass in der Schweiz aktuell jemand aktiv den Umsturz plant. Die Phantasie hegen sicher viele in der Szene, aber den Schritt zur Organisation machen wenige. Wir sehen aber am Fall von Pfäffikon, dass man die Szene ernst nehmen muss, auch wenn sie jetzt nicht zu einem Umsturz fähig ist.
Wurden während Corona mehr Menschen zu Staatsverweigerer:innen?
Corona hat die Szene auf alle Fälle sichtbarer gemacht. Man hat auf Demonstrationen Staatsverweigerer:innen gesehen und auf der anderen Seite ist durch die Massnahmen auch der Staat spürbar gewesen. Ob es dadurch mehr geworden sind, kann man nicht sagen, da uns die Zahlen fehlen. In Deutschland nahm die Zahl schon vor der Pandemie von Jahr zu Jahr zu, einen Corona-Effekt mit einer deutlichen Zunahme sieht man aber dort nicht.
Am Dienstag hat der Nationalrat entschieden, dass der Bundesrat einen Bericht zu Staatsverweigerern in der Schweiz erstellen muss. Immer wieder wird auch eine Überwachung der Staatsverweigerer gefordert. Was halten Sie davon?
Ich fände es wichtig, da wir so endlich mal konkrete Zahlen bekommen. Vielleicht ist die Szene ja auch viel kleiner als bisher angenommen. Dazu wäre es eine Möglichkeit, mehr über die Szene an sich zu erfahren und auch ihr Gewaltpotenzial besser einzuschätzen. Was wollen Staatsverweigerer:innen erreichen? Wie viele davon sind bewaffnet? Wie viele davon sind wirklich gewaltbereit? Darüber wissen wir noch zu wenig. Sie können sich ja vorstellen, dass Menschen, die den Staat ablehnen, auch auf wissenschaftliche Befragungen nicht wirklich positiv reagieren. Also müssen wir uns aktuell noch auf Berichte aus Deutschland oder auf öffentliche Chats auf Telegram stützen. Was wir dort sehen, lässt allerdings schon auf eine Gefahr schliessen. Mittlerweile führen Staatsverweigerer:innen auch in der Schweiz Feindeslisten, auf denen sie Namen und Wohnorte sammeln.
Denken Sie nicht, dass die Radikalisierung zunimmt, wenn Menschen, die den Staat ablehnen, vom Staat überwacht werden?
Das sehe ich weniger. Ich würde eher davon ausgehen, dass die Szene klandestiner werden würde. Also, dass sie sich noch mehr aus der Öffentlichkeit zurückzieht und sich besser gegen Überwachung zu schützen versucht. Was man in Deutschland beobachten kann, ist, dass die Zahl der Staatsverweigerer:innen trotz Überwachung zunimmt. Eine abschreckende Wirkung scheint eine Überwachung nicht zu haben.
Der Zürcher Regierungsrat schrieb vor zwei Jahren auf Anfrage im Kantonsrat von Christoph Fischbach, Michèle Dünki-Bättig und Sibylle Jüttner (alle SP), dass von den Staatsverweigerer:innen in der Schweiz zu diesem Zeitpunkt keine akute Gefahr ausgehe.
Spannenderweise war es dann ein Jahr später aber auch wieder der Kanton Zürich, der beim Nachrichtendienst des Bundes darum gebeten hat die Staatsverweigerer:innen zu überwachen.
Was ist denn in diesem Jahr passiert?
Es gab in dieser Zeit zwar keine schwere Gewalt von Staatsverweigerer:innen, aber die Kantonspolizei hatte wohl mehrere unangenehme Interaktionen. Dazu kam eine verstärkte Vernetzung unter den Kantonen. Im Thurgau und in St. Gallen gibt es viele Staatsverweigerer:innen, die sehr aktiv sind und die Behörden damit herausfordern. Vermutlich hat das auch beim Kanton Zürich zu einem Umdenken geführt.
Sind Staatsverweigerer:innen eigentlich ein Phänomen, das es nur im deutschen Raum gibt? Ich lese selten etwas von schwedischen oder britischen Staatsverweigerer:innen.
Die Bewegung an sich ist wohl hauptsächlich ein deutschsprachiges Phänomen. Interessanter finde ich es aber, auf staatsablehnende Tendenzen insgesamt zu schauen. In rechten bis rechtsextremen Kreisen auf der ganzen Welt sieht man diese Haltungen von Staatsablehnung und Staatsdistanz auch. Vermutlich finden Menschen mit diesen Einstellungen im deutschsprachigen Raum bei den Staatsverweigerer:innen am ehesten Anschluss. Die Haltungen sehen wir aber weltweit in relevanter Zahl. Wenn man so will, teilt die aktuelle amerikanische Regierung um Donald Trump viele Positionen von Staatsverweigerer:innen.