(Bild: «Green Border» von Agnieszka Holland, Trigon Film)

Sprache und Befreiung

Mit drei russischsprachigen Texten aus dem postsowjetischen Raum macht das «Echo Ljubimowka»-Festival auf die Existenz einer regen Antikriegsdramatik aufmerksam. Die Texte stellen die Schuld der Tätersprache, die künftige historische Einschätzung der Ereignisse und den baren Galgenhumor zu Kriegsbeginn nebeneinander.

Bereits während den letzten grossen Demons­trationen gegen die Korruption des Putinregimes 2017 konnte während einer Reise nach St. Petersburg beobachtet werden, wie Personen allein dafür verhaftet worden waren, dass sie ein leeres Blatt Papier in die Höhe hielten. Mit der sogenannten militärischen Spezialoperation rollte fünf Jahre später eine weitere Repressions- und Zensurwelle über die Zivilgesellschaft des Landes. Das Wort Krieg zu äussern wurde verboten, und gemäss dem Text «Wanja lebt!» und dem Zoom-Gespräch im Anschluss mit der Autorin Natalia Lizorkina weitete der Apparat die Unterstrafstellung von Begriffen auch auf die Verwendung des Gegenteils aus. «Wanja lebt!» verkehrt die Empfindungen einer Mutter, deren Sohn im Sarg aus dem Kampf zurückkehrt rein sprachlich in ihr jeweiliges Gegenteil, was nach einigen Augenblicken der Irritation sonnenklar wird und die bleierne Schwere der Komplexität von Zusammenhängen noch verstärkt erkennbar macht. Neben der damit herbeigeführten Verdoppelung der regelrechten Absurdität der Lebenssituation für Bürger:innen wies die Direktumkehr bereits starke Züge einer Infragestellung der Unterscheidbarkeit von Tatsachenberichten und Propagandaverdrehungen, also einer kolossalen Verunsicherung auf. Im Nachgespräch erklärte Natalia Lizorkina eine zusätzliche Erschwernis als sinnbildlich mitgemeint: Die literarische Produktion im Sinne einer Widerständigkeit unter Verwendung der Tätersprache, was die Frage nach einer Schuld einer Sprache noch viel existenzieller stellt und Autor:innen im Exil vergleichbar beschäftigt, wie es deutsche Intellektuelle während des Naziterrors in die schiere Verzweiflung getrieben hatte.

Kein Halt in der Sprache

Agnieszka Hollands fächerte in ihrem Film «Green Border» (Bild) eine Vielzahl der Perspektiven von beidseitig der belarussisch-polnischen Grenze bestehenden Dilemmata auf, die eine unmittelbare Dringlichkeit erreichten, weil die Regierung Lukaschenko für Kriegsflüchtende aus Afghanistan und Syrien eine gesicherte, ja beinahe schon touristische Reise anpries, während sie tatsächlich vor Ort in einer zynischen Instrumentalisierung unter vorgehaltener Waffe über die Grenze nach Polen verfrachtet werden sollten. «Say hi to Abdo» von Mikita Ilyinchyk schaut aus der Zukunft der Mitte des aktuellen Jahrhunderts in einer Art juristischer Aufarbeitung darauf zurück. Im Text hat – ganz Houellebecq – die sunnitische Muslimbruderschaft die Kontrolle über Europa erlangt, die mittels einer KI-gestützten Komplettkontrolle jede Zivilperson umfassend in ihrer Bewegungs- und Aktionsfreiheit lähmt. Aufseiten dieser Herrscher geht Opposition allein von einer Fem-Jihad-Party aus, während auf ehemals polnischer Seite eine angeklagte Frau im Verhör nicht ohne Stolz ausführt, mit welch abstrakter Handlungsweise sie ihrer Ohnmacht entgegenwirkte. Sie vergewaltigte den titelgebenden Flüchtenden mit dem Ziel einer Schwangerschaft aus dem Verständnis heraus, die Bewahrung von dessen DNA sei der ihr einzig mögliche Akt für einen subversiven Widerstand. Die szenisch recht sprunghafte Erzählung in Stakkatoenglisch mit wegen der Verstärkung ungünstigem Hall im Raum war der am schwierigsten erfassbare Text des Nachmittags, der dafür auf Ebene Komplettmisstrauen gegenüber allem Gesagten eine erdrückende Nachfühlbarkeit entwickelte. Kann ich meiner Wahrnehmung noch trauen?

Übersprungshandlung

Das Leben als einfache Bürger:in in der zaristischen, sowjetischen, russischen Einflusszone war noch nie einfach. Wer von den Interessen der gerade herrschenden Klasse schlicht in Ruhe gelassen wird, kann schon froh sein. Eine Lebenshaltung auf dem schmalen Grat zwischen Gleichmut und Sarkasmus, auch Galgenhumor genannt, ist als Überlebensstrategie recht verbreitet und auch Inhalt von «Frauen im Dunkeln» von Iryna Serebriakova und Masha Denisova. Ihre Sammlung von Originaltönen von Kiewer Frauen aus den Anfangstagen des auch drei Jahre später noch anhaltenden Ukrainekrieges zeugen von einer nachgerade perfiden Heiterkeit. Wenn eine Frau erklärt, die dadurch ständig notwendige Orientierung im Dunkeln während des Abstiegs im Treppenhaus aus dem 13. Stockwerk habe wie beiläufig den positiven Effekt, dass sie sich nun auch auf der dunklen Strasse viel weniger als zuvor fürchte, ist das nur als Zweckheiterkeit alias Übersprungshandlung überhaupt verstehbar. Iryna Serebriakova betonte im Nachgespräch, dass dies eine Momentaufnahme aus den Anfangstagen ist und heutige Aussagen von in Kiew lebenden Frauen ganz anders klingen würden und wies explizit darauf hin, dass sich für sie als im Exil lebende Person zudem der Fragekomplex auftürmt, wer überhaupt das Recht in Anspruch nehmen könne, für die Frauen in der Ukraine sprechen zu dürfen. 

«Echo Ljubimowka»-Festival, 26.4., Helferei, Zürich.