(Bild: Stefan Altenburger)

Spieglein, Spieglein

Wer nicht vollends blindlings durch die Unmittelbarkeit stolpert, ist Zeitgenoss:in. Und stellt den Ausdruck der eigenen Wahrnehmung in eine Korrelation dazu.

Seit der Wiedereröffnung der ehemaligen Sammlung Oskar Reinhart und der Neuhängung der Werke manifestiert sich sehr viel expliziter als davor, worüber sich der Richtungsstreit der mäzenatischen Sammler Reinhart und Hahnloser-Bühler entfacht hatte. Mit der Bezugnahme auf die Geburt der Neuen Sachlichkeit während einer Ausstellung der Kunsthalle Mannheim von vor einhundert Jahren, worin Niklaus Stoecklin der einzige nichtdeutsche Vertreter war, schlägt das Pendel derzeit auch im dritten Stock tendenziell in die damalige Reinhart’sche Richtung. Obschon dem Kurator:innenduo Andrea Lutz und David Schmidhauser der Sinn nicht zuvorderst nach Streiten steht, breitete sich dieser damals sogar innerfamiliär zwischen den Gebrüdern Oskar und Georg Reinhart aus. Es ist diesem Eitelkeitsbewerb zu verdanken, dass sich die grossen und bedeutenden Gemälde «Vorstellung» (Oskar) und «Casa Rossa» (Georg) heute in der Obhut des Kunst Museum Winterthur befinden und den Ausgangspunkt für eine Gegenüberstellung von drei Künstler:innen bilden können. Die an Theodor Adorno angelehnte Titelwahl «Reflexionen aus dem beständigen Leben» könnte dazu verleiten, eine der augenscheinlichsten Gemeinsamkeiten der drei Maler:innen zu übersehen und zu weit suchen zu wollen: die sprichwörtliche Spiegelung. Insbesondere bei Liselotte Moser (1906–1983), die erst vor drei Jahren durch eine grosse Einzelschau ihrer Nachlassverwahrerin, dem Nidwalder Museum in Stans, aus dem Dornröschenschlaf geholt worden ist, spielt der Spiegel und die Spiegelung eine grosse Rolle. Im frühen Kindesalter von Kinderlähmung befallen, hinderte sie dieses Gebrechen nicht daran, einen Weg als «Nur-Künstlerin» einzuschlagen. Nach Studien und Wien und Bern reiste sie 1927 ihrer Mutter nach Detroit nach, die an der dortigen Kunstakademie lehrte und wo sie ihre malerische Hochzeit, den reichhaltigsten intellektuellen und künstlerischen Austausch und ihre typische Form fand. Nach dem Hinschied ihrer Mutter 1964 entschied sie sich für die Rückkehr in die Schweiz, fand in Luzern keine bezahlbare Bleibe und landete in Stans, wo sie bis zuletzt arbeitete, aber aufgrund der Umstände wenn nicht gar vereinsamte, dann zumindest in Vergessenheit geriet. Ihre malerische Gemeinsamkeit mit der hyperrealistisch-filigran-exakten Malweise von Niklaus Stoecklin, die neben der inhaltlichen Beschäftigung auch die Beweisführung für ihr rein handwerkliches Können demonstrierte, ist augenscheinlich. Die Beschäftigung mit sich selbst und der direkten Umgebung der Link zur sogenannten Neuen Sachlichkeit. Hinter dem Liftschacht zeigt die Ausstellung eine Serie von neun Selbstdarstellungen in Grafit, die eine eigene Wesensergründung bis hin zur Vermittlung ebendieses Ausdrucks vermuten lassen. Das Thema lag genauso wie bei Stoecklin ohnehin in der Luft, auch wenn die Bearbeitung individuell ausfiel. Bei Stoecklin war es der Surrealismus als bildnerische Entsprechung der Erforschung der Psyche und der Träume, die mitschwingen, auch wenn er sich dem genauso entschieden widersetzt wie den Tendenzen der Moderne, und es zu einer Meisterschaft des Magischen Realismus brachte. Die Sachlichkeit, die vergleichsweise banale Dingwelt ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, ist eine weitere Parallele, wie es zum Beispiel das «Stillleben mit Schachteln» von Liselotte Moser punktgenau aufzeigt. Die dritte im Bunde, die erst 1989 geborene Unterwalliserin Louisa Gagliardi, ist der aktuell aufstrebendste Stern am Kunsthimmel mit Schweizbezug, weshalb der Wille, sie ans Haus zu holen, nicht krass überraschend ist. Ihre digitale Arbeitsweise weist oberflächlich betrachtet kaum Gemeinsamkeiten mit der von den beiden anderen hochgehaltenen Fingerfertigkeit auf, ihre Zeitgenossenschaft indes bräuchte gar nicht erst betont zu werden. Weils zum Spiel dazugehört, wird sie gelabelt als heutige Vertreterin der figurativen Malerei, worüber man durchaus in Streit geraten könnte.

«Reflexionen aus dem beständigen Leben», bis 8.2.26, Kunst Museum Winterthur / Reinhart am Stadtgarten. Katalog.