Skeptisch, optimistisch: ja/nein?

«Für intelligente Optimistinnen und konstruktive Skeptiker» – so der seit längerem verwendete Untertitel – sei der ‹Zeitpunkt› gedacht. Dieser innere Widerstreit zwischen Hoffen und Bangen, Wollen und Können ist auch sein eigentliches Thema. Dabei geht es um fast alles, von der hohen Politik bis zum täglichen Leben.

 

Hans Steiger

 

«Lese wild und gefährlich», warb der ‹Zeitpunkt› in einer Anzeige im P.S. für seine aktuelle Ausgabe mit dem Schwerpunkt «dafür | dagegen». Jahrhunderte lang sei Toleranz «die Formel für ein friedliches Nebeneinander» gewesen. «Doch diese Zeiten sind vorbei. Was kommt jetzt?» Im nun vorliegenden Heft sehe ich, dass das ein Austauschinserat war. Und ‹die linke Zürcher Zeitung› stellt eine Gegenfrage: «Dafür, dagegen, einerlei? Mit P.S. gegen Einheitsbrei.» Ein guter Ankick zur Lektüre mit gezücktem Markierstift.

 

Anregend, aufregend, ärgerlich
Obwohl er wiederholt eine Ablösung suchte, ist Christoph Pfluger seit 1992 der prägende Herausgeber des ‹Zeitpunkt›, der mit einer Auflage von derzeit gut 10 000 Exem­plaren alle zwei Monate erscheint – regelmässiger als auch schon. Ich war als Leser von Anfang an dabei, fand in jeder Ausgabe anregende, manchmal aufregende, immer auch ärgerliche Artikel. Als ich noch stark im (partei)politischen Feld verankert war, waren mir zumal die Blicke ins breite Spektrum sonstiger zivilgesellschaftlicher Bewegungen wichtig. Oft wurde das verdammt unbequem. Sollte ich ein Referendum gegen den Beitritt der Schweiz zur WTO unterstützen, das die neue Zeitschrift propagierte? Noch heute schäme ich mich, dass ich nach dem EWR-Streit schlicht nicht erneut einen ähnlichen Abstimmungskampf wollte. Globalisierungskritische und basisdemokratische Impulse fanden sich im ‹Zeitpunkt› häufig früher als anderswo. «Vollgeld» oder «Grundeinkommen» sind mir wahrscheinlich dort zum ersten Mal begegnet, dazu von Heft zu Heft viele kleinere Ideen, persönliche Initiativen, praktische Experimente. Fremd blieben mir die Abstecher in den Grenzbereich zur Esoterik. Sie sind jetzt seltener geworden, bleiben aber in Anzeigen und Beilagen präsent; die November-«Wohlfühl-Tage», wo sich «Gesundheit & Heilung u.v.m.» an 80 Ständen finden lässt, mögen ein Beispiel sein. Auch der exotisch-farbige Bericht zum 50-Jahr-Jubiläum des Tibet-Klosters in Rikon? Zumindest die wie ein Motto an den Rand gestellte Dalai-Lama-Weisheit: «Nichts ist entspannender, als das anzunehmen, was kommt.»

 

Superhelden – mit Fragezeichen
Umgekehrt entdeckte ich wieder eine Reihe von neuen Büchern, die vielversprechend klingen. «Kritik der Migration» liegt schon auf meinem Stapel. Es soll Aufklärung wider alle Trends sein. Weder dafür noch dagegen, aber links. Zu den Rezensionen und Auszügen aus Publikationen aller Art kommen Berichte, Porträts prägnanter, oft trotzdem weithin unbekannter Personen. Unter die Haut geht eine Reportage von Klaus Peters. Laut persönlicher Website war er bis 2012 als Philosophieprofessor an der Uni Bern tätig, seither ist er freier Fotojournalist. Er stellt ‹Humanity Crew› vor, eine Hilfsorganisation, die sich «auf traumatisierte Geflüchtete spezialisiert hat». Eine von vielen notabene. Es gebe einen eigentlichen «Traumaboom» und höchst unterschiedliche Konzepte. Hier wird ein offenbar eher Unkonventionelles vorgeführt, das mit «Super Hero» als «Zauberwort» agiert, gezeigt bei Einsätzen auf der Insel Lesbos. Wenn sie ankommen, hätten die Menschen meist «einen Horrortrip» hinter sich, erklärt der porträtierte Helfer vor Ort. Genau in dem Moment sei es wichtig, ihnen eine andere, eine positive Geschichte zu erzählen: «Wir gehen direkt auf sie zu und sagen ihnen, wie unfassbar mutig sie doch waren, diese Strapazen auf sich zu nehmen, und dass sie stolz auf sich sein dürfen, eben: dass sie Superhelden sind. Was ja auch stimmt!» Über den Text ist eine entsprechend reisserische Schlagzeile gesetzt, die kombiniert mit den Fotos allerdings eher den Helfer als Hero erscheinen lässt. Dabei besteht die Crew «zu 80 Prozent aus Frauen». Trotz plausibel erscheinenden psychologischen Argumenten blieben bei mir ein paar Fragezeichen. Ob das nun in die Abteilung «wild und gefährlich» gehört?

 

Mehr als zwei Möglichkeiten
Aber nun zum thematischen Schwerpunkt, der angesichts zwingend auf ein Ja oder Nein zugespitzter Abstimmungskämpfe quasi tagesaktuell ist. Christine Ax traf sich im Jura, wo anarchistisches Gedankengut nachwirkt, mit Chris Zumbrunn, um über Ergänzungen der direkten Demokratie zu diskutieren. Diese gewähre uns zwar im Vergleich zu andern eine aussergewöhnlich aktive Rolle. Doch die Ermächtigung des Volkes könnte weit darüber hinaus reichen, findet der auf Mont Soleil lebende Vertreter einer vernetzten «Dezentrale». Etwa durch «Bürgerräte», wie es sie zum Beispiel in Vorarlberg gebe. Die dort kommunal erprobte Methode «konstruktiver Kommunikation» eigne sich, um Probleme mit vielleicht zwölf nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Leuten im offenen Gespräch anzugehen, gemeinsam mögliche Lösungen zu sichten, Fakten und Bedenken zu prüfen. «Keine intellektuellen Showkämpfe, kein Gesichtsverlust, keine Verlierer, nur Gewinner.» Klingt gut. Doch wie gross dürfen diese Probleme sein? Und könnten das herkömmliche Volksvertretungen bei gutem Willen nicht auch tun?
Dafür scheint das weiter hinten lobend erwähnte Beispiel von Jörg Kündig zu sprechen, der als Gemeindepräsident «tausend Freiwillige» zur Arbeit für die Gemeinschaft motiviere und so zeige, «dass man Gemeinden nicht als Wirtschaftsunternehmen führen muss». Nun liegt dessen Gossau zwar im Zürcher Oberland, war mir aber nie speziell aufgefallen. Auch im ‹Zeitpunkt›-Text fand sich kaum Konkretes. Bei der Recherche landete ich bei der FDP, wo Kündig als Oberst im Generalstab einer Kommission für Äussere Sicherheit angehört. Er hat zudem einmal ein Buch über «richtige Anlageentscheide» verfasst. Hervorgehoben wird sein Wirken als Präsident des Gemeindepräsidentenverbandes. Vielleicht ist er ja unter den Liberalen wirklich nicht der Schlimmste. Und wie Annette Jensen in einem anderen Beitrag vielleicht zu treuherzig betont, darf sich, «wer gesellschaftlich etwas bewirken will», nicht aufs Radikale beschränken. «Dagegen braucht Dafür». Schritt für Schritt in die richtige Richtung zum Ziel …

 

Wünsche nach einem «Wir»
Elisa Rheinheimer-Chabbi, Politikwissenschaftlerin und deutsche Publizistin, will ebenfalls weg von der heute verbreiteten «Haltung der Unverbindlichkeit», die «vor allem gebildete, kosmopolitische Städter» präge. Sie hätten «die meisten Chancen, die meisten Optionen – und somit die grössten Schwierigkeiten, eine Entscheidung zu treffen». Aber es gebe auch den gegenläufigen Trend, eine Renaissance der Nachbarschaft, der Familie. «Ichlinge» wünschen sich mehr Geborgenheit; «die Sehnsucht nach Planbarkeit und Verlässlichkeit wächst». Aus der Analyse wird ein Plädoyer für die «Suche nach einem Wir». Wir sollten den schönen Vorsatz nicht bis zum Neujahrstag verschieben. Vielleicht könnte das Wir «in einer politischen Partei warten oder im Flüchtlingsheim um die Ecke», bei Amnesty, beim Naturschutzbund. Möglicherweise wäre der private Entscheid für eine Hochzeit fällig … Ich las den Text mit zunehmend unguten Gefühlen. Einfach irgendwas wählen, um einem zeitgeistigen ‹Anything goes› zu entfliehen? Da gäbe es ja der Angebote noch viele: «Wir sind das Volk!» in seiner Neuauflage. Stände mit dem Koran: «Lies!» Hier zwar garantiert nicht gemeint, auch nicht erwähnt, aber vorhanden.
Dass andere Beiträge entschieden andere Akzente setzen, sei nicht unterschlagen. Als intelligenter Optimist könnte Martin Vosseler sogar konstruktive SkeptikerInnen davon überzeugen, dass nach inzwischen weitgehend erfolgreichem Anti-AKW-Kampf jetzt als «logische Fortsetzung» die weltweite Bewegung für Klimaschutz in Gang kommt. Mit vergleichbarer Durchschlagskraft. Gleichfalls aus Basel kommt Katharina Zaugg, die als Putzexpertin «achtsame Raumpflege» demonstriert. Zen live sozusagen, für eine bessere Umwelt. Christoph Bachmann, der früher als Kadermann «für ein futuristisches Projekt der Raumfahrt» zuständig war und nun seine handwerkliche Lust mit dem Bau von perfekten Cheminéeöfen befriedigt, wärmt sogar beim Lesen. PR hin oder her. Besonders ans Herz gelegt sei aber allen eine Seite, die der «Philosoph vom Dienst» beisteuert. Er fragt, wa­rum «Wahrheit schlecht fürs Klima» ist. Präziser: Warum eine Bemerkung über das Fliegen in geselliger Runde immer nur die Stimmung versaut und betretenes Schweigen zur Folge hat. Titel wie Inhalt: «Aufrichtig, bis es weh tut.»

 

Gegen gefällige Schönfärberei
Im nächsten Heft, das Ende Dezember erscheint, geht es erneut um ein Gegensatzpaar: «weich | hart». Gesucht werden die Kontraste wieder «in der Politik, in den Beziehungen, in der Natur». Auch das Resultat ist bereits bekannt: «Das Harte kann ohne das Weiche nicht überleben, und umgekehrt.» Das letzte Wort im aktuellen Heft aber hat Hackmann, ein Pseudonym, mit dem der Herausgeber seine Schlusskolumnen zeichnet. Da wird einem regelmässigen Wunsch vieler Leserinnen und Leser widersprochen: «Ich bin nicht dafür, die Welt schön zu färben.» Wir müssten sie schöner machen.

 

Dafür | dagegen. Zeitpunkt 158 – November / Dezember 2018. 84 Seiten, Einzelheft: 10 Franken. Da und dort auch an Kiosken erhältlich. Abos: www.zeitpunkt.ch

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