Sexualisierte Gewalt: «‹Nur Ja heisst Ja› ist nicht die Allheil-Lösung»

Die Journalistinnen Natalia Widla und Miriam Suter haben inmitten der aktuellen Debatte rund um die Reform des Sexualstrafrechts ihr Buch «Hast du Nein gesagt?» veröffentlicht. Im Gespräch mit Rahel Bains erzählt Natalia Widla, weshalb es für Opfer sexueller Gewalt so schwierig ist, Gerechtigkeit zu erfahren.

In der Schweiz ist jede fünfte Frau von sexualisierter Gewalt betroffen, aber nur acht Prozent der Fälle werden zur Anzeige gebracht. Während im Ständerat über die Reform des Sexualstrafrechts respektive die «Nein heisst Nein»-Widerspruchslösung diskutiert wird, bereiten sich die zwei Journalistinnen Natalia Widla und Miriam Suter auf die ersten Lesungen und die Vernissage ihres vor Kurzem veröffentlichten Buchs «Hast du Nein gesagt?» vor. Darin nehmen sie die Praxis der Polizei und Beratungsstellen sowie das Recht unter die Lupe. Das Sachbuch soll ein «weiteres Puzzleteil im Flickenteppich Schweiz in ihrem Umgang mit sexualisierter Gewalt an Frauen» sein.  

Journalistisch beschäftigen sich die beiden schon viel länger mit dem Thema. Wiederholt haben sie von Freund:innen, Interviewpartner:innen und Bekannten zu hören bekommen, dass sie nicht wüssten, wie sie im Fall erlebter oder hypothetischer sexualisierter Gewalt verfahren sollten. Man berichtete ihnen von Notrufen, auf die nicht eingegangen wurde, Informationen, die schlichtweg falsch waren und Einvernahmen bei der Polizei, bei denen sie sich nicht ernst genommen fühlten.  

Wie fühlen Sie sich, wenn Sie an einem Samstagabend die Langstrasse entlang laufen? 

Natalia Widla: Ich fühle mich in Zürich grundsätzlich nicht unsicher. Doch es gibt immer wieder Momente, da gehst du an einer Männergruppe vorbei, sie rufen dir nach, du reagierst nicht, und plötzlich heisst es: «Bitch, du bist ohnehin hässlich.» Solche Momente verunsichern mich aber nicht mehr auf der gleichen Ebene wie früher. Mit Anfang 20 nagte das am Selbstbewusstsein, jetzt kann ich gut damit umgehen. Ohnehin laufe ich statistisch gesehen eher Gefahr, sexualisierte Gewalt in einer Beziehung zu erleben, als an der Langstrasse. Die ist abends an den Wochenenden ohnehin fast sicherer als sonst, weil so viele Leute unterwegs sind.

Die Geschlechterforscherin und Soziologin Franziska Schutzbach schreibt im Vorwort, die Vorstellung, dass Frauen mit «Nein» eigentlich «Ja» meinen, sei Grundlage unserer abendländischen Kultur, das würden etwa die vielen patriarchalen Vorstellungen über Sexualität, Gewalt und Geschlecht in der griechischen Mythologie zeigen. Wie patriarchal sind diese Vorstellungen in unserer Gesellschaft derzeit?

Miriam sagte in einem Interview neulich, dass durch den feministischen Streik und die Me-Too-Bewegung das Bewusstsein für die Rechte der Frauen gewachsen sei. Aber ich sehe auch den Backlash, der gerade passiert. Zum Beispiel in Form des Andrew-Tate-Phänomens, im Zuge dessen sich ganz viele junge Männer vom frauenfeindlichen Influencern beeinflussen lassen. So erzählten mir befreundete Lehrerinnen, dass sich die Jugendlichen aus ihrer Klasse die Videos von Tate anschauen würden. Es fehlen offenbar gescheite, gesunde Vorbilder.  

Was gab Ihnen den Anstoss, dieses Buch zu schreiben?

Ich hatte mich bereits sehr lange mit dem Thema befasst. Ich kannte Betroffene, machte selber Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt und verfasste Artikel dazu. Dann kam Miriam mit einer Anfrage auf mich zu. Ich war sofort dabei. Endlich genug Zeit, um all die Dinge zu beleuchten, die im Rahmen einer normalen Reportage nicht drin gelegen hatten. Wie der Besuch in einer Polizeischule zum Beispiel.

War es schwierig, einen Verlag zu finden, beziehungsweise das Buchprojekt finanzieren zu
lassen?

Miriam hatte aufgrund eines vorherigen Buchprojekts bereits Kontakte zum Limmatverlag. Dieser fand unsere Idee gut, auch weil sie im Zusammenhang mit der Debatte rund um das Schweizer Sexualstrafrecht sehr aktuell war. Das Fundraising lief über den Verlag, dieser konnte aber keine Stiftung oder NGO finden, die das Projekt finanziell unterstützen wollten. Sachbücher sind sonst schon schwer zu finanzieren. Bei uns spielt wohl noch mit, dass das Thema zwar alle betrifft, sich aber niemand verantwortlich fühlt. Bislang haben wir an diesem Buch keinen einzigen Franken verdient.

Das Buch gliedert sich in drei Teile: Die Polizei, Opferberatungsstellen und das Recht. Wo wurden Ihnen bei der Recherche am meisten Steine in den Weg gelegt?

Ganz klar von der Polizei. Ich durfte zwar zwei Polizeischulen besuchen und war positiv überrascht. Die Dozent:innen und die Schulleitung waren offen für Gespräche und ihre Ansichten weitgehend fortschrittlich. Doch die Zugänglichkeit ging nicht weiter. Alle anderen Instanzen mauerten. Die kantonale Konferenz der Polizeidirektionen etwa liess uns mehrere Wochen auf eine Antwort warten. Und als diese dann endlich kam, umfasste sie lediglich drei Sätze. Ich habe zig E-Mails an diverse übergeordnete Stellen geschrieben, die unter anderem für den Lehrplan der Polizeischulen verantwortlich sind, und warte noch heute auf eine Antwort.

Zwei ehemalige Polizistinnen gaben Ihnen ein Interview, trauten sich aber nicht, mit ihrem richtigen Namen aufzutreten. Sie sagten auch, dass sie nach einem sexuellen Übergriff wohl keine Anzeige erstatten würden. Was würden Sie tun?

Ich würde gerne behaupten, dass ich eine Anzeige einreichen würde, aber ich kann das zum jetzigen Zeitpunkt so nicht sagen. Wenn mich ein Mann an der Langstrasse angreift und mir sexuelle Gewalt antut, würde ich wohl eine Anzeige machen. Aber was ist, wenn der Übergriff von einem Familienmitglied ausgeübt wird? Vom Partner? Dem Chef? Dem Kollegen? Da wäre sehr viel Abhängigkeit mit im Spiel. Zudem ist es das eine, eine Anzeige einzureichen, diese dann aber auch durchzuziehen, ist das andere. Je nachdem, wie traumatisiert du bist, brichst du den Prozess irgendwann ab.

Nicht alle porträtierten Frauen haben vor Gericht Gerechtigkeit erfahren. Weshalb gestaltet sich das für von sexueller Gewalt Betroffene als so schwierig?

Weil es ein Vier-Augen-Delikt ist. Um Gerechtigkeit zu erfahren, musst du eine Anzeige einreichen. Dafür musst du davon überzeugt sein, dass man dir glaubt. Und das ist bei einem solchen Delikt schwierig, vor allem wenn es nicht der Fremde ist, der aus dem Gebüsch springt, sondern vielleicht der Mann, mit dem du zusammenwohnst. Wie willst du den Übergriff beweisen? Du hast keine Zeug:innen, es ist Aussage gegen Aussage und es gilt die Unschuldsvermutung. Ich bin zwar froh, dass wir diese im Recht verankert haben, doch dadurch entsteht ein Dilemma, das man nicht so einfach auflösen kann. Hinzu kommt die Sache mit der Scham und damit verbundene Selbstvorwürfe: «Habe ich deutlich genug Nein gesagt?», «Bin ich falsch aufgetreten?», «War ich alkoholisiert?» Dann musst du mit fremden Menschen über das Erlebte sprechen, der Polizei etwa sehr detailliert beschreiben, in welcher Körperöffnung und wie lange du penetriert worden bist.  

Wenige Wochen vor der Abgabe Ihres Manuskripts hat die Rechtskommission des Nationalrats für die «Nur Ja heisst Ja»-Regelung gestimmt. Die Kommission für Rechtsfragen des Ständerates hingegen hat sich in ihrem Entwurf für ein revidiertes Sexualstrafrecht dafür ausgesprochen, die Kernbestimmungen des Sexualstrafrechts basierend auf der sogenannten «Nein-heisst-Nein»-Lösung neu auszugestalten. Diese Woche hat der Ständerat erneut beraten. Wären Sie auch mit der «Nein heisst Nein»-Lösung zufrieden?

Im Kern macht es juristisch keinen Unterschied, ob «Nur Ja heisst Ja» oder «Nein heisst Nein» gilt. Wir dürfen nicht das Gefühl haben, dass Ersteres die Allheil-Lösung ist. Der Grund, weshalb ich trotzdem für «Nur Ja heisst Ja» bin ist, weil jede einzelne Betroffene, mit der ich gesprochen habe, sich dafür eingesetzt hat. Das sind die Stimmen, die uns interessieren sollten. Und trotzdem: Im Endeffekt haben wir dadurch noch keine Beweislastumkehr. Wenn eine Frau vernommen wird und sagt, sie habe nicht «Ja» gesagt, kann der Täter trotzdem das Gegenteil behaupten. Es wird die Unschuldsvermutung gelten, sie wird den Vorfall beweisen müssen. Wichtiger als «Nur Ja heisst Ja» oder «Nein ist Nein» ist die Ausgestaltung davon. Zum Beispiel, dass man das sogenannte «Freezing» anerkennt, also der Zustand, dass eine Person sich verbal nicht mehr wehren kann, einfriert. Oder dass auch ein «Nein», das mehrere Stunden vor der Tat ausgesprochen wurde, zählt.  

Ist das auch die Antwort auf die Frage, wie sich nach der Revision des Sexualstrafrechts das Nach- und Umdenken auf gesellschaftlicher Ebene gestalten muss?  

Ja. Wir sollten alle mehr über Konsens nachdenken und darüber diskutieren, was dieser eigentlich bedeutet. Egal ob du «Ja» oder «Nein» sagst – beides ist eine Konsensäusserung, die respektiert werden muss. Ein «Ja» passiert nicht immer aus freien Stücken. Eine Frau, die von ihrem Ehemann vergewaltigt wird, sagt vielleicht Ja aus Angst, er könnte ihr sonst Gewalt antun, sich scheiden lassen oder ihr die Kinder wegnehmen.  

Eine Betroffene erzählte, wie sie wochenlang auf einen Termin bei der Opferhilfe warten musste. Wo liegen in diesem System die Schwachstellen?

In der Uneinheitlichkeit. In kleineren Kantonen hast du zum Beispiel eine Fachstelle, die sich um ganz viele unterschiedliche Anliegen kümmern muss und nicht auf einzelne Fälle spezialisiert ist. Die Opferhilfe müsste vereinheitlicht, eine Spezialisierung zugelassen sowie entsprechende Fachpersonen ausgebildet werden. Es sollte ein 24h-Stunden-Pikettdienst ermöglicht werden, damit sich Missbrauchsopfer auch in der Nacht an die Opferhilfe wenden können. Es braucht Geld und den Willen, die Istanbul-Konvention, das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, ernst zu nehmen.

Sie fragen sich im Buch, wie es sein kann, dass so viele Menschen negative Erfahrungen machen, während die Budgets laufend hochgeschraubt und die Lehrpläne überarbeitet werden. Ob die Fehler bei den Institutionen, bei den Einzelnen oder doch woanders liegen. Und ob wir von Strukturen oder von prominenten Einzelfällen sprechen. Haben Sie eine Antwort darauf gefunden?

Nein. Ich glaube, dass es mittlerweile klar ist, dass die Probleme strukturell bedingt sind. Dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, dass die Dinge grundsätzlich falsch laufen. Dass es vom Zufall abhängt, wie dein Prozess verläuft. Du kannst Glück haben und nach einem Übergriff an eine Expertin der Fachgruppe gelangen, die dich auf deine Opferhilferechte verweist. Dann findest du eine spezialisierte Opferhilfestelle, erhältst eine spezialisierte Polizistin zugewiesen und eine Opferanwältin gestellt. Es ist auch dann noch schwierig, aber dir werden nicht zusätzliche Steine in den Weg gelegt. Du kannst aber auch Pech haben und es kommt eine Person, die nicht geschult ist, die dich nicht über deine Opferrechte aufklärt, dir nicht sagt, dass du das Recht auf einen Beistand hast. Du schaffst es dadurch nicht, das Erlebte zu erzählen, gehst nach Hause und stampfst es ein. Deshalb müsste man dafür sorgen, dass Personen, die Gewalt erfahren, die gleichen Chancen haben, Gerechtigkeit zu erfahren. 

Natalia Widla, Miriam Suter: Hast du Nein
gesagt?
Vom Umgang mit sexualisierter Gewalt.
Mit Illustrationen von Jacek Piotrowski /
Mit einem Vorwort von Franziska Schutzbach.
Limmat Verlag 2023, 176 Seiten, 25 Franken, eBook 20 Franken.

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