Selbstverständlich kann man bestrafen

«Ein Saubannerzug, der für die Polizei völlig überraschend kam», lese ich. Und weiter: Dazu, wer randaliert habe, liefen noch Abklärungen. «Die SVP spricht von ‹Chaoten aus der militanten Hausbesetzerszene›. Aus linken Kreisen wird auf den Schwarzen Block verwiesen. Andere sprechen von extra angereisten Gewalttouristen. (…) Die BDP fordert ‹Härte und eine geschlossene politische Front› gegen den ‹kriminellen Mob›.» Moment: BDP? Ja, die BDP gibt es nicht mehr. Der zitierte Artikel  stammt aus der ‹Limmattaler Zeitung› vom 15. Dezember 2014.

Aktuell ist hingegen die Medienmitteilung der Zürcher Stadtpolizei vom 2. April: «Am späten Samstagabend, 1. April 2023, marschierte ein gewalttätiger Mob von mehreren hundert Personen vom Kreis 5 in den Kreis 4. Dabei griffen sie Einsatzkräfte an und verübten diverse Sachbeschädigungen. (…) Ein Polizist wurde in einen Hauseingang gedrängt und von rund einem halben Dutzend Personen zu Boden geworfen und mit Fäusten und Fusstritten gegen den Kopf und den Körper traktiert.» Wie die oben erwähnte «Re­claim the Streets»-Demo von 2014 kam auch die aktuelle völlig überraschend, wie in verschiedenen Medien zu lesen war: Die Stadtpolizei hatte keine Kenntnis davon.

Vorab: Egal, ob an einer der zahlreichen Demos in den 1980er-Jahren, ob im Dezember 2014 oder am letzten Samstag: Dafür, jemanden, der am Boden liegt, mit Fäusten und Fusstritten gegen den Kopf zu traktieren, gibt es keine Entschuldigung. Wer so etwas macht, gehört aus dem Verkehr gezogen und bestraft. Die dafür nötigen Mittel und Methoden sind vorhanden: Ermittlungen, Beweisführung, Anklage und Bemessen des Strafmasses, das ganze Prozedere ist bekannt und bewährt. Das einzige Problem dabei: Man muss einen solchen Täter erstens erwischen und ihm zweitens die Tat auch nachweisen können. Dasselbe gilt natürlich auch fürs Scheiben einschlagen und Wände versprayen. Und es gilt übrigens unabhängig davon, ob eine strafbare Handlung aus politischen Motiven verübt wird oder nicht.

Selbstverständlich verlas die SVP am Montagmorgen im Kantonsrat eine Fraktionserklärung und am Nachmittag (es war eine Doppelsitzung) gleich noch eine zweite. Höchstwahrscheinlich tat die SVP im Zürcher Gemeinderat am Mittwochabend (nach Redaktionsschluss der gedruckten Ausgabe dieses P.S., siehe auch www.pszeitung.ch) dasselbe. Wie üblich, hat die SVP auch schon eine Lösung parat, die Anti-Chaoten-Initiative ihrer Jungpartei. Sie verlangt, dass «die Kosten von illegalen Demonstrationen, für ausserordentliche Polizeieinsätze und auch Sachbeschädigungen, zwingend den Verursachern auferlegt werden müssen».

Nur: Lassen sich unbewilligte Demos wie die «Reclaim the Streets» vom Samstag einfach abstellen, indem man den Menschen, die dort mitlaufen, damit droht, ihnen die Rechnung für den Polizeieinsatz zu schicken? Und vor allem: Auch um eine Rechnung verschicken zu können, braucht es erst mal eine:n Adressat:in. Lässt sich niemand erwischen und/oder ist es den Strafverfolgungsbehörden nicht möglich, jemandem zu beweisen, dass er oder sie den Schaden verursacht hat, schafft es die Rechnung weder ins Couvert noch auf die Post. Oder anders gesagt: Selbst wenn die Linken der Anti-Chaoten-Initiative der SVP zustimmmen würden, wäre das Problem noch nicht automatisch gelöst.

Dennoch zeigte sich die SVP in ihrer zweiten Erklärung «schockiert über die linksgrüne Verharmlosung von Linksextremismus, die sich heute im Kantonsrat ereignet hat». Was war geschehen? Markus Bischoff (AL) hatte darauf hingewiesen, dass zu Zeiten der Jugendunruhen 1980 eine «sehr bürgerliche Regierung auf Konfrontation und Eskalation» gesetzt habe, was zu «intensiven Sachbeschädigungen» geführt habe. Seit Rot-Grün regiere, habe es eine Beruhigung gegeben «mit einzelnen Ausbrüchen, aber das ist die Realität in dieser Stadt». Zudem sei Repression auch in Zürich durchaus ein Thema, er könne viele Demos nennen, an denen Leute eingekesselt worden seien. Aber insgesamt verfolge Zürich heute eine Deeskalationsstrategie und sei damit «gut gefahren». 

Am Mittwoch vor dieser Demo standen im Zürcher Gemeinderat eine Interpellation und drei Postulate zum Thema Linksextremismus von Samuel Balsiger und Stephan Iten (beide SVP) zur Debatte. Die Interpellation «betreffend Strategie und Erfolge gegen den gut vernetzten Linksextre­mismus sowie Haltung zur Durchsetzung einer Strategie mit allen rechtsstaatlichen Mitteln» beginnt mit dem Satz, «Die Unterschriftensammlung zur Anti-Chaoten-Initiative läuft auf dem Land, in der Agglomeration und in der Stadt Zürich hervorragend.» Danach folgen eine ausführliche Würdigung dieser Initiative samt Forderungskatalog – und ganz zum Schluss drei Fragen an den Stadtrat: «1. Welche Strategie hat der Stadtrat gegen den nachweislich gut vernetzten und äusserst aktiven Linksextremismus?, 2. Welche Erfolge konnte der Stadtrat in den letzten vier Amtsjahren gegen den nachweislich gut vernetzten und äusserst aktiven Linksextremismus verzeichnen? Falls der Stadtrat keine Erfolge vorweisen kann, warum ist das so?, 3. Falls der Stadtrat bislang strategie- und kopflos vorging, wird er nun eine Strategie gegen den nachweislich gut vernetzten und äusserst aktiven Linksextremismus ausarbeiten und diese mit allen rechtsstaatlichen Mitteln durchsetzen?»

Der Stadtrat beantwortete die Interpellation so seriös wie jede andere Interpellation auch, unter anderem mit Verweis auf den zweiten Nationalen Aktionsplan zur Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus, den Bund, Kantone und Städte im vergangenen Dezember verabschiedet hatten. Samuel Balsiger zeigte sich unbeeindruckt: Der Stadtrat habe «keine Strategie» war rückblickend das Netteste, was er zur Interpellation und danach zu jedem einzelnen der drei Postulate sagte (merke: vier Vorstösse gleich viermal Redezeit – auch wenn es viermal um dasselbe Thema geht…). Ansonsten unterstellte er der linksgrünen Ratsseite «Sympathien für militante Straftäter» und Schlimmeres (hier nicht zitiert, da nicht druckfähig).

Hat der Stadtrat tatsächlich versagt, weil er nicht der SVP gehorcht, obwohl die doch im 125-köpfigen Parlament 14 Sitze hat? Ernsthaft: Natürlich darf die SVP davon überzeugt sein, mit der eigenen aktuellen Volksinitiative liesse sich das Problem subito lösen, und natürlich soll sie dafür Werbung machen. Wenn die anderen Fraktionen aber anderer Meinung sind, dann sollte das sogar die SVP früher oder später einsehen und damit aufhören, sie mit verbaler Gewalt zu traktieren. Nicht dass sie noch ein Glaubwürdigkeitsproblem bekommt…

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