- Gedanken zur Woche
Selbsterfüllende Prophezeiungen
«Pläne für Solarexpress waren viel zu euphorisch», titelte die ‹SonntagsZeitung› vom 15. Dezember. Am Montag doppelte die SVP im Kantonsrat mit einer Fraktionserklärung nach, die sie auch noch als Medienmitteilung verschickte. Titel: «Alpines Solardesaster: Axpo versagt, Axpo-CEO Brand kassiert – Schweiz bleibt auf der Strecke.» So so, alpine Solaranlagen werden viel teurer als gedacht, genau wie es die SVP immer schon gesagt hat: «Die hochgelobte alpine Solaroffensive ist krachend gescheitert.» Alles klar: Wir sollten lieber neue AKW bauen. Die wären zwar noch viel teurer. Aber sie wären viel, viel einfacher zu realisieren als alpine Solaranlagen und Windräder, denn: Die SVP ist dafür!
Ernsthaft: Der Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen VSE (vse.ch) macht das Monitoring der alpinen Solarprojekte und weiss somit, wer was plant und/oder baut. Ihm sind gemäss Medienmitteilung vom 21. November 62 alpine Solarprojekte bekannt, von denen 27 nicht mehr weiterverfolgt werden. 35 würden noch verfolgt, schreibt der VSE weiter, und von diesen liege bei vier Anlagen eine rechtskräftige Baubewilligung vor, wovon sich eine, die Anlage SedrunSolar, bereits im Bau befinde. Eine weitere Anlage sei erstinstanzlich bewilligt, bei 14 Projekten sei das Baugesuch eingereicht, zehn Projekte seien von den jeweiligen Standortgemeinden gutgeheissen worden, und je drei Projekte würden ausgearbeitet beziehungsweise lägen als Idee vor.
Der VSE hat zudem bei 29 Projektanten eine Umfrage zu 57 alpinen Solarprojekten durchgeführt, wie er ebenfalls bereits am 21. November mitteilte. Die Umfrage benennt zwei entscheidende Hürden: Erstens muss bis 2025 mindestens 10 Prozent der projektierten Jahresproduktion der Anlage ins Netz eingespeist werden. Dies sei «sehr herausfordernd», beispielsweise wegen zeitintensiven Umweltverträglichkeitsprüfungen, langer Bearbeitung der Baugesuche, Beschwerden gegen Baugesuche, aber auch wegen der «Unsicherheit der Realisierung im Gebirge». Zweitens gebe es aus Sicht der Mehrheit der Projektanten trotz Förderung «ein grosses Fragezeichen bei der Wirtschaftlichkeit». Die Investitionen seien im Durchschnitt sehr hoch – «insbesondere wegen der erschwerten Erschliessung in abgelegenen Geländen». Gemäss VSE steht zudem «schon seit einiger Zeit» fest, «dass die vom Bund mit dem Solar-Express beabsichtigten 2 TWh bis Ende 2030 nicht erreicht» werden, beziehungsweise «höchstens die Hälfte».
Die SVP schreibt in ihrer Medienmitteilung, «laut der Axpo sollen bis 2050 nur noch 0,81 Terawattstunden Strom aus alpinen Solaranlagen kommen – ein Bruchteil der ursprünglich versprochenen zehn Terawattstunden». In der ‹SonntagsZeitung› heisst es ausserdem, die Axpo habe in ihrem «Szenario Erneuerbare» die Prognosen für die ganze Schweiz «massiv gesenkt». So würden alpine Solaranlagen gemäss Axpo im Jahr 2030 «bloss 0,5 Terawattstunden Strom produzieren» und bis 2050 eben die erwähnten 0,81 Terawattstunden. Also «höchstens die Hälfte» der beabsichtigten 2 TWh, wie vom VSE schon vor einem Monat mitgeteilt, siehe oben. Wie die SVP auf «ursprünglich versprochene zehn Terawattstunden» kommt, bleibt ihr Geheimnis. Aber in der Medienmitteilung des VSE zur Umfrage findet sich noch ein weiterer interessanter Punkt: «Zudem scheint es vorteilhafter für die Projekte zu sein, wenn über sie an einem Urnengang statt an einer Gemeindeversammlung abgestimmt wird. An einer Gemeindeversammlung dürfte das Potenzial grösser sein, gegen ein Projekt Stimmung zu machen und es so abzulehnen.» Damit wäre sicher auch die SVP einverstanden, die bekanntlich an etlichen Gemeindeversammlungen im Kanton Zürich alles gab, um möglichst viele Menschen gegen den Bau von Windrädern aufzuhetzen…
Auch in der laufenden Wintersession ist Strom aus erneuerbaren Quellen ein Thema. Am Dienstag befasste sich der Ständerat mit dem sogenannten Beschleunigungserlass. Die Beratungen wurden gestern Donnerstag nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe fortgesetzt. Auf parlament.ch ist nachzulesen, dass Planungsschritte und Verfahren für Solar- und Windanlagen gestrafft werden sollen. Bei den 16 bereits beschlossenen Wasserkraftprojekten soll das Beschwerderecht ausgeschlossen werden dürfen, da die Stimmberechtigten diesen am 9. Juni mit dem Ja zum Stromgesetz zugestimmt hätten. Dass damit aus Sicht der linken Ratsseite rote Linien überschritten werden, versteht sich von selbst, erstaunt aber auch nicht: Die Bürgerlichen haben in der Vergangenheit immer wieder neue Anläufe genommen, um das Verbandsbeschwerderecht abzuschaffen. Dass solche Beschwerden nur eine von mehreren möglichen Gründen für Verzögerungen ist, zeigt die Auflistung des VSE. Und vor allem: Lange dauern tut es viel eher bei der Bearbeitung von Baugesuchen und/oder bei den Gerichten. Doch dafür, dort um die nötigen Stellen aufzustocken, sind normalerweise weder SVP noch FDP zu haben.
Bleibt die Frage, warum es plötzlich so eilt, dass Projekte wie alpine Solaranlagen quasi über Nacht aus dem Boden gestampft werden sollen. Zur Erinnerung: Nach dem Ja zum Energiegesetz vom 21. Mai 2017, mit dem der Atomausstieg beschlossen wurde, forderten Bürgerliche unbeirrt neue AKW. Nach dem Ja zum Klimaschutzgesetz vom 18. Juni 2023 verlangten SVP und FDP als erstes – neue AKW. Nach dem Ja zum Stromgesetz vom vergangenen 9. Juni schrien sie nach – neuen AKW. Seit 2017 fordert die Mehrheit Erneuerbare, seit ebenso lange wollen uns die Bürgerlichen neue AKW aufs Auge drücken. Als dann wegen des Ukraine-Kriegs die Angst vor einer Mangellage umging, musste es plötzlich schnell gehen: Mehr Winterstrom, sofort!, lautete die Devise, alpine Solaranlagen aus dem Boden stampfen!
Seither hat sich allerdings einiges geändert. Lange hiess es in praktisch jedem Artikel, wir hätten ein Problem, weil die Beteiligungen an den französischen AKW ausliefen. Als die Axpo eine davon bis 2039 erneuerte (siehe P.S. vom 30. Juni 2023), löste sich das Argument in Luft auf. Dann war die 70-Prozent-Regel der EU das Schreckgespenst, es hiess, wir könnten deswegen ab 2026 nicht mehr genügend Strom importieren. Die Einigung mit der EU in diesem Punkt gelang, Stromimporte werden weiterhin im selben Umfang möglich sein wie bisher (siehe P.S. vom 22. November). Kurz: Natürlich brauchen wir nach wie vor mehr Winterstrom, und es wäre nach wie vor viel günstiger, wenn wir ein paar Windräder aufstellen würden, als Pionierprojekte im alpinen Raum in Rekordzeit durchdrücken zu wollen. Die Österreicher:innen haben ihre 1400 Windturbinen bislang auch überlebt… Aber wenn man bedenkt, dass die Schweiz letztes Jahr 56,1 Terawattstunden verbrauchte, gleichzeitig 66,7 Terawattstunden im Inland erzeugte und einen Stromexportüberschuss von 6,4 Terawattstunden realisierte – mehr, als das AKW Beznau pro Jahr liefert (siehe P.S. vom 13. Dezember), dann gehen beim besten Willen noch nicht so rasch die Lichter aus, dass wir kopflos wursteln, das AKW-Verbot aufheben und gleich noch das Verbandsbeschwerderecht über Bord werfen müssen.