- Im Kino
Seifenblase
Während Anis (Mikey Madison) Grossmutter aus der damaligen Sowjetunion geflüchtet war und sich davon eine Chance auf ein hart erarbeitetes, aber immerhin selbstbestimmtes Leben erhoffte, das final grad so zum Überleben reichte, stellt ihr Filmgegenüber Ivan (Mark Eydhelsteyn) als unvorstellbar wohlhabender Abkömmling jenes Teils der Zwischengeneration dar, die den Zusammenbruch der UdSSR für einen ungezügelten Raubzug ausnutzte und alles mit Geld regelt. «Anora» von Sean Baker ist aber auch die Geschichte eines Zusammenpralls zwischen einer gereiften Persönlichkeit und einem gedankenlos geführten Dasein im selben Alter. Anis Hoffnung als Animierdame in einem Edelstripclub klammert sich an den noch so dünnen Halm eines potenziellen Aufstiegs, als sie die nonchalante, nicht unerheblich egoistisch begründete und offensichtlich aus dem Stegreif einer Laune heraus entwickelte Idee eines Heiratsantrags ihres Freiers annimmt. Er ist aber auch schnucklig… und die Familiendependance, in der sich die beiden Liebenden tagelang schwitzend verschanzen, vermittelt in ihrer demonstrativen Pracht auch eine annähernd einschüchternde und vor allem zur Realitätsfremde regelrecht animierende Sorglosigkeit. Dass der Zynismus der heute real existierenden Regelwerke alias Welt mit voller Kraft jede Idee eines Traumes zerschlägt, manifestiert sich in dieser streckenweise den Kitsch gefährlich nahe streifenden Seifenblase zuletzt als recht eigentlich filmischen Glücksfall. Denn letztlich stellt Sean Baker den individuellen menschlichen Freiheitsbegriff, von den jeweils am deutlichsten hervortretenden äusserlichen Attributen komplett unberührt, als grosses Fragezeichen in den Raum und widersteht dabei der Verlockung, einer gemeinen Sehnsucht nach alles beschwichtigender Beruhigung den Mund zu reden. Von sehr viel verwedelndem Blingbling übertüncht, thematisiert er insgeheim den Klassenkampf.
«Anora» spielt in den Kinos Abaton, Corso, Frame, Le Paris, Movie, RiffRaff.