Sechs Prisen Neustalgie
Weil die Welt grad wieder einer Scheibe gleicht, sind auch Flanieren und Stöbern in ihren sinnlichen Komponenten auf das Bildschirmformat eingeschränkt. Immerhin sind darin, so suggeriert die Heileweltsehnsucht, mit den sechs Kurzfilmen «Kurt Früh reloaded» kleine Fluchten in die Schwelgerei mit fein dosierter Sozialkritik möglich.
Allerdings entfällt im Studienprojekt der ZHdK-Filmklasse, das sie anlässlich des 100. Geburtstags von Kurt Früh (1915 – 1979), geschaffen hat (frei zugänglich auf filmstudieren.ch) die pittoreske Komponente einer zeitlichen Distanz auf fünfzig bis siebzig Jahre Zurückliegendes. Die sechs Teams aus Regie und Drehbuch adaptieren die ins kollektive Gedächtnis übergegangenen Filme häufig dermassen frei, dass die totale Passivität des Berieselnlassens wiederum von der eigenen Wissbegier durchtrieben wird, welcher Klassiker hier wohl gemeint sein könnte.
Ein Abend an der Bar
Cosima Frei (Regie) und Olga Dimikova (Drehbuch) laden mit «Aquarium» zu einem Abend des urbanen Paarungsverhaltens in eine Bar. Am Tresen wartet Rachel Braunschweig schon lange auf ihren Göttergatten, um mit ihm den 15. Hochzeitstag zu feiern. Die Barfrau Mira Frehner erhofft sich von ihrem One-Night-Stand von vergangener Nacht eine Fortsetzung. Sabrina Tannen verrennt sich im vereinbarten Erkennungszeichen und erweitert so den Begriff Blinddate kolossal. Ursula Reiter verlegt die amouröse Spannung in der eingeschlafenen Routine ihrer Partnerschaft auf Gelegenheitsbekanntschaften. Und mittendrin irrt ein Berggänger suchend herum.
Der grosse Traum
Sebastian Krähenbühl ist ortsbekannt für seinen Spleen, den Jan-Erich Mack (Regie/Co-Drehbuch) und Jérôme Furrer (Drehbuch) mit «King» unverkennbar einschlägig benennen. Ausserhalb der Arbeit in einer Grosswäscherei trägt er die Haare zur Tolle frisiert, sind Schuhwerk wie Hemden der Mode von Nashville/Tennessee nachempfunden und in der allabendlichen Männerrunde am Stammtresen dominiert das immergleiche Thema jedwede Konversation. Die Barfrau Fiamma Camesi ist sichtlich gerührt von Krähenbühls ausdauerndem werben um ihre Gunst, doch sein eher eingeengter Fokus auf alles in der Welt, separiert ihn auch in einer beinahe befremdenden Weise von ihrer Idealvorstellung eines Partners.
Alleingelassen
Am verklausuliertesten bleibt der Zusammenhang mit Kurt Früh in «Destiny» von Wendy Pillonel (Regie) und Romana Friedli (Drehbuch). Ein beiläufig fallender Nebensatz stellt eine Verbindung her. Der zentrale Fokus liegt auf der Ohnmacht von Anna Schinz. Die Mutter dreier kleiner Kinder in beengenden Wohnverhältnissen ist für alles zuständig: Das kindliche Wohlergehen wie auch das Wohlverhalten, derweil sie von allen Seiten nur Kritik und Vorwürfe gegenüber ihrer Unzulänglichkeit zu hören bekommt. Pascal Vogler als Partner und immercooler Vater benötigt seine Ruhe und findet diese in Ballerspielen, die er dann spielen muss, wenn die Kinder Nachtessen und Hausaufgaben erledigen sollen. Eine sich ankündigende Eskalation.
Sinnsuche
Freundlich begrüsst der Postautochauffeur Michael Neuenschwander seine Fahrgäste bei jeder neuen Fahrt in «Mäge» von Lisa Bühlmann (Regie/Drehbuch). Die Arbeit ist sein einziger Halt, die Routine sein Schutzschild. Sibylla Rasmussen versucht daheim den sie und alles lähmenden Stillstand zu durchbrechen, aber dringt trotz wiederholter Versuche nicht bis zu ihm durch und wirft zuletzt das Handtuch. Er findet mit dem verhaltensauffälligen Jugendlichen Sascha Gisler, der auf der letzten Fahrt im Bus eingeschlafen und bis ins Depot mitgefahren ist, eine potenziell neue Aufgabe als Vorbild und holt sich dabei eine blutende Nase.
Lottogewinn
Die erste ikonische Szene macht in «Tüüfel» von Yasmin Joerg (Regie/Drehbuch) alles klar. Bei ihr sind es allerdings die drei Punks Flurin Giger, Aaron Hitz und Alexander Seibt, die dem Spiessbürgertum mit seiner Wohlstandsfokussiertheit den ausgestreckten Mittelfinger entgegenstrecken und sich ein Leben frei von einer Wertedefinition durch das Haben einrichten. Solange ihr Alltag allein aus Konzerten in besetzten Häusern und dem Schnorren in der Fussgängerzone besteht, herrscht Einmütigkeit. Bis ein überraschender Geldregen die bisherige Lebensmaxime zu kübeln droht.
Hamsterrad
Der Privatspitzel Adrian Furrer ist es leid, im ewig gleichen Dreck zu wühlen. Mit Linda Gunst klebt ihm seit Neustem eine junge anhängliche Klette an den Fersen. Sie lädt sich ungefragt in sein Auto ein, löchert ihn mit Fragen und trägt eine so aufsässige Lebensfröhlichkeit vor sich her, dass er sich in seinem Trott und dem damit verbundenen Sinn/Unsinn allmählich zu hinterfragen beginnt. So kommt in «De letscht Fall» von Luca Ribler (Regie) und Ronnie Blaser (Drehbuch) die leise Sehnsucht auf, dem eigenen Leben die volle Aufmerksamkeit zu schenken.
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