Scheindebatte

«Ich habe nichts gegen echte Flüchtlinge, sondern nur etwas gegen Wirtschaftsflüchtlinge» – das hört man häufig bei Podien zum Thema Asyl. In der Regel von SVP-PolitikerInnen. Die meisten Gesuche würden aber abgelehnt. Das seien also keine echten Flüchtlinge. Wenn man dann nachfragt, wer denn ein echter Flüchtling sei, kommt relativ oft: «Kriegsflüchtlinge wie aus Syrien». Bilder aus den zerbombten Städten aus Syrien hinterlassen auch beim hartgesottensten SVPler Spuren. Nur: Die Asylgesuche von Syrerinnen und Syrern werden in der Regel abgelehnt. Sie erhalten dafür eine vorläufige Aufnahme. Wer das dann auf den Podien präzisiert, erntet oft Staunen.
Das Asylgesetz ist klar: Eine Anerkennung als Flüchtling erhält, wer individuell verfolgt wird – aufgrund seiner politischen Überzeugung, seiner Religion, seiner Nationalität, seiner Rasse oder seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Wenn also die Schweiz zur Diktatur wird und der Diktator beschliessen würde, die SP zu verbieten und alle ParlamentarierInnen zu verhaften und ich mich durch Flucht der Verhaftung entziehen würde, dann wäre ich ein klassischer (politischer) Flüchtling. Würde ein Land die Schweiz angreifen und  ich vor dem Krieg flüchten, dann ist es eine klassische vorläufige Aufnahme. Dann gibt es noch den dritten Fall: Ich flüchte vor der Diktatur ohne mich politisch zu betätigen, die Flucht aus dem Land gälte aber als Landesverrat, oder ich schliesse mich im Exil einer politischen Widerstandsgruppe an, dann wäre ich ein vorläufig aufgenommener Flüchtling: Denn es gab vor meiner Flucht keine individuelle Verfolgung – würde ich aber zurückgeschickt, dann schon. Das widerspricht der Genfer Flüchtlingskonvention, denn niemand darf in ein Land ausgeschafft werden, wenn die Person dort an Leib und Leben bedroht wird.
Der Zürcher Kantonsrat hat am Montag beschlossen, dass vorläufig Aufgenommene keine Sozialhilfe mehr bekommen sollen, sondern nur noch die deutlich tiefere Asylfürsorge. Seit 2011 erhalten vorläufig Aufgenommene im Kanton Zürich Sozialhilfe. Dagegen ergriff die SVP damals das kon­struk­tive Referendum. Dass Abstimmungen mit konstruktivem Referendum mitunter kompliziert waren, gilt in diesem Fall allerdings nicht. Es war klar, worum es ging. So stand in der Abstimmungszeitung: «Gegen diese Teilrevision wurde das Referendum ergriffen: Das Komitee lehnt die Neuausrichtung der wirtschaftlichen Hilfe für vorläufig aufgenommene Personen ab und will bei der bisherigen Regelung bleiben.» Das Referendum wurde mit rund 61 Prozent der Stimmen abgelehnt.
SVP-Kantonsrat Christian Mettler reichte 2014 eine parlamentarische Initiative ein, wonach das Sozialhilfegesetz wieder so geändert werden soll, dass vorläufig Aufgenommene keine Sozialhilfe mehr erhalten. Der Kantonsrat stimmte der Änderung zu: Vergebens wehrten sich bloss SP, Grüne, AL und EVP dagegen.
Nun kann man der SVP nicht grundsätzlich vorwerfen, dass sie es noch einmal versucht, was sie eh schon immer wollte. Dabei hat sie insbesondere mit Halb-Fakten und Halb-Wissen Eritreer im Visier. Eritrea könne nicht so schlimm sein, sagen sie, wenn die Eritreer dort Ferien machen würden. Dass das Eritreer sind, die viel früher in die Schweiz kamen und nicht vor dem Regime geflohen sind, wird natürlich verschwiegen. Dass es wenig gute Informationen über die Lage in Eritrea gibt, kommt erschwerend dazu. So werden dann plötzlich Reiseerfahrungen eines Parlamentarier-Reise-Grüpplis, die nichts Schlimmes gesehen haben, zur gleichwertigen Information wie Berichte der UNO. Nur: Bloss weil kein offensichtliches Unrecht gesichtet wurde, heisst es noch nicht, dass es keines gibt. Ein Land muss nicht in Trümmern liegen, um ein Unrechtsstaat zu sein. Auch in der DDR liess es sich nett Strandurlaub machen. FKK inklusive.
Ob Eritreer, Nordafrikaner, Kosovo-Albaner oder Tamile – irgendein Feindbild findet sich immer. Das Recht sollte sich aber nicht danach richten. Eine vorläufige Aufnahme erhält, wer nicht zurückgeschickt werden kann. Weil Krieg herrscht oder Verfolgung droht. Der Kantonsrat glaubt, die heutige Regelung gäbe für die vorläufig Aufgenommenen keine Anreize zu arbeiten. Junge Männer, die einfach rumlungern, statt zu arbeiten.
Die Ironie des Schicksals: Es trifft gar nicht die, die gemeint sind – oder wenigstens nicht ausschliesslich. Eben nicht nur junge Männer aus Eritrea. Von der neuen Regelung betroffen sind nämlich nur vorläufig Aufgenommene ohne Flüchtlingsstatus. Denn letztere sind in der Sozialhilfe den anerkannten Flüchtlingen gleichgestellt. Das ist bundesrechtlich so geregelt, auch wenn der Initiant dies eigentlich anders gemeint hat. Laut aktuellen Zahlen des Staatssekretariats für Migration sind im Kanton Zürich 130 Syrer und 740 Eritreer vorläufig Aufgenommene mit Flüchtlingsstatus. Unter den vorläufig Aufgenommenen ohne Flüchtlingsstatus sind 1241 aus Syrien und 419 aus Eritrea (988 aus Afghanistan, 722 aus Somalia). Das heisst, Linda Camenisch (FDP) und Claudio Schmid (SVP) werden auch weiterhin über sozialhilfebeziehende EritreerInnen ausrufen können. Aber das ist ja vielleicht auch so gewollt.
Ob mit oder ohne Flüchtlingsstatus – die meisten vorläufig Aufgenommenen bleiben lange hier, teilweise für immer. Weil sich die Lage in ihrer Heimat nicht verbessert. Daher ist eine rasche Integration – auch in den Arbeitsmarkt – sinnvoll. Zu dieser Integration sind die Gemeinden nach wie vor verpflichtet. Der Kanton zahlt nun einfach nichts mehr. Gespart wird also nichts. Sondern nur auf die Gemeinden verlagert. Auch deswegen überlegt sich der Zürcher Stadtrat Raphael Golta, das Gemeindereferendum zu ergreifen.
Bei diesem Gefecht geht vergessen, dass tatsächlich die Integration von Flüchtlingen eine grosse Herausforderung ist, und auch nicht überall optimal klappt. Es braucht dazu echte Anstrengungen. Dabei gibt es auch SVP-Mitglieder, die dafür etwas tun. Wie der oberste Wirt Ernst Bachmann, der in seinem Betrieb Flüchtlinge als Lernende beschäftigt. Der Rest setzt lieber Zeichen und führt Scheindebatten. Nur wird sie hier auf dem Buckel echter Menschen geführt.

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