Schatten auf der Romantik

Lubosch Held inszeniert «Eine Stunde der Liebe» des tschechischen Autors Josef Topol von 1968 und führt damit zeitgleich die grausame Seite von Liebe und die Hoffnungslosigkeit in einem totalitären Staat vor Augen.

 

Ella (Laura Sophie Becker) würde wollen. El (Jonas Götzinger) würde wollen. Und die kränkliche Tante (René Peier) würde ihren Segen erteilen. In einer Welt aus Milch und Honig existierte kein Graben zwischen körperlich spürbarem, emotionalem Begehren und dessen aus Gründen des Selbstschutzes notwendiger verbaler und tätlicher Abwehr. Im Keller 62 beginnt der Liebesreigen als Spiel, ja gar als regelrechte Neckerei. Zumindest könnte Ellas Weigerung, das Licht anzuzünden, woraufhin El prompt mit einem Fuss voll in den Wasserzuber tritt, dafür gehalten werden. Aus den Hintergrund kläfft die Tante eins ums andere Gründe, weshalb dieser Kerl nichts taugt, diese Verbindung der Mühe nicht lohnt, deren Scheitern feststeht. Und natürlich spart sie nicht mit Allerweltsratschlägen. Eine Stunde hat das Liebespaar noch. Eine Stunde, bis sein Zug fährt. Und sie halten sich mit Petitessen auf. Die Dringlichkeit der Gesamtsituation eröffnet sich einem nur schleichend. Die anfängliche Irritation über die offenbar einvernehmliche Ausgestaltung dieser begrenzten Zeit könnte gut und gerne für einen paarspezifisch individuellen Ausdruck von Zuneigung gehalten werden. So wie Paarkonstellationen existieren, die den Streit als Krücke für ihre Kommunikation benötigen oder wiederum andere, die nie über die Schwelle des belanglos erscheinenden Verhandelns von Nebensächlichkeiten hinauskommen. Diese Codes sind nicht für Aussenstehende gedacht, also eröffnet sich ihnen der darin innewohnende Liebreiz auch höchstens in Raten. Das erzeugt in der eleganten Sprache Josef Topols eine enorme Spannung, die aber so lange in die Irre führt, als nicht willentlich mitgedacht wird, welche zeitliche und politische Realität rund um diese Kammerspielkapsel herrscht und diese zwei Liebenden selbst noch in ihrer gestohlenen Stunde Intimität beherrscht. Ellas «ich will doch nur nichts Ernstes» ist hier und heute komplett verschieden konnotiert, als im Augenblick der bevorstehenden Republikflucht von El. Unter diesem Vorzeichen wird aus einer amourös weitestgehend ungenutzt gelassenen letzten Stunde eine nahezu kongeniale Geschicklichkeit zweier junger Leute, um die regelrechte emotionale Folter des kaum aushaltbaren Schmerzes einer gefühlt nicht enden wollenden Zeitspanne so unbeschadet wie nur möglich zu überstehen. Dies zu erkennen, benötigt vom Pu­blikum, das vom Titel leicht zur irrigen Annahme verführt werden könnte, Liebe würde einen Himmel voller Geigen meinen, eine grosse Achtsamkeit gegenüber der leisen Veränderungen und das Vermögen, den eigenen Blickwinkel noch während der sich entwickelnden Handlung zu verändern. Glückt dies, wird es belohnt. Mit der Darstellung einer filigranen Zerbrechlichkeit, die eine abgrundtief empfundene Romantik meint, die sich unter den Schutzschirm einer Oberfläche von forscher Zurückweisung, Belehrung und Ausflüchten zurückziehen muss, weil eine frontale Begegnung damit unaushaltbare Zerrissenheit und Schmerz offenbarte. Nicht allein über die Trennung, sondern auch darüber, was die Zukunft der Hierbleibenden und des Flüchtenden wohl mit sich bringen möge, und die Angst davor, hier und jetzt rückblickend den falschen Entschluss gefällt zu haben. Ganz zu schweigen vom existenziellen Dilemma, das die Entscheidung zwischen der Heimatverwurzelung in Unterdrückung und der abstrakten Hoffnung eines möglichen Erreichens von Freiheit darstellt. Aus den harschen Worten der Tante wird eine Fürsorge erkennbar und jedes idyllisierende Wünschen prallt ungehindert gegen die Realität. Also doch: Es ist Liebe. Sagenhaft!

 

«Eine Stunde der Liebe», 23.6., Theater Keller 62, Zürich.

 

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