Schafft sich die EU ab?

Spardiktat und Flüchtlingsdrama werden in Griechenland zu einer gefährlichen Mischung, während sich die EU in nationale Egoismen zerlegt. Gleichzeitig könnten sich Griechenland und Deutschland durch ihre neuerdings parallelen Interessen näher kommen.

 

Andreas Herczog*

 

Dreihunderttausend Flüchtlinge müsse Griechenland in einem Internierungslager versorgen, postulierte Theo Francken, belgischer Staatssekretär für Migration (NZZ 27.1.16). Francken, Mitglied der national-konservativen ‹Nieuw-Vlaamse Alliantie›, meinte schon mal, dass Migranten aus dem Kongo (ehemalige belgische Kolonie), Marokko und Algerien für Belgien keine Bereicherung seien. 850 000 Flüchtlinge landeten letztes Jahr in Griechenland, die meisten davon auf ein paar ostägäischen Inseln. Auf der Insel Lesbos etwa, deren Hauptstadt Mytilini 37 000 Einwohner zählt, kamen allein an einem Wochenende im letzten September über 17 000 – und dies in Folge. Die massive Völkerwanderung von der türkischen Küste weg hält unvermindert an: 120 000 kamen in den ersten zwei Monaten des neuen Jahres. Dreissigmal mehr als vor einem Jahr. Demgegenüber will Österreich maximal 37 500 Asylanträge, Schweden beabsichtigt, von 160 000 Flüchtlingen die Hälfte wieder abzuschieben, Polen spricht sich nach dem Sieg der nationalkonservativen Partei PiS für eine Lösung der Flüchtlingskrise ausserhalb der Grenzen der EU aus, und die Slowakei will nur Christen aufnehmen.

Je grösser die Konzeptlosigkeit der EU in der Flüchtlingskrise, desto schriller die gegenseitigen Schuldzuweisungen. So auch am Treffen der EU-Innenminister im Januar.  «Wenn Griechenland nicht in der Lage oder bereit ist, seine Aussengrenzen zu schützen, müssen andere das Heft des Handelns in die Hand nehmen», meinte die konservative österreichische Innenministerin Mikl-Leitner (‹Spiegel-Online›, 26.2.16). Ob Mikl-Leitner mit Hilfe etwa der Visegràd-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) versuchen wird, die Ägäis trockenzulegen und auf deren Grund einen Zaun zu errichten?

Die Geographie im ostägäischen Meer ist unübersichtlicher, als dies von Wien aus scheinen mag: Die türkischen und griechischen Hoheitsgewässer gehen wegen der Küstennähe teilweise ineinander über. Lesbos liegt neun, Samos nicht ganz zwei Kilometer von der türkischen Küste entfernt. Laut griechischer Marine gibt es deshalb genau eine Handlungsoption, wenn ein Flüchtlingsboot auf See gesichtet wird: Hilfe bei der sicheren Passage in den nächsten griechischen Hafen. Ein sogenannter Grenzschutz ist nicht realistisch.

 

Folgen des Spardiktats

Die katastrophalen Folgen des Spardiktats der EU sowie die Unfähigkeit, das Flüchtlingsproblem zu lösen, werden in Griechenland zu einer gefährlichen Mischung. Das Spardiktat machte einen Viertel der GriechInnen arbeitslos, die Einkommen wurden seit 2009 um 40 Prozent gekürzt, die Renten sollen gemäss EU und IWF um weitere 20 Prozent gesenkt werden. Da mittlerweile aber für 52 Prozent der Haushalte die Renten die Haupteinkommen ausmachen, sind weitere Kürzungen nicht mehr zu ertragen. Trotz den katastrophalen Folgen halten EU und IWF an der unsäglichen Rezeptur der Rentenkürzung und Mehrwertsteuererhöhung fest. Die Mehrwertsteuer ist mittlerweile bei 23 Prozent, was wieder die unteren Einkommen belastet. Es kam deshalb zu Steuerausfällen bis zu 15 Prozent, u.a. wegen Einbrüchen im Heizölverbrauch und im Binnenkonsum.

Wenn nun das nördliche (und östliche) Europa wegen des Flüchtlingsstroms die Grenzen immer weiter gegen Süden dicht macht, wenn etwa Österreich in Wiederbelebung althabsburgischer Allianzen eine Westbalkankonferenz von zehn Staaten – bewusst ohne Griechenland und gegen Deutschland – einberuft, um «den Andrang der Flüchtlinge auf der Balkanroute zu verringern», ist offensichtlich, dass keine «europäische Lösung» gesucht wird, sondern jeweils eine nationale – oder gar eine nationalistische. Der polnische EU-Ratspräsident Tusk appellierte an die Flüchtlinge: «Kommen Sie nicht nach Europa!» (TA 3.3.16).

 

Griechisch-deutsche Annäherung

Am 12. Juli im letzten Jahr legte die Euro-Gruppe einen Forderungskatalog der «Grausamkeiten» vor, der sich laut ‹Spiegel› wie eine gewollte Demütigung Griechenlands las. Unter die weiteren harten Austeritätsbedingungen des sogenannten dritten Hilfsprogramms setzte der deutsche Finanzminister Schäuble in eckige Klammern dann das berühmt-berüchtigte ‹Grexit auf Zeit›. Praktisch alle EU-Länder scharten sich hinter die Forderungen des ‹deutschen Europa›. Die linke Syriza-Regierung sollte isoliert werden – auch von der eigenen Bevölkerung, insbesondere nach dem erfolgreichen Referendum vom
6. Juli. Trotzdem gewann Syriza die Septemberwahlen mit komfortablen 35,5 Prozent.

«Lasst uns nicht allein!», tönt es nun aber nicht aus Griechenland, sondern auf der Frontseite der deutschen ‹Zeit› (18.2.16), und «nie schien ein deutscher Regierungschef in der EU so allein wie Angela Merkel.» Wegen der liberalen Flüchtlingspolitik der deutschen Kanzlerin bröckelt die Front der Folgsamen: Der slowakische und sozialdemokratische Regierungschef Fico warf Deutschland ein «Diktat» in der Flüchtlingspolitik vor und klagt beim Europäischen Gerichtshof gegen die EU-Verteilungsquoten der Flüchtlinge. Inzwischen harren über 14 000 Flüchtlinge in der nordgriechischen Gemeinde Idomeni unter präkeren Bedingungen aus, da Mazedonien die Grenzen geschlossen hat.

 

Nach dem Gipfel – vor dem Gipfel

Das Ergebnis muss simpel tönen, damit alle Staatschefs zuhause vom Durchbruch sprechen können. Und in der Tat scheint das Ergebnis des EU-Gipfels vom letzten Montag simpel: Die Türkei nimmt ‹illegal› auf griechische Inseln gestrandete Flüchtlinge zurück, dafür sollen die EU-Staaten ‹andere› Syrer über eine ‹legale› Einreise aus der Türkei aufnehmen. Abschotter und Willkommenheisser atmeten auf: Die Ägäisüberquerung würde unattraktiv, die Schlepper ausgeschaltet. Nur ist die Realität komplexer. In der Genfer Flüchtlingskonvention aus dem Jahr 1951 ist der Grundsatz der Nichtzurückweisung verankert. Abgesehen davon, dass die Türkei diese Konvention nur auf europäische Staaten anwendet (NZZ 9.3.16), wer garantiert, dass unter den 14 000 Flüchtlingen in Idomeni kein Kurde oder türkischer Oppositioneller ist? Und überhaupt: Wie stellt man sich so eine Rückschaffung gegen den Willen der Leute vor?

Dieses ‹Resettlement-Programm› bedingt, dass alle EU-Länder bereit sind, syrische Flüchtlinge direkt aus der Türkei aufzunehmen. Diese Verteilung ist aber für die Länder freiwillig, was zu den bisher kläglichen Resultaten geführt hat. Auch ist nicht gesichert, dass sich die Türkei an allfällige Abmachungen halten wird: Seit 2002 hat die Türkei mit Griechenland ein Rückführungsabkommen, das sie nicht eingehalten hat. Zwei Tage nach dem EU-Gipfel wurde der Weg durch den Balkan nach Norden komplett abgeriegelt. Dankbar begrüsste EU-Präsident Tusk dieses Vorgehen der «Allianz der Vernunft» (Mikl-Leitner). Kanzlerin Merkel hingegen kritisierte die Abschottung mit Blick auf Griechenland, wo nun Tausende unter schwierigsten Verhältnissen blockiert sind.

Vor dem nächsten Brüsseler Gipfel spricht niemand von der Bekämpfung der Ursachen der Flüchtlingsströme. Die Diskrepanz zwischen ‹simplen Lösungen› für die Galerie und den komplizierten Realitäten dürfte deshalb weiter wachsen. Die EU war mal ein politisches Projekt. Aktuell wirkt sie eher wie eine Kommunikationsbehörde zur Gesichtswahrung ihrer politischen Akteure.

 

* Andreas Herczog ist ehemaliger Nationalrat (SP), Zürich

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