Russia today

Unter dem Label «Performers Rule» können am Schauspielhaus künftig fünf Mal im Jahr Projekte von Ensemblemitgliedern «ohne Umweg über die Theaterleitung» in der Kammer realisiert werden. Der Auftakt war grandios.

 

Die Zöpfe zum Kranz hochgesteckt, die Füsse in schweren schwarzen Stiefeln und unter dem Mantel das beste, feuerrote Kleid, das die Garderobe hergibt. Die Haltung entsprechend stolz. Alicia Aumüller versinnbildlicht nur schon durch die Ausstattung (Andrea Cozzi), worums hier geht: Swetlana Alexijewitschs dokumentarische Befindlichkeitsrecherche der RussInnen heute. Der «Versuch, alle fair anzuhören», durch sämtliche Milieus und Alter, die 2013 unter dem Titel «Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus» erschienen ist. Nach den bibliographischen Angaben schon in so heroischem Ernst vorgetragen, als handelte es sich um ein sowjetisches Hohelied auf die beste aller Welten, alias die eigene, folgt ein kurzer Abriss über die Autorin und nach dem Höhepunkt, dem Wort Literaturnobelpreis, ein tiefer Seufzer. Stille. Mit diesem effektvollen Auftritt ist gewiss: Das Publikum hängt Alicia Aumüller an den Lippen. In der folgenden Stunde schlüpft sie in diverse Figuren, verstärkt die Wirkung der Worte einzig mit Tonalität und Tempo. Der Person, die noch immer von den guten Zeiten bei den Pionieren schwärmt, verleiht sie den Duktus des sich vor Begeisterung und Aufregung beinahe verhaspelnd schnell sprechenden Kindes. Bei der Erzählung darüber, dass im Altersheim niemand mehr mit dem einst hoch angesehenen Marschall der Sowjetunion Karten zu spielen, geschweige denn Gespräche zu führen bereit ist, wird ihr Tonfall trotzig, und als Illustration der Bereitschaft zur restlosen Verdrängung seiner früher verantworteten Gräueltaten schiebt sie das Klavier ab der Bühne. Für die Vermittlung der im Überfluss von Luxus, Geld und Möglichkeiten sich regelrecht langweilenden Person hat sie ihr gestreng ordentliches Äusseres abgelegt und fläzt sich nachgerade lasziv in einem Hauch von Seidenunterrock auf einem Hocker und bellt genervt, wie eine Vollpubertierende, die gebeten wird, von ihrem Smartphone aufzusehen und zuzuhören.

 

Es sind kleine Eingriffe, mit denen Johanna Louise Witt ihre Inszenierung würzt und die einander komplett widersprechenden Haltungen in eine regelrecht fühlbare Ambivalenz überführen. Was jemandem entgegnen, der im Kindesalter beim Besuch von Stalins Mausoleum in Tränen ausbricht und bei der erwachsenen Durchsicht der damaligen Tagebucheinträge von schier verzweifeltem Unverständnis ergriffen wird und wieder in Tränen ausbricht? Was jemandem, der als Konterrevolutionär für die Sicherstellung des eigenen Überlebens Getreide versteckt hatte und nach dem obrigkeitsgläubigen Verrat durch das eigene Kind, ebendieses vor die Tür weist und dem eigenen Schicksal überlässt? «Secondhand-Zeit» hält das von der Autorin im Vorspann abgegebene Versprechen, im Resultat unvereinbare Positionen und Sichtweisen zur ehemaligen Sowjetunion wie der heutigen Russischen Föderation in einer gestreng protokollarischen, also dezidiert nicht wertenden Weise wiederzugeben, was im Publikum – in der Form eines theatral inszenierten Monologes – die darin befindliche Zwiespältigkeit so nahe bringt, dass es über die damit zusammenhängende Beschneidung der eigenen Rolle auf eine rein passive auf den Punkt bringt. Eine Passivität, die im übertragenen Sinne beim Denken auf beiden Seiten der Betrachtungslinie – Hurra-Patriotismus und Totalablehnung einer Gemeinsamkeit – letztlich eine zentrale Voraussetzung ist, um sich darin überhaupt ereifern zu können. Sich dessen gewahr werden zu dürfen ist neben der Erkenntnis der eigenen Tendenz zu vorschnellem Urteil trotz Unwissenheit das eigentliche Geschenk dieser Arbeit – und natürlich Alicia Aumüllers Schauspiel.

 

«Secondhand-Zeit», 26.1., Schauspielhaus, Zürich.

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