Der grosse Ruck und die Reaktion

An der Zürcher Migrationskonferenz wurden die Politik, der Diskurs und die neuen Formen des Engagements um die Flüchtlingsbewegung seit dem Sommer 2015 diskutiert.

 

von Tim Rüdiger

 

«Ihr seht alle sehr freundlich aus – sicher sind viele von Euch auch selbst für Flüchtlinge engagiert», sagte die schwedische Politologin Lisa Pelling in den voll gefüllten Vortragssaal des Kunsthauses, wo letzte Woche die Zürcher Migrationskonferenz stattgefunden hat. Damit hat sie implizit auch auf die gegenteiligen Geschichten verwiesen: von weniger freundlichem Publikum, wie wir sie aus Mehrzweckhallen in Schweizer Randgemeinden kennen. Wo wüste Beschimpfungen ausgestossen werden, wenn über Asyl und Migration gesprochen wird. Die Konferenz war 2003 lanciert worden und wird jährlich von der Stadt Zürich zusammen mit der Fachorganisation AOZ vorbereitet. Dieses Jahr thematisierte sie einerseits das Aufkommen von neuen Formen zivilgesellschaftlichen Engagements im letztjährigen «langen Sommer der Migration». Andererseits den darauf folgenden Winter der Abschottung – der schnell als ein Umschwung des öffentlichen Diskurses wahrgenommen wurde, in dem «die Abwehrreflexe lauter und stärker» geworden sind, wie es Stadtpräsidentin Corine Mauch in ihrer Begrüssungsrede formulierte. Beispielhaft präsentierte Pelling die Chronologie von Schweden: Nachdem das Land «faktisch eine direkte Grenze an der Türkei» besessen und mit viel Elan eine sehr grosse Zahl Geflüchteter aufgenommen hatte, läutete die überforderte rot-grüne Regierung eine «Atempause» ein, die einen Dominoeffekt zur Kehrtwende in ganz Europa angestossen hatte. Es wurden für Schutzbedürftige nur noch temporäre Aufenthaltsgenehmigungen ausgestellt, die Familienzusammenführung radikal eingeschränkt und die Unterstützung für abgewiesene Asylsuchende gestrichen.

Längerfristig betrachtet sei jedoch in Schweden eine Entwicklung in der Bevölkerung hin zu mehr Offenheit auszumachen. Sie hoffe deshalb, bald wieder zur Normalität zurückkehren zu können, «so dass Jahr für Jahr die Möglichkeiten, Menschen zu empfangen, verbessert werden.»

 

Burkini- statt Migrationssommer
Diesen Optimismus konnte Pierre Ruetschi, Chefredakteur der ‹Tribune de Geneve›, für die Schweiz nicht teilen: «Im Gegensatz zu Schweden oder Deutschland ist die Schweiz gar nie von ihrer Normalität abgerückt, man hat immer weitergemacht wie bisher.» Ohnehin sei Chiasso der einzige Ort im Land, an dem es so etwas wie ein «Flüchtlingsproblem» gäbe – und hier werde es nach Como in Italien ausgelagert. Gleichzeitig sei nie eine wirkliche Debatte geführt, sondern nur jeweils das Sagbare verschoben worden. Von der dramatischen Berichterstattung über die vielen Toten im Mittelmeer sei man schnell beim Bataclan-Terroristen gelandet, der mutmasslich über die Balkanroute nach Europa gekommen war. Und nach der Kölner Silvesternacht waren die Geflüchteten dann nicht mehr nur eine Sicherheitsgefährdung, sondern auch sexuelle Raubtiere. Treffend fasste Ruetschi den Stimmungswandel zusammen: «Dieses Jahr gab es an den EU-Aussengrenzen nach nur acht Monaten bereits so viele Tote wie im gesamten letzten Jahr. Trotzdem erlebten wir keinen Migrationssommer, sondern einen Burkinisommer.»

In einer Zwischendiskussion kam die Gretchenfrage: Obergrenzen. Der Journalist Andreas Zumach brachte als Moderator objektivierbare Kriterien für die Kapazitäten einzelner Länder ins Spiel. Gemäss einer Studie käme man für Deutschland auf 8 Millionen Geflüchtete, die langfristig problemlos aufgenommen werden könnten. Die Antwort von Lisa Pelling kam mit Emphase: «Obergrenzen sind niemals mit der Genfer Konvention vereinbar. Demnach dürfen Flüchtlinge Grenzen überqueren; die Staaten dürfen Flüchtlinge nicht verhungern lassen und sie nicht in Staaten zurückschicken, in denen ihnen Folter drohen. Wie können wir von anderen Ländern erwarten, die Genfer Konvention zu achten, wenn wir sie selbst verletzen?» Darauf folgte spontaner Applaus.

 

Neue Formen des Engagements
Ein Umschwung in der Diskussion habe sehr viel mit der Erwartungshaltung gegenüber den Geflüchteten und ihrer medialen Repräsentation zu tun, sagte die Journalistin Nina Fargahi: «Vor Köln dachte man, die Flüchtlinge kämen in Demut und Dankbarkeit. Es reichte deshalb, dass ein paar wenige ausfällig wurden, um die politische Kultur zu kippen.» Im Gegensatz dazu habe das zivilgesellschaftliche Engagement nach ‹Köln› aber nicht aufgehört. Entstanden sei dieses mit dem Ruck, der letzten Sommer durch die Gesellschaft ging, und umfasse seither vielfältige Aktionen – von Deutschunterricht bis hin zu «Imkern mit Flüchtlingen». Im Gegensatz zu den althergebrachten Hilfswerken zeichneten sich diese neuen Formen des Engagements durch ihren teilweise spontanen Projektcharakter und die veränderte Motivation aus: Nicht mehr gönnerhaft, sondern auf Augenhöhe werde den Geflüchteten begegnet – dazu käme der Faktor Spass und Freude. Doch das zivile Engagement sei nur eine Seite der Medaille. «Der Wille und die Überzeugung, Geflüchtete eines Tages auch über die Zukunft der Schweiz mitbestimmen und an ihr teilhaben zu lassen, wird auch Aufgabe der Politik sein.»

 

 

Kommentar
Sie kommen trotzdem

 

Wenn im letzten Jahr allgemein von der sogenannten Flüchtlingskrise gesprochen wurde, war damit in den allermeisten Fällen eine rechte Vorstellung verbunden. Die grossen Flüchtlingsbewegungen nach Europa führten in dieser Lesart zu Kapazitätskrisen, Sicherheitskrisen und einer Krise der kulturellen Dominanz des Abendlandes.

Die linke Antwort war oft der Hinweis auf das Leid, das Elend und die Hilfsbedürftigkeit der Geflüchteten; es sei zynisch, von einer Flüchtlingskrise zu sprechen, wenn es eigentlich die Menschen seien, die eine Krise erleiden. Aus dieser humanitären Vorstellung entstanden viele gut gemeinte, mitunter aber dennoch gönnerische Projekte, die alle ‹irgendwas mit Flüchtlingen› beinhalteten. Im Gegensatz zu Projekten wie etwa die Rechtshilfe der Freiplatzaktion werden die Verantwortlichen von «Yoga mit Flüchtlingsfrauen» irgendwann wohl gemerkt haben, dass sich die Bedürfnisse der vermeintlich demütigen und dankbaren Flüchtlinge, nicht in Entspannung und Traumabewältigung erschöpfen.

Es gibt vom Begriff Flüchtlingskrise aber auch eine interessantere Interpretation, die Philipp Ratfisch und Helge Schwiertz in einer Analyse für die ‹Rosa Luxemburg Stiftung› nahelegen.

Nämlich als Krise des bisherigen europäischen Grenz- und Migrationsregime – und damit als Errungenschaft von Migrationsbewegungen. Auch die Vorstellung eines «Migrationsmanagements», das Menschenströme in feste Bahnen lenken lässt, gerät damit in die Krise. Der letztjährige «March of Hope» von Ungarn nach Österreich, aber auch die wiedererlangte Attraktivität der Mittelmeerroute oder die neuesten Berichte über untertauchende Asylsuchende in Schweizer Asylzentren zeigen, dass Migrationsbewegungen eine gewisse Autonomie besitzen und staatliche Kontrollversuche sowie nationale Grenzen unterlaufen können.

In diesem Sinn ist es zwar bedauerlich, dass wir anstelle einer breiten Debatte über Migration über Burkini sprechen mussten.

Aber wir können uns sicher sein, dass sich die Menschen auch bei einer abgekühlten europäischen Willkommenskultur weiter auf den Weg machen. Und es werden die Zeiten kommen, in denen die Toten im Mittelmeer und die kafkaesken Camps wie das in Como unhaltbar werden. Weil nämlich tatsächlich die europäischen Werte von Freiheit, Gleichheit und Menschenrechten in eine Krise geführt werden – nicht durch die Geflüchteten, sondern durch unsere Stacheldrähte.

tr.

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