Relikt des ‹Roten Zürichs› zu haben

Die einstige Stadthalle an der Morgartenstrasse im Kreis 4, die schon seit vielen Jahren als Autoverleih und Garage genutzt wird, soll verkauft werden. Ob sie als Veranstaltungsort aufersteht?

 

Wer die Entwicklung Zürichs in den letzten Jahren verfolgt hat, wundert sich: Wie kommt es, dass ein solch stattliches Gemäuer an guter Lage, wie es die ehemalige Stadthalle an der Morgartenstrasse 5 darstellt, anno 2015 als Autogarage dienen kann? Immerhin wird das Quartier rundherum seit längerem nach allen Regeln der Kunst aufgewertet. Doch nun geht es auch der Stadthalle an den Kragen. Ob daraus ein weiterer Kleiderladen wird? Oder ein Bürohaus? Noch ist alles offen. Wie aus der Verkaufsdokumentation hervorgeht, die P.S. vorliegt, würde die (nicht namentlich genannte) Eigentümerin nicht sofort abwinken, wenn jemand mit anderen Plänen an sie heranträte.
Präsentiert werden vielmehr verschiedene Ideen: Nebst «klassischem Gewerbe» wird «ein Kunst- und/oder Kulturlokal oder das Kreativgewerbe» erwähnt, «eventuell mit fliessendem Übergang zu einfachen Büroflächen oder Ausstellungsräumen». Weitere Szenarien fokussieren auf Verkaufsflächen, die auch eine Markthalle, Shop-in-Shop-Konzepte, Gastro oder Ausstellungsräume umfassen könnten. Und natürlich wird auch die Einrichtung von Büroflächen, die Nutzung für Schulungen oder eine Kombination verschiedener Elemente erwähnt. Als gemeinsamer Nenner steht fest, dass saniert und/oder umgebaut werden müsste. In einem Gebäude, das im kommunalen Inventar schutzwürdiger Bauten eingetragen ist, dürfte das nicht ganz einfach sein.
So sympathisch es tönt, dass hier jemand offensichtlich nicht gleich in «Hauptsache, es rentiert!»-Manier auftritt, ist doch klar, dass mit «Kreativgewerbe» kaum der Kunstmaler oder die Bildhauerin aus dem Quartier gemeint ist: Nur schon den Kauf dieses Objekts muss man sich erst mal leisten können. Als Verhandlungsbasis werden knapp zehn Millionen Franken genannt.

 

Von Tanz bis Krawall
Die Stadthalle war einst weit herum bekannt und wurde rege genutzt, nicht zuletzt von der Arbeiterbewegung – und sogar ein Krawall ist nach ihr benannt. Im Buch «Zürich 1933–1945. 152 Schauplätze» von Stefan Ineichen (Limmat Verlag Zürich, 2009) ist ihre bewegte Geschichte anschaulich zusammengefasst. Ineichen erwähnt beispielsweise eine Benefizveranstaltung der Scuola Libera Italiana anno 1934. Das «Erste Schweizer Ländlermusik-Wettspiel Zürich» ging 1938 über die Stadthallen-Bühne, 1941 war das Jubiläumskonzert des Zürcher Jodlerclubs angesagt. Zum Ostermontag-Tanz mit dem zehnköpfigen Tanzorchester Rex im gleichen Jahr waren «Herren – Eintritt Fr. 1.10» natürlich ebenso willkommen wie «Damen und Militär – Fr. -.55».
Im Dezember 1934 fand in der Stadthalle eine «Kundgebung für die demokratischen Freiheitsrechte! gegen den unschweizerischen Geist der Fronten!» statt, an der Heinrich Gretler als Rezitator wirkte. «Als Referenten traten unter andern der Sozialdemokrat Alfred Traber auf – als früherer Chef der Strassenbahnergewerkschaft ‹Trämlergeneral› genannt – und Walter Lesch vom frisch gegründeten Cabaret Cornichon.»
Besonders attraktiv sei die Stadthalle jedoch für die frontistischen Veranstalter gewesen, schreibt Stefan Ineichen. Dies, da das Gebäude an der Morgartenstrasse 5 «bloss einen Steinwurf vom ‹Volksrecht›-Gebäude entfernt» lag: Die Genossenschaftsdruckerei und die ‹Volksrecht›-Redaktion waren 1906 ins damals neu erstellte Doppelhaus Stauffacher­strasse 3 und 5 gezogen. Trafen sie sich in der Stadthalle, konnten die Fröntler folglich «Präsenz im roten Aussersihl markieren».
Damit war der Boden für den Stadthallenkrawall gelegt: Am 29. Mai 1934 lud die «Nationale Front» ihre AnhängerInnen zu einer Kundgebung in der Stadthalle unter dem Motto «Der jüdische Marxismus muss ausgerottet werden». In Flugblättern seien die «Lügen- und Phrasendrescher der ‹Sowjetschweizer› und SP-Scheindemokraten» als «Heuchler und Terroristen» bezeichnet worden, schreibt Ineichen. Und: «Aus der halben Deutschschweiz brachten Autobusse und Lastwagen Sympathisanten an die Morgartenstrasse, die die Veranstaltung aus Interesse besuchten oder weil sie zur Absolvierung des Dienstes an der Partei zur Teilnahme verpflichtet wurden». Die Linken hätten die Herausforderung zum Kampf angenommen: «Der Parteivorstand der SP Zürich rief zum Besuch der Veranstaltung auf, um sie ‹in die Hände zu bekommen›, und der aus Kommunisten und Linkssozialisten zusammengesetzte Kampfbund gegen den Faschismus reagierte ‹mit Herzenslust auf die frontistische Aufforderung zum Tanz›.»
Das wiederum machte dem Stadtrat Bauchweh: Er verbot die Demo, nicht aber die Fröntlerversammlung selbst. «Die Genossen waren konsterniert», schreibt Ineichen: «Es kam trotz Verbot zur Gegendemonstration und zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, die Stadtpolizei griff ein und nahm zahlreiche Verhaftungen vor. Der sozialdemokratische Polizeiinspektor Albert Wiesendanger soll eigenhändig seinen Parteikollegen Ernst Walter, den Sekretär der Kantonalpartei, festgenommen haben.» 15 Jahre und einen Weltkrieg später, im Jahr 1949, war dann allerdings Schluss mit Tanzen wie mit Demonstrieren, und die Stadthalle wurde in eine Parkgarage umgewandelt.

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