Reiss dich zusammen
Ich bin ja eine Hypochonderin. So richtig. So, dass manche behaupten, mindestens die Hälfte der Prämienexplosion gehe auf mein Konto. Kürzlich hatte ich eine akute Sehstörung. Ich sah alles nur noch verschwommen, torkelte durch die Migros und konnte den Brokkoli nicht mehr von einer Gurke unterscheiden. Es war furchtbar. «Reiss dich zusammen», meinten die, die dabei waren und mich nur zu gut kennen, und ich war wütend ob so viel Unverständnis, bis ich feststellen musste, dass ich versehentlich je Auge zwei Linsen trug. Ja, ich musste dann auch lachen.
Aber immerhin, ich bin nicht allein. Mit mir leiden 29,4% der wählenden Bevölkerung und wohl ebenso viele der nicht Wählenden an der gleichen Krankheit. Auch Peter Portmann. Er ist Fraktionschef der SVP in Kriens und hat eine Interpellation eingereicht, in der er fragt, was man zu tun gedenke, um Raubüberfälle, Einbrüche, Messerstechereien, Drogenhandel und Vergewaltigungen in der Gemeinde zu verhindern. Der Grund: Das ehemalige Hotel ‹Pilatusblick› soll ab Mitte November als Unterkunft für 70 minderjährige Flüchtlinge genutzt werden. Er möchte wissen, was man von der Gründung einer Bürgerwehr halte, schliesslich befänden sich Schulhäuser mit Kindergärten in unmittelbarer Nähe. Er ist in grösster Sorge, er hat Angst. Weil Kinder in die Gemeinde ziehen sollen.
Es ist, natürlich, eine unbegründete Angst. Als Hypochonder aber weiss man, dass es keine Rolle spielt, ob eine Angst begründet ist oder nicht. Und als langjährige Hypochonderin wie ich es bin, weiss ich zudem, dass zwei Dinge strikte verboten sind: Google und verständnisvolle Menschen, die diese Ängste ernst nehmen. Google deshalb, weil dort für jedes Symptom das gefürchtete Schreckensszenario zu finden ist. Sogar ein abgebrochener Fingernagel führt früher oder später zu einer unheilbaren Krankheit, wenn man nur lange genug sucht. Und Hypochonder suchen lange, denn sie glauben nicht der statistischen Wahrscheinlichkeit, sondern der schlimmstmöglichen Wendung. Und Menschen, die eine eingebildete Kranke ernst nehmen sind Gift, weil sie damit sagen, dass etwas Wahres dran ist an der Angst und die Irrationalität relativieren.
Mit der politischen Hypochondrie verhält es sich genauso. Und wie man am Beispiel des Herrn Portmann sieht, ist es in höchstem Masse ungünstig, dass es eine Partei gibt, die ein sicherer Hafen ist für jene, die verständnisvolle Verbündete suchen in der Angst vor der Katastrophe.
Die SVP hat ihre Karriere damit befeuert, dass sie diffuse Ängste erstens ernst nahm und sie zweitens auch konkretisierte. Sie diagnostizierte die EU und den Ausländer als Grundübel und liefert für diese Diagnose seit Jahren und Jahrzehnten die nötigen Zahlen und Bilder. Dabei ist es nebensächlich, dass die Fakten falsch sind und kein einziges der prophezeiten Schreckensszenarien je eingetreten ist. Die Realität spielt eine sehr untergeordnete Rolle in dieser Geschichte. Gleichzeitig – und das ist die eigentliche Tragödie – ist es ihr gelungen, den politischen Gegner so weit zu bringen, dass auch er diese Ängste ernst nehmen will. Sie hat erreicht, dass man links der Mitte damit begonnen hat, den Hypochonder ebenfalls zu pflegen, um ihm dann einfach eine andere Therapie vorzuschlagen. Es ist Standard in jeder politischen Diskussion, Argumente mit der Phrase der ernst zu nehmenden Ängste zu wattieren. Es ist grundfalsch.
Es liegt an uns, hier einen anderen Weg einzuschlagen. Wir dürfen nicht den Hypochonder ernst nehmen, sondern den Menschen. Das bedeutet, dass wir ehrlich sein müssen. «Reiss dich zusammen» sollte zum neuen Standard werden, wenn wir mit eingebildeten, von rechten Parteien sorgsam gehüteten Pseudoängsten konfrontiert werden. Das ist die einzige Therapie, die bei Hypochondern anschlägt.