Regelrecht beglückend

Die Ausstellung über den durch Keystone historisch aufgearbeiteten Fund von 1250 Glasnegativen von Jules Decrauzat (1879 – 1960) ist ein regelrechtes Ereignis. Die Sujets aus der Welt des Sports an der Schwelle zur Moderne zwischen 1910 und 1925 versetzen einen auf Anhieb in grosse Verzückung.

 

Emile Taddeoli ist beim Flugmeeting in Lausanne 1911 abgestürzt, aber offensichtlich unversehrt, wie eines der vielen Bilder von Jules Decrauzat illustriert. Als einer der vielzitierten tollkühnen Helden in ihren tollkühnen Kisten sitzt er nun auf einer Bank vor einem Zelt. Rechts von ihm der konzentriert und besorgt dreinschauende Arzt beim Puls messen mit der Stoppuhr in der Hand. Der Pilot lässt die Prozedur geduldig über sich ergehen, nimmt aber offensichtlich die ganze Situation nicht sonderlich ernst. In der freien Hand hält er eine Zigarette, und sein wacher Blick in Richtung einer der ihm umgebenden Damen zeugt von einer regen Flirttätigkeit. Ein Bild, und sogleich eröffnet sich einem eine ganze Welt.

 

Wer Geschlechterfragen, Umweltschutzbedenken oder weitere politische Grundsatzdebatten für einmal nicht wegstecken mag, kann sich den Besuch gleich sparen. Denn hier geht es um eine Zeitreise, die nur mit Glück und grossem Effort überhaupt im Heute erlebt werden kann. Die Glasnegative lagen jahrzehntelang im Archiv der Keystone-Vorgängerin Photopress. Die fotografische Qualität stand nie infrage, indes konnte die Urheberschaft einfach nicht sicher ermittelt werden. Zwei aufeinander folgende Forschungsaufträge der Bildagentur Keystone – anlässlich ihres 25. Jubiläums – an die HistorikerInnen Damian Christinger und später Medea Hoch konnten die Zweifel der Urheberschaft weitestmöglich ausräumen, sodass jetzt davon ausgegangen wird, dass sämtliche der gefundene Glasnegative von Jules Decrauzat stammen.

 

Sport für alle

Gerüchten zufolge soll der Gesamtbestand an die 80 000 Negative beinhaltet haben, nur ist der Rest verschollen. Jules Decrauzat war der erste festangestellte Berufsfotograf der Schweiz bei der zweiwöchentlich erscheinenden Zeitschrift «La Suisse Sportive» zu einer Zeit der Umbrüche. Zum einen war Fotografie ein junges Medium, und ihre Verfechter wurden noch nicht wirklich ernst genommen. Zumindest vonseiten Verlegerschaft. Auf der anderen Seite begann der Sport vom elitären Hobby einiger weniger seinen Triumphzug in die Gesamtgesellschaft. Selbst sechzig Jahre später war zu meinen Kinderzeiten das Vorbeiziehen der Tour de Suisse im Wallis ein Grossereignis, für das sich die gesamte Familie einen ganzen Tag mit Sack und Pack in einer aussichtsreichen Kurve installierte, nur um die paar Minuten – wusch – vorbeifahrenden Pedaleure live sehen zu können. Eines der Bilder ganz zu Beginn der Ausstellung zeigt genau solch erwartungsfrohe Kinderaugen, die ihre Schüben und Hemden mit beiden Händen zu einem Fangtuch aufspannen, damit möglichst zahlreiche der werfend verteilten Feuersteine (sofern es diese dannzumal überhaupt schon gab) oder andere Kleinpräsente eingefangen werden können.

 

Über das Leben von Jules Decrauzat ist nur sehr wenig bekannt, aber seine geretteten Bilder sind in vielfacher Hinsicht ein veritabler Schatz. Beim Indoor-Tennisturnier sass das Publikum auf Balkonen, die quer über das Spielfeld gebaut waren. Bei Leichtathletikwettbewerben wurden die Rennbahnen mit Schnüren und Pflöcken auf die Wiese markiert. Bei Motorradrennen führten mehrere Fahrer Stofftiere auf dem Schutzblech des Vorderrades als Glücksbringer mit. Autorennfahrer verzichteten aus Gewichtsgründen ausser auf Tragekonstruktion, Räder, Motor und Lenkrad auf sämtliches weiteres – sogar einen Sitz. Auf einem anderen Bild legen sich zwei Junge ausserhalb des Automobils waghalsig in die Kurve, genauso wie das heute noch im Segelsport zu beobachten ist, damit die ideale Linie gefahren werden kann. Die Flugobjekte, mit denen sich jemand getraute, nur schon einen Flugversuch überhaupt zu absolvieren, wirken von hier aus so fragil und klapprig, dass es einem noch beim Betrachten beinahe Angst und Bang wird. Aber auch Veränderungen in der Landschaft sind augenscheinlich: Der Grimselgletscher reicht noch so weit ins Tal wie kaum je vorher gesehen. Und die Mode, die bei den sportlichen Betätigungen getragen wurde, spricht ebenfalls Bände.

 

Ein wirklich geglückter Coup der Ausstellungsarchitektur ist, dass die Musik von Louis Armstrong, die eine Diashow in der Mitte begleitet, auch ausserhalb gut hörbar ist (aber nicht stört) und einen beim Betreten der Ausstellung bereits mit Swing erheitert, was das folgende Gefühl grösstmöglicher kindlicher Freude alias Beglückung noch einmal verstärkt. Es mag jetzt alles ein bisschen sehr euphorisch und unkritisch tönen, aber wenn Sportfotografien jemanden dermassen zu begeistern vermögen, der sich gar nichts aus Sport macht, spricht das doch für sich…

«Das Leben ein Sport. Jules Decrauzat – Pionier der Fotoreportage», bis 11.10., Fotostiftung Schweiz, Winterthur. Katalog im Echtzeit-Verlag 45 Franken. Veranstaltung: «Ist Sport unweiblich?» (Zitat ‹Schweizer Illustrierte› 1929) – Ausstellungsrundgang mit Peter Pfrunder und Elisabeth Joris. www.fotostiftung.ch

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