Regeln statt Fingerzeigen

Heute habe ich mich darüber informiert, welchen Themen die Schweiz sich am nächsten Abstimmungssonntag widmen wird. Was mir sowohl bei der Fair-Food-Initiative als auch bei der Initiative für Ernährungssouveränität angenehm auffällt, ist, dass sich hier Menschen aus der Bevölkerung gemeinsam für fair und ökologisch hergestellte und gehandelte Lebensmittel und für Nachhaltigkeit einsetzen. Und zwar nicht nur dafür, dass solche als Alternative zu anderen Produkten in den Läden zu finden sind, sondern dafür, dass sie zum Standard werden.

 

Warum das wichtig ist, sollte eigentlich allen klar sein. Aber weil es doch erstaunlich häufig ignoriert oder wegdiskutiert wird, sage ich es nochmals in aller Klarheit: Der Umwelt auf diesem Planeten geht es nicht gut. Obwohl der Mensch sich seiner Auswirkungen auf das Ökosystem der Erde seit dem letzten Jahrhundert viel stärker bewusst ist, hat sich unser globaler Verbrauch von Biomasse, mineralischen Rohstoffen und fossilen Brennstoffen seit den 1980er-Jahren verdoppelt. Auf 80 Milliarden Tonnen jährlich. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Abgesehen davon wird weiterhin jede Minute eine 36 Fussballfelder grosse Fläche Wald zerstört und landen jährlich 13 Millionen Tonnen Plastikmüll im Meer. Auf YouTube kann man dann Videos darüber schauen, wie Schildkröten sich in Dosenhaltern verfangen und elend daran verenden. Jedes Kind weiss, dass der Umweltschutz wichtig ist und jeder halbwegs gebildete Mensch, dass die Ursache in unserer Art zu leben liegt: in der Überproduktion von Gütern, gedankenlosem Konsum, zunehmendem Flugverkehr und so weiter.

 

Dabei engagieren sich doch so viele für die Umwelt! Wir kaufen Bio-Gemüse und MSC-Fisch, Naturafarm-Plätzli und Kaffee von Max Havelaar. Aber eben, all diese tollen Alternativen stehen immer noch bloss neben den ‹gewöhnlichen› Produkten, bei denen Massentierhaltung und Pestizide die Norm sind. Ausserdem ist mit all diesen verschiedenen, winzigen Labels das Einkaufen auch nicht leichter geworden: Manchmal fühle ich mich beim Auswählen von Frischkäse, als ob ich einen Dreisatz lösen würde. Natürlich kann man all diese Bildli und die dazugehörenden Firmen googeln, aber die müssen auf ihren Webseiten noch lange nicht die Wahrheit erzählen. Und im Endeffekt nützt es offenbar doch alles nichts, denn die Umweltverschmutzung schreitet weiter fort, der Wald verschwindet, die Fische sterben. Ich will nicht den Leuten einen Vorwurf machen, die keine Bio-Produkte kaufen; manchen fehlt das Geld für den Preisaufschlag, manche mögen glauben, dass Bio oder Nicht-Bio eh keinen Unterschied macht, manchen ist das Problem vielleicht einfach zu weit weg. Warum also, und damit schliesst sich der Kreis zu den beiden Initiativen, machen wir nicht einfach Bio und Fairtrade zur Norm?

 

Das ist nämlich ein weiterer Punkt an der ganzen Misere: Wir zerstören mit unserem Lebensstil nicht nur die Umwelt, sondern beuten auch noch Millionen von anderen Menschen aus. Vor einigen Monaten machte Oxfam Deutschland an einer Podiumsdiskussion über soziale Ungleichheit die Angabe, dass ein Prozent der Weltbevölkerung mehr als die Hälfte des Weltvermögens besitzt. Und dass auch letztes Jahr vom gesamtglobalen Vermögenswachstum 82 Prozent an dieses reichste Prozent ging, während die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung überhaupt nichts bekam. Nachdem dann eine gute Stunde lang hin und her diskutiert wurde, was daran überhaupt schlimm ist und warum jetzt ausgerechnet die Schweiz etwas dagegen unternehmen soll, öffnete sich die Runde den Fragen des Publikums. Eine Frau stand auf und erkundigte sich mit ernstem Gesicht, ob eine gerechte Verteilung der Güter denn überhaupt möglich sei, ohne dass wir den Kapitalismus überwinden. Einige Leute im Publikum lachten. So unvorstellbar ist es offenbar geworden, das sorglosen Konsum vorschreibende System überhaupt zu hinterfragen und eine mögliche Veränderung zu diskutieren.

 

Die Einstellung, dass die Beibehaltung unseres Lebensstandards wichtiger ist, als der Gedanke daran, wie dieser sich auf den Rest der Welt auswirkt, machte sich kürzlich auch bemerkbar, als das Gesetz zum Export von Schweizer Waffen in krisenbetroffene Länder gelockert wurde. Die Vorgabe sei jetzt nur noch, dass die Waffen an Organisationen gehen, die nicht direkt mit dem Konflikt zu tun haben. Aber wie genau muss man sich das vorstellen? Wozu brauchen diese Organisationen Waffen, wenn sie in keinen Krieg verwickelt sind? Zum Kartoffeln schälen? Stephan Lessenich hat die Einstellung, dass wir uns mit solchen Fragen nicht ausei-nandersetzen, weil wir es halt nicht müssen, in einem Buchtitel gut zusammengefasst: Neben uns die Sintflut. Denn es geht schon lange nicht mehr darum, dass es uns egal sein kann, was nach uns kommt, sondern darum, dass uns nicht kümmert, was nicht hier bei uns passiert.

 

Das bringt mich zu einem weiteren Argument, warum ich für strengere Standards und Regeln plädiere, statt die Wahl zwischen fair und unfair oder ökologisch und unökologisch den Einzelnen zu überlassen: die Solidarität. Nicht nur gegenüber denen, auf deren Kosten wir leben. Kathrin Hartmann schreibt in ihrem Buch ‹Die grüne Lüge – Weltrettung als profitables Geschäftsmodell›: «Die sogenannte Konsumentendemokratie, in der nicht mehr der Bürger mit Widerstand und Protest Änderungen in der Politik bewirkt, sondern der Konsument seinen Geldschein als Wahlzettel begreift, mit dem er an der Ladenkasse abstimmt, entspricht wiederum passgenau der neoliberalen Ideologie der Ausweglosigkeit und Eigenverantwortung. In einer Gesellschaft, in der jeder seines Glückes Schmied zu sein hat, wird der Einzelne durch Anpassung und Selbstoptimierung ebenfalls zum Produkt, das auf dem Markt mit anderen Individuen konkurriert. Der Neoliberalismus verspricht uns Freiheit, meint aber nur die individuelle Wahlfreiheit beim Shopping – auch und gerade zum Zwecke der Weltrettung.» Das wiederum führe zu einem moralischen Wettbewerb, «in dem der ‹gute› auf den ‹bösen› Verbraucher zur eigenen moralischen Erhebung mit dem Finger zeigt». Eine traurige Wahrheit, aber: Gegen dieses Fingerzeigen können wir etwas tun, mit politischem Druck. Damit wir uns nicht als Einzelkämpfer gegen ein unverrückbares System verstehen müssen, sondern gemeinsam eine Veränderung herbeiführen können.

 

Leonie Staubli

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