Rechtsgrundsätze

Bei meiner Arbeit als Layouter in einem juristischen Buch- und Zeitschriftenverlag begegnen mir immer wieder Rechtsgrundsätze, die meist lateinisch geschrieben werden und aus dem Römischen Recht stammen – also bereits zwei Jahrtausende überdauert haben.

Der wohl bekannteste lautet «in dubio pro reo», also «im Zweifel für den Angeklagten»; er ist in der Wahrnehmung des Strafrechts allgegenwärtig, jedoch in der Schweiz weder im Strafgesetzbuch noch in der Strafprozessordnung explizit festgehalten. Dass eine Person nur verurteilt werden darf, wenn das Gericht ihre Schuld zweifelsfrei feststellen kann, erscheint uns auf den ersten Blick als selbstverständlich. Bei genauerer Betrachtung ist es jedoch nicht immer so einfach: Gibt es kein Geständnis, ist es oft eine Ermessensfrage, ob die verfügbaren Indizien und Beweise alle Zweifel an der Schuld ausräumen oder nicht. So dient dieser Grundsatz gemäss einigen Autor:innen auch primär der Begründung von Freisprüchen gegenüber den Opfern und der Öffentlichkeit, wenn etwa der Tatverdacht nicht vollständig ausgeräumt, aber halt auch nicht vollständig bewiesen werden konnte.

Nicht für das Gericht, sondern für die Untersuchungsbehörden gilt der Grundsatz «in dubio pro duriore», «im Zweifel für die härtere Variante», der in einem Gegensatz zu «in dubio pro reo» zu stehen scheint. Im Zweifelsfall ist Anklage zu erheben; die Frage nach Schuld oder Unschuld soll durch das Gericht beurteilt werden und nicht durch die Staatsanwaltschaft.

Ein interessanter «dubio»-Grundsatz des Zivilrechts ist «in dubio contra stipulatorem», «im Zweifelsfall gegen den Vertragsverfasser». Ist ein Vertrag uneindeutig formuliert, so dass die Auslegung zu einem Rechtsfall wird, ist gegen die Partei zu entscheiden, die den Vertrag ausgestellt hat. Damit wird etwa sichergestellt, dass Firmen kein Interesse daran haben, in ihren Geschäftsbedingungen missverständliche oder schwammige Formulierungen zu verwenden.

Zu Verträgen gilt insbesondere auch der Grundsatz «pacta sunt servanda», «Verträge sind einzuhalten». Das ist doch eigentlich logisch, oder nicht? Wofür würde man einen Vertrag schliessen, wenn der nicht auch einzuhalten wäre? Da aber der gesunde Menschenverstand nicht in jedem Fall einklagbar ist, ist es für eine funktionierende Wirtschaft zentral, dass die Einhaltung von Verträgen durch das Recht, also mithin durch die Staatsgewalt, geschützt ist. Um noch etwas politisch zu werden: Wohl nur deshalb wollen die meisten liberalen Kräfte den Staat nicht vollständig abschaffen; ohne eine ordnende Macht, die die Einhaltung von Verträgen gewährleistet, wäre ein freier Markt nicht möglich. Deshalb ist es auch gänzlich unverständlich, dass sich die Parteien, die sich «liberal» nennen, nicht vehement gegen die Globalisierung des Rechtspopulismus zur Wehr setzen, der das Recht des Stärkeren zu etablieren sucht und damit den Superreichen und Oligarchen als Steigbügelhalter dient. Der Angriff auf die Demokratie ist auch ein Angriff auf den freien Markt.

Aber zurück zum gesunden Menschenverstand. Dieser äussert sich noch in weiteren Rechtsgrundsätzen, wie etwa «nulla poena sine lege», «keine Strafe ohne Gesetz». Auch das klingt total logisch, zumindest so lange, bis jemand etwas tut, das wir für moralisch verwerflich halten, das aber von keinem Gesetz verboten wird. Oder «ne bis in idem», «nicht zweimal in der gleichen Sache»: Man soll für ein Vergehen nicht mehrfach bestraft werden.

Falls Sie schon einmal wegen der Teilnahme an einer Demo verhaftet wurden, haben Sie eventuell bei der Polizei und vor Gericht die Aussage verweigert – dann haben Sie sich auf den Grundsatz «nemo tenetur se ipsum accusare» berufen, «niemand muss sich selbst belasten». Rechtsgrundsätze sind also nicht nur abstraktes Juristenfutter, sie können im normalen Leben durchaus relevant sein.

Und wenn Sie jetzt nicht sicher sind, ob Ihnen diese Kolumne gefallen hat, bitte ich Sie um nachsichtige Beurteilung, ganz im Sinne des Grundsatzes «in dubio pro scriptore» – «im Zweifel für den Schreibenden».