- Im Gespräch
Raus aus der nuklearen Komfortzone
94 Staaten haben den Atomwaffenverbotsvertrag (Tpnw) unterschrieben, 73 haben ihn bereits ratifiziert, aber keine einzige Atommacht ist dabei. Was bringt ein solcher Vertrag, wenn ausgerechnet die Nuklearmächte nicht mitziehen?
Der Tpnw wurde geschaffen, weil bestehende Verträge die Atommächte nicht ausreichend zum Abrüsten bewegen. Er setzt eine neue Norm und stigmatisiert Atomwaffen wie chemische und biologische Waffen. Der Vertrag stärkt den politischen und moralischen Druck auf die Nuklearstaaten – jede weitere Unterschrift erhöht ihre Isolation. Dass gewisse Nato-Staaten die Schweiz von einer Unterzeichnung abhalten wollen, zeigt: Der Tpnw wirkt bereits. Ausserdem verbietet er erstmals die Drohung mit Atomwaffen und ihre Stationierung in anderen Staaten.
2018 hat das Parlament den Bundesrat aufgefordert, zu unterzeichnen. Passiert ist das aber nicht. Warum?
Es ist eine Kombination eines passiven Aussenministers ohne friedenspolitische Linie und einer aktiven Verteidigungsministerin mit vorauseilendem Gehorsam gegenüber Atomwaffenstaaten der Nato. Man will gefallen, will signalisieren, dass man um jeden Preis Konflikte mit grossen Akteuren vermeidet. Die Argumente gegen eine Unterzeichnung wirken vorgeschoben und sind nicht durch den Vertragsinhalt begründet. Das ist umso stossender, als dass die Schweiz bei der Ausarbeitung des Tpnw an der Uno beteiligt war und mit rund 120 Staaten für seine Annahme gestimmt hat. Aber danach ist alles ins Stocken geraten.
Die Schweiz präsentiert sich gerne als humanitär und friedensfördernd, unterzeichnet aber kein Verbot von Atomwaffen. Haben wir ein Glaubwürdigkeitsproblem?
Auf jeden Fall. Früher setzte sie sich konsequent für Abrüstung ein, heute akzeptiert sie stillschweigend die weltweite nukleare Aufrüstung. Das widerspricht nicht nur unserer humanitären Tradition, sondern schadet auch unseren eigenen Interessen. Ein kleiner neutraler Staat wie die Schweiz müsste ein starkes Interesse daran haben, Atomwaffen global zu ächten. Doch durch Zögern und Anpassung verlieren wir unsere Glaubwürdigkeit.
Grüne, SP, EVP sowie verschiedene Friedens- und Abrüstungsorganisationen haben deshalb die Atomwaffenverbotsinitiative lanciert. Was ist das Ziel dieser Initiative?
Die Initiative will, dass die Schweiz dem Tpnw beitritt, den Auftrag des Parlaments respektiert und der humanitären Tradition unseres Landes wieder Glaubwürdigkeit verleiht. Und wir können damit eine fast verschwundene Debatte wieder anstossen. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine steht Aufrüstung im Vordergrund, und Völkerrecht, Abrüstung und internationale Kooperation scheint kein Thema mehr zu sein. Die Initiative holt das zurück auf die Agenda und macht klar: Wir dürfen uns nicht einfach an die Drohkulissen der Grossmächte gewöhnen. Gerade die Schweiz, mit ihrer humanitären Tradition, könnte hier ein klares Zeichen setzen. Ein Beitritt wäre ein Signal, dass wir uns nicht dauerhaft zum Spielball dieser gefährlichen Logik machen wollen, sondern die Ächtung von Atomwaffen ernst nehmen.
Ein zentrales Argument der Gegnerinnen und Gegner ist, die nukleare Abschreckung habe verhindert, dass Atomwaffen je eingesetzt wurden. Was entgegnen Sie dem?
Die Abschreckungstheorie hat das Risiko eines Atomwaffeneinsatzes nicht gesenkt – im Gegenteil, es ist heute höher denn je. Sie basiert auf einer gefährlichen Logik, die die Welt mehrfach an den Rand des Abgrunds geführt hat. Sicherheit entsteht nicht durch Drohungen mit Massenvernichtungswaffen, sondern durch Abrüstung. Die Abschreckungslogik passt auch nicht zur Schweiz. Die Vorstellung, man schaffe mit der Drohung einer Massenvernichtungswaffe Stabilität, widerspricht unserer humanitären Tradition. Zudem hat man an Russlands Invasion der Ukraine gesehen, dass Atomwaffen kein Garant für Frieden sind. Im Gegenteil: Russland fühlte sich durch eigene Atomwaffen unantastbar. Die westlichen Staaten liefern trotzdem Waffen und die Ukraine schlägt zurück, hat sogar seit August einen Teil russischen Territoriums besetzt. Nukleare Abschreckung verhindert keinen Krieg, sie erhöht das Risiko einer ultimativen Eskalation. Es ist naiv, an Massenvernichtungswaffen als Friedensinstrument zu glauben.
Der Bundesrat sagt, ein Beitritt könne die Zusammenarbeit mit der Nato oder wichtigen Handelspartnern belasten. Wie schätzen Sie diese Sorge ein?
Ich halte das für unbegründet. Es gibt Staaten, die den Tpnw unterzeichnet haben und trotzdem eng mit Nato-Ländern kooperieren. Die Schweiz hat auch keine Kooperation mit der Nato im nuklearen Bereich und die Nato ist kein homogener Atomblock. Spanien und Litauen sind per Verfassung nuklear-frei, andere Nato-Staaten haben Gesetze, welche die Stationierung von Atomwaffen verbieten. Wie gesagt: Hier geht es um vorauseilenden Gehorsam: Man will bis zur Selbstaufgabe den netten Nachbarn spielen, der keine eigenen Ansprüche stellt.
Wie reagiert denn die Schweizer Bevölkerung auf die Initiative? Wie läuft das Unterschriftensammeln?
Das Sammeln der Unterschriften ist Knochenarbeit, besonders nach dem Unterschriftenskandal, der das Vertrauen vieler Schweizer:innen erschüttert hat – die Folgen davon spüren wir. Aber wir spüren auch, dass die Leute das Anliegen verstehen. Sie verstehen, wie gefährlich Atomwaffen sind, und begreifen, dass die Schweiz hier mehr tun müsste. Dennoch: Es kommt auf jede Unterschrift an, denn die Kapazitäten unserer freiwilligen Sammler:innen sind natürlich begrenzt.
Jo Lang von der GSoA sagte etwa, er habe seit der Stop-F/A-18-Initiative von 1993 nicht mehr so viele Unterschriften in so kurzer Zeit gesammelt.
Das zeigt, dass der Volkswille auf unserer Seite ist. Die Menschen haben genug von vorgeschobenen Argumenten und wollen, dass die Schweiz ihren humanitären Ansprüchen gerecht wird. Im Grunde lässt sich die Initiative auf eine Frage herunterbrechen: «Sind Sie für oder gegen Atomwaffen?» Und da hat die grosse Mehrheit der Bevölkerung zum Glück eine klare Antwort.
Der Nichtweiterverbreitungsvertrag (NPT) von 1968 sollte bereits verhindern, dass sich weitere Staaten Atomwaffen beschaffen. Warum braucht es zusätzlich den Tpnw?
Der NPT hat zwar verhindert, dass sich mehr Staaten Atomwaffen beschaffen, aber die Abrüstung der bestehenden Arsenale blieb aus. Die Atommächte haben ihre Verpflichtungen nie ernsthaft umgesetzt. Damit steckt der NPT in einer Glaubwürdigkeitskrise. Der Tpnw geht einen Schritt weiter: Er verbietet Atomwaffen grundsätzlich, ohne Ausnahmen. Damit schliesst er eine Lücke des NPT und bringt die Abrüstung endlich wieder voran.
Welche Aussenwirkung hätte eine Schweizer Unterzeichnung des Vertrags?
Ein Beitritt zum Tpnw würde zeigen, dass wir nicht nur in Friedenszeiten von humanitären Werten reden, wenn es bequem ist, sondern auch dann, wenn es anspruchsvoll wird. Es braucht Staaten, die sich mutig gegen Massenvernichtungswaffen stellen, nicht Staaten, die sich aus Angst vor Irritationen nicht bewegen. Die Schweiz würde ausserdem als glaubwürdig wahrgenommen werden und könnte so viel besser neutral zwischen Staaten vermitteln, als als Quasi-Mitglied der nuklearen Abschreckung der Nato. Und natürlich erhöht es den Druck auf andere Staaten, es der Schweiz gleichzutun.
Wie steht es um die atomaren Verstrickungen des Schweizer Finanzplatzes?
Der Schweizer Finanzplatz investiert in Unternehmen, die Atomwaffen produzieren. Das ist ein offensichtlicher Widerspruch. Einerseits wollen wir ein Verbot von Atomwaffen, andererseits fliesst Geld in deren Produktion. Hier braucht es klare Regeln. Wir können nicht glaubwürdig Abrüstung fordern, während wir gleichzeitig in diese Industrie investieren. Auch das ist eine Frage der Integrität. Wenn wir ernsthaft etwas gegen Atomwaffen tun wollen, müssen wir es auch wirtschaftlich untermauern.
Seit dem Krieg in der Ukraine ist die nukleare Bedrohung für viele wieder greifbarer. Wie schätzen Sie die Gefahr eines tatsächlichen Einsatzes ein?
Das zeigt, wie abstrakt die Diskussion um nukleare Abschreckung ist. Wenn diese wirklich funktionieren würde, müssten wir uns ja keine Sorgen machen. Aber de facto müssen wir jetzt einfach darauf vertrauen, dass Putin nicht so weit geht. Daran ändert auch eine kurzsichtige politische Annäherung an die Nato nichts. Ein Einsatz strategischer Atomwaffen scheint momentan noch eher unwahrscheinlich, doch schon die Diskussion um «taktische» Atomwaffen ist beunruhigend. Allein die Bereitschaft, darüber nachzudenken, zeigt, wie sehr wir uns an diese Bedrohung gewöhnt haben. Genau hier braucht es den Tpnw, um klarzumachen, dass Atomwaffen in keiner Form akzeptabel sind.
Und umgekehrt: Wie realistisch ist eine Zukunft ganz ohne Atomwaffen?
Eine Welt ohne Krieg wird es nie geben, aber wir müssen Waffen abschaffen, die die Menschheit komplett auslöschen können. Ich bin optimistisch, dass eine Welt ohne Atomwaffen möglich ist. Es galt lange auch als undenkbar, chemische und biologische Waffen abzuschaffen. Durch ähnliche Verträge wie den Tpnw wurden diese unter tatkräftiger Mithilfe der Schweiz erst verboten und dann abgerüstet. Der Tpnw ist ein Schritt, um diesem Ziel näherzukommen, und er zeigt, dass Veränderung durch hartnäckige Diplomatie und zivilgesellschaftlichen Druck erreicht werden kann.
Was motiviert Sie persönlich, sich für dieses Anliegen einzusetzen?
Mich treibt die Überzeugung an, dass wir dieses Problem nicht ignorieren dürfen, nur weil es unbequem ist. Gerade jetzt, wo Aufrüstung wieder als alternativlos gilt, braucht es eine Gegenbewegung. Es geht darum, humanitäre Werte in den Mittelpunkt zu stellen und zu zeigen, dass Frieden und Abrüstung auch in schwierigen Zeiten möglich und notwendig sind.