«Privilegien für alle!»

Die alljährliche Weltreise in Filmen am 26. queeren Filmfestival PinkApple erfreute sich einem annähernd vorpandemischen Publikumszuspruch. Die Filmpalette war wie immer erfreulich breit und förderte Wissenslücken zutage, feierte Vorbilder der Selbstermächtigung, unterhielt bis zum Tränenfluss aus zweierlei Gründen und sorgte selbstredend auch für Kopfschütteln.

«Wer mit einer Drag Queen schläft, erwacht mit Glitter im Schritt», warnt Quentin alias Cookie Kunty (Romain Eck) den Fotografen Baptiste (Pablo Pauly) halb aus Koketterie, halb aus Furcht davor, als Exotismus-Häkchen auf einer Beischlaf-Bucketlist zu enden. Denn zu Beginn von Florent Gouëlous «Trois nuits par semaine» lebt Baptiste antriebslos in einer auch darum kriselnden Beziehung mit der überarbeiteten Assistenzärztin Samia (Hafsia Herzi), die Quentin von seinem Beruf als Krankenpfleger her kennt. Als Cookie Kunty ist sie auf der Bühne ein Star, auf der Strasse sozial engagiert und – das wird sich herausstellen – privat ein verletztes, scheues Reh. Baptiste gewinnt von dieser Begegnung die Faszination für eine bislang unbekannte Welt, den Antrieb für ein berufliches Projekt und emotional den Zugang zu einer verschütteten Begierde. Die Annäherung der beiden erweist sich als komplexer  als vermutet. Denn der Schein von Drag ist eine separierte Welt, die zwar das Ausbrechen zulässt, nicht aber Rückschlüsse auf die intime Gemütslage der Person, die hinter der Maske steckt. 

Von einer anderen Maske erzählt Paul B. Preciado in «Orlando, ma biographie politique», worin die ikonische Romanfigur von Virginia Woolf in einer Vielzahl von lebenden Personen inkarniert. Der adelige Jüngling, der sich im Schlaf in eine Frau verwandelt und zugleich sämtliche Privilegien verliert, gilt seit seinem Erscheinen 1928 als protofeministisches Manifest für die Selbstbestimmung und Rechtsgleichheit der Frau. Paul B. Preciado nimmt als trans Aktivist:in die dortige Transition im Traum als Grundlage für eine aktuell utopische, in ihren potenziellen Auswirkungen indes keinesfalls unneckische Ausmalung einer nicht geschlechterfixierten menschlichen Ordnung. Gleiche Rechte für alle erfährt in dieser maximalen Möglichkeitserweiterung ein ungeheuer befreiendes Potenzial. Gesetzt den Fall, jede zwischenmenschliche Begegnung würde sich aufrichtig für das Gegenüber interessierend beginnen, vollkommen unabhängig von einer äusserlichen Erscheinung, einem Habitus, sämtliche  Ismen verlören auf einen Schlag ihr Fundament. Eine solche Utopie meint aber nicht die Nivellierung von Unterschieden, sondern vielmehr die gleichermassen verteilte – auch juristische – Berechtigung, sich selbst zu sein und keine Diskriminierung zu erfahren. 

Fortschritt

Neu sind solche Gedanken nicht. Die US-amerikanische Kulturanthropologin Esther Newton (*1940), die sich selbst als Butchlesbe weder vollkommen weiblich noch männlich identifiziert, formulierte bereits 1972 in ihrer Studie über Drag Queens «Mother Camp: Female impersonators in America» ein pointiertes Statement über die gesellschaftlichen Kräfte, die sich aufgrund der willkürlichen Natur von Geschlechterzuschreibungen entwickeln. Damals ein Flop und in Fachkreisen als exotisch abgekanzelt, steht das Werk heute für einen Wendepunkt in der Lehre und Wissenschaft vom Menschen. Jean Carlomusto widmet ihr mit «Esther Newton made me gay» (nach ihrem Essay «Margaret made me gay») ein Filmportrait, das sowohl ihren langjährigen, unermüdlichen Kampf um akademische Anerkennung wie auch als Privatperson um ihr Glück zeigt. Ihren widerständischen Geist, den sie sich glücklicherweise bis heute bewahrt hat, nahm bereits als Teenager, also lange vor Stonewall, Form an. Der Blick zurück in jene Zeit vergegenwärtigt auch, wie vergleichsweise jung die errungenen emanzipatorischen Fortschritte sind.

Argentinien hat seit 2012 die fortschrittlichste Gesetzgebung, die wie seit 2022 in der Schweiz, die formlose Änderung des amtlichen Geschlechtseintrages ermöglicht und seit 2021 sogar die Möglichkeit für einen geschlechtsneutralen Eintrag (X) und eine Quote von einem Prozent für Stellen im öffentlichen Dienst für trans Personen kennt. Sabian Baumann reiste für «Wem gehört der Himmel» nach Buenos Aires, um Aktivist:innen zu interviewen, woraus sich ein längerfristiges Projekt entwickelte. Unter anderem auch das Festival «Die grosse Um_Ordnung» auf dem Zürcher Helvetiaplatz 2018, wo schlechterdings «Privilegien für alle!» gefordert wurde. Es ist einer der Filme, in denen grosse Worte gelassen ausgesprochen werden. Alecs Recher beispielweise, früherer AL-Gemeinderat in Zürich, vergleicht die behauptete Unmöglichkeit eines nichtbinären Geschlechtseintrages oder noch einfacher, der grundsätzlichen Unterlassung einer solchen Zuschreibung mit dem ehemals für unerlässlich gehaltenen, aber längst abgeschafften amtlichen Vermerk einer Religionszugehörigkeit. «Der Geschlechtseintrag sagt nur aus, wie die Genitalien einer Person bei der Geburt ausgesehen haben, mehr nicht.» 

Tradition

Vordergründig geht es auf den Azoren stockkatholisch zu und her, was nicht ausschliesst, dass sich heidnische Bräuche erhalten haben, wie dass die Nabelschnur von neugeborenen Mädchen auf dem Küchenfeuer verbrannt wird, damit diese auch ja eine direkte Verbindung zu ihrer künftigen Wirkungsstätte erhielten. In Claudia Varejãos «Lobo e Cão» spielt die wirtschaftliche Misere und das sich Wegträumen der Jugend eine ebenfalls nicht unerhebliche Begleitrolle. Im Zentrum stehen die jugendlichen Personen Ana (Ana Cabral) und Luis (Ruben Pimenta) und wie sie ihre Identität und sexuelle Ausrichtung zu finden im Begriff sind. Die Linse der Kamera zielt immer absichtlich knapp neben der inhaltlichen Handlung vorbei. So hören Ana und ihre neue grosse Liebe Chloé (Christiana Branquinho), die nach den Ferien zurück nach Kanada fliegen muss, Anas gestrenge Mutter sagen, «dem Herzen kann man halt nichts verbieten», was sich aber auf ihre vorerst nochmals neu auszurichtende Absicht einer arrangierten Hochzeit für Ana bezieht und keineswegs umfassend gilt.

Noch jünger sind die Protagonist:innen, die Joseph Amenta in «Soft» durch Toronto begleitet. Das ungleiche Trio aus Otis (Harlow Joy), Tony (Zion Matheson) und Julian (Matteus Lunot) wäre sich am liebsten selbst Wahlfamilie genug, wenngleich ihr kindliches Alter einer Selbstbestimmung zuwiderläuft. Die queeren Kids stehen auch für drei familiäre Hintergründe: Tony erfährt mütterliche Unterstützung, Otis traut sich gegenüber dem alleinerziehenden und überforderten Vater nicht zu outen, Julian wurde von der Mutter verstossen und fand bei der trans Person Dawn (Miyoko Anderson) vorübergehend Unterschlupf. Via deren Schicksal erfährt die trotz allem hauptsächlich ermächtigend wirkende Erzählung auch eine ihre aller Zukunft betreffende, sozial bedrohliche Komponente mit einem leider realen Kern: Dawn lebt wirtschaftlich sehr prekär, ist vom Wohlwollen vieler, etwa des Vermieters abhängig und findet ausser in der Prostitution keine Arbeit, was sie zusätzlichen Gefahren aussetzt. Die Hoffnung, für die drei Kinder möge es künftig einfacher werden, sich selbst zu sein, steht auf tönernen Füssen.

Verbot

Privatsphäre kennt Bambino (Tope Dedela) keine. In seiner Klause in Lagos lebt er quasi unter permanenter öffentlicher Aufsicht. Als der Fotograf Bawa (Riyo David) einen Copyshop in der Strasse eröffnet, entwickelt sich zwischen den zwei Männern ein Band, das mehr als Freundschaft meint. Nur, wie wird sich ein Mann wie Bambino seiner Gefühle sicher werden können, wenn in Nigeria Homosexualität illegal und gesellschaftlich geächtet ist? Babátúndé Apalowo findet in «All the colours of the world are between black and white» ungemein zarte Bilder für überraschend aufkeimende romantische Gefühle, die sich im Widerspruch zu den aufsässigen Avancen der Nachbarin Ifeyinwa (Martha Ehinome Orhiere) überhaupt erst als bemerkbar durchsetzen müssen. Apalowo inszeniert Szenen des sich heimlich Nahefühlens bei Abwesenheit des anderen, die Romantik als Tragödie erscheinen lassen. Zuletzt blitzt ein Hoffnungsschimmer auf, aber die Aussenrealität ist in diesem einen, intimen Augenblick auch ausgesperrt.

Regelrecht symbolisch gewaltsam zeigt sich das Festklammern an einer nicht erreichbaren Norm in Kamil Krawczyckis «Elefant». Die tendenziell alkoholkranke Mutter (Ewa Skibinska) verbittet sich, dass darüber geredet wird, wieso ihr Mann sie verlassen hat und auch was der Hintergrund sein könnte, dass ihre hochschwangere Tochter Danuta (Ewa Kolasinska) unvermittelt wieder vor der Tür steht. Der Film ist ausseror­dentlich bitter darin, dass nicht bloss schwule Männer wie der Sohn Bartek (Jan Hrynkiewicz), der seine Gefühle für den im Dorfleben als Gefahr und Verbrecher denunzierten Dawid (Pawel Tomaszewski) entdeckt, ihr Innenleben gefälligst um jeden Preis zu unterdrücken haben. Der Kirchgang ist sakrosankt und die dort vermittelte Interpretation für Leiden ist unbedingt zu verinnerlichen. Es wundert kaum, dass in einem solch schraubstockhaften Unglück niemandem sonst eine Erfüllung gegönnt werden kann, schon gar nicht ausserhalb der Norm. Dass hier über kurz oder lang niemand totgeschlagen wird, ist allein durch die Flucht der sich liebenden Männer erklärbar.

Als serbischer Migrant im Süden Australiens ist Kol (Elias Anton) die gesellschaftliche Marginalisierung nicht unbekannt. Er hat das sich Ducken prima verinnerlicht und selbst seine Tanzsportpartnerin Ebony (Hattie Hook), zu der er wie ein Freund hält, behandelt ihn bei Licht betrachtet herablassend. Im männlichkeitsfixierten Familienclan ist er genauso ein Aussenseiter, aber weil auch Stipendien ertanzt werden können, wird ihm die Marotte durchgelassen. In «Of an age» von Goran Stoleveski hat sich Ebony in der Nacht vor dem grossen Wettbewerb bewusstlos gesoffen und gekokst. Sie weiss nicht, wo sie ist, aber Kol soll sie gefälligst schleunigst abholen. Einen Fahrer dafür findet Kol allein in Ebonys Bruder Adam (Thom Green), der am Folgemorgen für sein Doktorat ans andere Ende der Welt reisen wird und vergleichsweise offen schwul lebt. Eine ganz kurze, dafür lang anhaltende Liebesgeschichte beginnt, pausiert für mehr als ein Jahrzehnt, und als sie sich an Ebonys Hochzeit wiedertreffen, erstarren sie in Tränen der Wehmut über das Unvermögen, diese Liebe auch zu leben.

Selbstironie

Glücklicherweise kennen selbst hartnäckige Klischees eine Halbwertszeit. Der Do-it-yourself-Eröffnungsfilm «La amiga de mi amiga» von Zaida Carmona entkräftet langjährige Vorurteile gegenüber Lesben und Sex und mehrere weitere Filme lassen die Vermutung zu, ebendiese gegenüber Schwulen und Sex hätten sich reziprok in ihr jeweiliges Gegenteil verkehrt. Der spöttische Lesbenwitz ging lange so: Was bringt sie zum zweiten Date mit? Den Zügelwagen. Der Schwulenwitz: Was bringt er zum zweiten Date mit? Welches zweite Date? «La amiga de mi amiga» zeigt – gemäss einer nichtrepräsentativen Spontanumfrage unter jungen Lesben eine auch in Zürich aktuell zutreffende – Veränderung der Realitäten. Im Film ist es Barcelona und die darin vermittelte Freizügigkeit und Spontaneität für Gelegenheitsbekanntschaften unter jungen Frauen, wirkt regelrecht erfrischend. Natürlich vor dem Hintergrund einer verschmähten Liebe und einer inbrünstig ersehnten, tendenziell traditionellen Partnerschaft. Aber der grosse Schritt in Richtung Hedonismus aus einer Lesbenperspektive ist doch verblüffend und irgendwie auch ein Signal für ein allgemein gesteigertes Selbstbewusstsein. Während die Kerle dazu tendieren, beim anderen – und seis bloss für eine Woche – gleich einzuziehen.

Noch einen Schritt weiter geht die eigentliche Satire «Bodies Bodies Bodies» von Halina Reijn. Im Storytelling wie ein Horrorfilm (ohne Schrecken) angelegt, strotzen die Dialoge zwischen den anwesenden Twens regelrecht vor Zeitgeistironie. Abgeschieden vom Digitalen – es blitzt und donnert rund ums Herrschaftshaus – agieren sie grossmehrheitlich immer noch like-getrieben. Ein Wettbewerb der Dramatik der eigenen Opferrolle folgt auf die gekünstelte Wohlstandsverharmlosung des Elternhauses, folgt auf die gegen jedes Handeln behauptete Vernunftbegabung, folgt auf den Rückzugsreflex unter Mutters Rockzipfel usw. Der Film ist gewöhnungsbedürftig schrill, aufgekratzt und hektisch und absichtlich bar jedes wünschbaren Realitätsbezuges erzählt. Doch zwischen den Zeilen blitzt das gekonnte Spiel der satirischen Überhöhung der peer-eigenen Gruppendynamik und Verhaltensmuster hervor, dass sich der Film als nicht ernstzunehmend selbst verballhornt, dass daraus eine ätzende Komik erwächst.

Die dafür notwendige Distanz respektive eine mit Selbstsicherheit gepaarte Versöhnung mit dem eigenen Vergangenen ergo dem Istzustand muss Feña (Lio Mehiel) sich in Vuk Lungulov-Klotz’ Film «Mutt» erst noch erarbeiten. Im Laufe der Transition hat er sämtliche sozialen Brücken abgebrochen – und verdrängt. Jetzt wird er erst von der kleinen Schwester Zoe (Mimi Ryder) um Hilfe gebeten, begegnet dem Ex John (Cole Doman) in einer sich einschlägig entwickelnden Ausnahmesituation und hat zuletzt den Besuch des Vaters Pablo (Alejandro Goic) hinter sich zu bringen, ohne dabei den Kopf zu verlieren. Das emotionale und verbale wild um sich Schlagen führt Feña statt in die Befreiung nur tiefer in eine Einbahnstrasse der Selbstisolation. Erst der Schuss vor den Bug durch John bringt Feña zum innehalten: «Niemand hasst dich, weil du trans bist, sondern weil du dich wie ein Arsch verhältst.» Letztlich tauchen deutliche Anzeichen für eine Versöhnung mit sich selbst auf. Bis zur Selbstironie kann es nicht mehr weit sein.

Situation

April (Nell Barlow) ist 17 und will endlich AJ genannt werden, vor allem aber nicht mehr mit der Familie in die Ferien fahren. Die Mutter Tina (Jo Hartley) hat sich den Camperurlaub für alle vom Mund abgespart, die kleine Schwester Dayna (Tabitha Byron) nervt gewaltig und die grössere, hochschwangere Lucy (Sophia Di Martina) verhält sich wie die Prinzessin auf der Erbse. Denkt sich AJ, die mit ihrer demonstrativen Leckt-mich-Attitüde alle vor den Kopf stösst. Auch ihre neue Bekannte, die sichtlich intensiver an ihr interessierte Rettungsschwimmerin Isla (Ella-Rae Smith). AJ hat sich dermassen in ihrem Hass auf alles und jede:n festgesessen, dass sie kaum aus eigener Kraft wieder hinausfindet. Ihr Schwager Steve (Samuel Anderson) mit seiner Engelsgeduld und einem ausgesprochenen Faible dafür, nicht das Falsche zu sagen, und die Beherztheit von Islas Annäherungen vermögen sie ihren Blickwinkel zu verändern und aufzuhellen.

Vergleichbar angepisst ist Ren (Carmen Madonia) ebenfalls während eines Familienurlaubs wider Willen. Die Familie akzeptiert ihr trans-Sein, ist aber diaspora-italienisch übergriffig behütend mit der Tendenz zum Drama alias der emotionalen Erpressung. Dankbarkeit, you know? Doch Ren wäre am liebsten gar nicht hier. Schon gar nicht in einer Anlage voller lauter ländlich-rückständiger Prolls, deren männlichen Zeitgenossen sie wenn überhaupt als erotische Trophäe oder dann direkt aggressiv-feindselig angehen. Ferien können eine regelrechte Plage sein, das fängt Luis de Filippis mit «Something you said last night» gekonnt ein, aber die grosse Langeweile der gesamten Szenerie färbt eben auch ab. Langeweile ist etwas, wozu Joanna (Nikki Hanseblad) in Christoffer Sandlers «So damn easy going» überhaupt gar keinen Zugang hat. Ihr depressiver Vater (Shanti Roney) bringt gar nichts auf die Reihe, ausser Fernsehen. Also ist auch die Haushaltskasse leer und weil bereits zwei zurückliegende Rechnungen beim Apotheker ungedeckt blieben, kann Joanna ihr Ritalin-Rezept nicht einlösen. ADHS unter Starkstrom. Bei ihrem Gelegenheitslover Matheus (Emil Alpgeus) kann sie sich gegen einen Fick wenigstens ins Koma saufen. Aber auf Dauer ist das keine Lösung und er eigentlich sowieso ein Arsch. Joannas Situation verschärft sich, als mit Audrey (Melina Paukkonen) eine neue Mitschülerin aufschlägt, der sie sogleich verfällt. Ihr versuchtes, kontrolliertes Verhalten, um sie zu beeindrucken, führt schnurstracks ins jeweilige Gegenteil. Sie agiert wie ein regelrechter Freak. Und die Umstände arbeiten gegen sie, die Geld beschafft, dann aber die Stromrechnung begleichen muss. Erst das öffentliche Bekenntnis zu ihrer Krankheit vor Audrey entspannt die Lage, weil das zwanghafte Verstecken der eigenen Hibbeligkeit wegfällt und so auch in Audrey das ursprüngliche Interesse für Joanna wieder aufflammen kann.

Sounds

Das Do-it-yourself-Filmtagebuch «Hummingbirds» von Silvia del Carmen Castaños und Estefanía «Beba» Contreras zeigt zwei beste Freundinnen in Sichtweite zur mexikanischen Grenze im Süden der USA, die um ihren Aufenthaltsstatus zittern und sich politisch agitatorisch für das Recht auf Abtreibung einsetzen, die sie aus eigenem Erleben kennen. Sie sind kein Paar und auch ihre Selbstidentifikation in Sachen Sex wie Gender sind überhaupt kein Thema im Film, was eine Vertrauensperson recht schwärmerisch als «post-queer cinema» betitelte, was aber den Schreibenden auf dem falschen Fuss erwischte. Noch bevor der augenscheinliche, eigene Irrweg einer eingehenderen Prüfung eventuell gar Berichtigung hätte unterzogen werden können, stand bereits der nächste Film auf dem Programm. Unterdessen ist die darin verhandelte sehr weitreichende Auslegung von queer schon als schlüssiger wahrgenommen, aber die Projektion schon um die Ecke. Was zurückbleibt, ist ein kämpferisch anmutender Sound eines Lebensgefühls.

Auch der Sound der Beiruter Trash-Metal-Frauenband «Slaves to Sirens», der Rita Baghdadi ein Filmportrait widmet, ist überhaupt nicht des Verfassers Baustelle, aber die Lebenssituation in ihrem dysfunktionalen Staat ist durch frühere Filme und journalistische Reportagen soweit erahnbar, dass ihre spezifische Situation als junge Lesben sich als ausreichend verschieden von jener der allgemeinen unterscheidbar macht. Vieles im Film ist Banddynamik, aber noch deutlicher in den Vordergrund tritt die ohnmächtige Wut, gepaart mit dem Begehren, nicht in Angst leben zu wollen. Was ihren Schreisound jenseits einer Geschmacksfrage wiederum erklärlich macht. Die Langzeitbeobachtung beginnt noch vor der Explosion des Ammoniumnitrats im Beiruter Hafen und der aktuelle Stand der Bandzusammensetzung sowie ihrer Möglichkeiten, den Konzerteinladungen im Ausland überhaupt nachkommen zu können, steht mit grosser Vehemenz infrage. Die Heftigkeit der geballten Mehrfachherausforderung für diese jungen Frauen wirkt nach.

Regelbruch

Schon als Teenager begann das ungleiche Duo Amy Ray aus konservativem Haus und Emily Saliers mit progressiven Eltern gemeinsam Musik zu machen. 1989 glückte ihnen als «Indigo Girls» mit dem Hit «Closer to fine» und einem Grammy der Durchbruch in den Mainstream des US-amerikanischen Folk-Rock. Trotz ihrer dezidiert lesbischen, feministischen Texte. Die Anfeindungen, sagt Amy Ray gegenüber der Regisseurin Alexandria Bambach in ihrem energetisch aufladenden Schnipselfilm «It’s only life after all», seien stets genauso sexistisch wie homophob begründet gewesen. Auf der Fan-Seite ist hingegen häufig die Aussage zu hören, dass die «Indigo Girls» jemandes Leben gerettet haben, weil ihre Texte und Auftritte die eigene Selbstermächtigung befeuerten. Dass die zwei nie ein Liebespaar waren, sorgte in etlichen Talkshows für Unverständnis, was Bände spricht. Der Film lässt die Tiefen wie Emilys späteres Alkoholproblem nicht aus und gehört mit zu den Lebenszeugnissen in diesem PinkApple-Jahrgang, in denen gemeisselt gehörende Sinnsätze zu hören sind. Hinsichtlich einer Kindererziehung sagt die Co-Mutter Emily Saliers frei übersetzt, man könne einer kindlichen Persönlichkeit vielleicht beibringen, sich sozial freundlich zu zugewandt zu verhalten, ansonsten solle man ihr indes möglichst wenig Hindernisse in den Weg stellen, um sich zu einer eigenständigen Persönlichkeit alias sich selber zu entwickeln.

Die US-amerikanische Rassensegretation und die durchschlagende Übermacht der Musikindustrie schufen das Narrativ, dass mit dem Label «King of Rock’n’Roll» heute Elvis Presley assoziiert wird, wohingegen wahren Connaisseurs und den Musiker:innen ab den 1950er-Jahren sonnenklar war, dass diese Ehre allein dem Schwarzen Südstaatler Richard Wayne Penniman alias Little Richard (1939 – 2020) zusteht. Das Filmportrait von Lisa Cortés unternimmt eine posthume Rehabilitierung eines musikalischen Genies und Vorreiters für Queerness, die ein an Bitterkeit reiches Leben zeichnet. Eine Stimme im Film spricht davon, dass hier nicht «Aneignung» sondern «Diebstahl» der zutreffende Begriff ist, um darzustellen, wie Little Richards Hits weissen Musiker:innen die Kassen füllten und sie ins Startum katapultierten. An anderer Stelle heisst es: Er war brillant darin, die gesellschaftliche Liberalisierung (alias Befreiung) für andere voranzutreiben, aber zeitgleich unfähig war, dasselbe für sich selbst zu tun. Der erotisch konnotierte Hüftschwung eines Elvis, die genderfluide Queerness des frühen David Bowie und selbst der damals provokante Griff in den Schritt einer Madonna, ist   ohne den frühen Vorreiter undenkbar. Er foutierte sich in seinen Bühnenshows um sämtliche Konventionen und Verbote, seine überwältigende Präsenz brachte ihm den Beinamen «the living flame» ein. So elektrisierend sein öffentliches Wirken noch heute ist und so beeindruckend die lange Liste von Superstars, die sich als Inspiration auf ihn berufen, so wenig ist über die Privatperson offensichtlich bekannt. In den späten 1960er-Jahren schwor er seiner Homosexualität ab und wandte sich Gott zu, verschwand beinahe von der Bildfläche, um zehn Jahre später den Musikstil Funk zu etablieren. Die Würdigung der mächtigen Unterhaltungsindustrie liess auf sich warten. Zwar war er einer der ersten, der 1986 in die Rock’n’Roll-Hall-of-Fame aufgenommen wurde, aber erst 1993 wurde ihm der Grammy für sein Lebenswerk verliehen. Das bittere Fazit: «The system didn’t like it.»

Exil

Nach Dokumentarfilmen über Homosexualität im Berlin der ehemaligen DDR und einem Portrait der Szene bis zum Mauerfall in Westberlin liefert Jochen Hick mit «Queer Exile Berlin» jetzt einen Film über die heutige öffentliche Szene prägenden trans-, non-binären und queeren Personen, die sich von Syrien, Haiti, Russland nach Berlin ins Exil gerettet haben. Nach dem Portraitteil etwa von Hardor alias The Darvish oder dem Berliner Urgestein Michael Gosewitsch alias Gloria Viagra zerfleddert der Fokus leider völlig. Eine nicht durchgängig glücklich verlaufende Transition in Spanien, zivilgesellschaftliches Aufbegehren in mehreren Ländern Osteuropas und pöbelnde Secondos am Spreeufer zur frühen Morgenstunde sind alles auch wichtige Facetten, aber lassen auch einen klaren Fokus deutlich vermissen.

Was im Berlin der Zwischenkriegsjahre passierte, galt im gesellschaftlich insgesamt offenbar weit offeneren Schweden als Gradmesser dafür, wie weit die dortige Filmindustrie die Toleranz bezüglich sexueller Diversität ihres Publikums strapazieren konnte. «Prejudice and Pride» von Eva Beling ist das Resultat einer historischen Forschungsarbeit und fördert zutage, dass das Land auf eine Tradition von queerem Film zurückblickt, beinahe so alt wie das Medium Film an sich. Superstars wie Greta Garbo wurden als Drag berühmt und das Lesbischsein wurde erst in Hollywood problematisiert. Vergleichbar erging es dem heute nicht mehr so klangvollen Nils Asther. Eva Beling untersucht auch, mit welch einschlägigen Gesten und szenischen Anspielungen seit der Stummfilmzeit die Queerness im Film bis in Werke des Nationalheiligtums Ingmar Bergman Einzug fand. «Man muss schon blind sein, um das nicht zu sehen», fasst sie die einschlägigen Codes der damaligen Zeit zusammen.

Karim (Fahd Larhzaoui) weigert sich in Shariff Nasrs Spielfilm «El Houb», sich als Secondo marokkanischer Einwanderer in die Niederlande weiterhin von den traditionellen Vorstellungen eines guten Sohnes von einem selbstbestimmten Leben als schwuler Mann drangsalieren zu lassen. Er konfrontiert seine Eltern Fatima (Loubna Azabal) und Abbas (Slimane Dazi) in einer kindlich-trotzigen, regelrecht erpresserischen Weise. Denn diese wollen von diesem Thema einfach nichts hören. Also schliesst er sich, wie bereits als Junge, in die Kammer (Sinnbild für «the closet») unter der Treppe, stellt das dortige WiFi, das Wasser und zuletzt den Strom ab, nur damit überhaupt eine Unterredung zustande kommen kann. Die Handlung ist etwas gar reissbretthaft, was nicht heisst, dass sie inhaltlich nicht einen Nagel auf den Kopf trifft. Was die in der Tradition verhaftete Community wohl sagen und wie sich ihr eigenes Ansehen als gute Eltern wohl darunter leiden würde, sind elternseits die eigentlichen Sorgen.

Unbehagen

Gergo und Lenard sind ungarische Roma und ein Liebespaar, deren Weg Kata Oláh mit «Narrow path to happiness» eine Zeit lang begleitet. Das Portrait dieses ungleichen Paares, indem hauptsächlich Gergo über ein ausgesprochenes Sendungsbewusstsein verfügt und das offenbar gemeinsam trotz aller Widerstände und auch dem eigenen Unvermögen davon träumt, einen Musicalfilm über sein eigenes Leben zu drehen und damit reich und berühmt zu werden, ist beim Zusehen nicht komplett frei von einem Unbehagen. Ähnliches geschieht bei «Polish Prayers» von Hanka Nobis. Anfänglich portraitiert sie mit Antek den Kopf einer katholisch-nationalistischen Bruderschaft in Polen, der medienwirksam gegen das Vorhandensein und die an Pride-Paraden sichtbar werdenden Emanzipationsbestrebungen von queeren Lebensweisen anbetet und -eifert. Jahre später trifft sie ihn auf der gegenüberliegenden Seite der Demonstrierenden wieder und folgt verblüfft einer Saulus-zu-Paulus-Werdung. In beiden Fällen stellt sich die Frage, inwieweit die Filmerinnen ihre Protagonisten reflektieren und inwieweit sie verantwortlich wären, deren augenscheinlich gesteigertes Sendungsbewusstsein (journalistisch-ethisch) zu kanalisieren. Worauf selbstredend die Frage folgt, inwiefern es einem Schreiber zusteht, eine Reflektiertheit von anderen überhaupt infrage stellen zu dürfen. Streit in Anführungsstrichen gab es in den Filmpausen auch bezüglich «Eismayer», der Spielfilmadaption von David Wagner der realen Liebesgeschichte zwischen dem Vizeleutnant des österreichischen Bundesheers Charles Eismayer (Gerhard Liebmann) und dessen Rekrut Mario Falak (Luka Dimic). Die realen Personen sollen mit dem Film und dem Regisseur erfolgreich durch Österreich getourt sein und sind mit der Art ihrer Darstellung offenbar zufrieden. Der persönliche Eindruck tendiert indes schwer in Richtung, die Figuren würden in ihrer holzschnittartigen Zeichnung regelrecht vorgeführt. Nur weil die militärische Hierarchie Personen zu Masken zu degradieren beabsichtigt, spricht dies noch nicht dagegen, in einer künstlerischen Adaption exakt das Individuelle hinter den Masken zugunsten einer Glaubwürdigkeit herauszuarbeiten. Beim Zuschauen hielt ich das Ganze für eine einzige Farce.

Verrenken

Nach dem sagenhaften Do-it-yourself-Punk-Widerstandsrausch «Rebel Dykes» von Harri Shanahan und Siân A. Williams im letzten Jahr nimmt jetzt Georgia Oakley mit «Blue Jean» die von Margaret Thatcher eingeführte «Clause 28», die das Thematisieren von Homosexualität in Grossbritannien bis 2003 unter dem Deckmantel des Kinderschutzes als sexualisierte Propaganda verbot, zum Anlass, die damit einhergehenden Schwierigkeiten zu thematisieren. Ihre Hauptfigur ist die junge Sportlehrerin Jean (Rosie McEwen), die in konstanter Furcht lebt, ihre Existenz zu verlieren. Weshalb sie ihr Privat- und Liebesleben mit Viv (Kerry Hayes) räumlich auf grosse Distanz zu ihrem Arbeitsort hält. Als die neue Schülerin Lois (Lucy Halliday) auf den Plan tritt und um ihr Lesbischsein kaum Aufhebens macht, dafür aber heftig gemobbt und zuletzt als gefährliche Aggressorin von der Schule verwiesen wird, steht Jean mit dem Rücken zur Wand. Ihre eigene Furcht paralysiert und sie sieht sich ausserstande helfend einzugreifen. Ihre Reue und Einsicht kommen zu spät.

Von Mobbing in der belgischen Jugendstrafanstalt ist in Zeno Gratons «Le Paradis» eigenartigerweise keine Rede. Zeno fokussiert auf die sich entwickelnde Liebesgeschichte zwischen Joe (Khalil Ben Gardia) und William (Julien de Saint Jean), die mehr die Schwierigkeiten der eigenen Bewusstwerdung erzählt und die Anstaltsleitung wie auch die juvenilen Mitgefangenen als vergleichsweise uninteressiert an einer alternativen sexuellen Ausrichtung zeichnet. 

Genauso in «Arrête avec tes mensonges» von Olivier Peyon, worin der gefeierte, offen schwule Literat Stéphane Belcourt (Guillaume de Tonquédec, als Jüngling: Jéremy Gillet) nach Jahrzehnten zur Jubiläumsfeier des grössten Arbeitgebers in sein Heimatdorf zu einer Lesung eingeladen wird. Dort trifft er mit Lucas Andrieu (Victor Belmondo) den Sohn seiner Jugendliebe Thomas (Julien de Saint Jean) wieder, der seit dem väterlichen Suizid auf der Suche nach dessen Lebensgeheimnis ist. Die Erkenntnis eines grossen Missverständnisses und eines lebenslangen Leidens an einer unmöglich zu lebenden Liebe kommt auch hier zu spät, geht aber – leicht kitschig – ans Herz. 

«My Policeman» von Michael Grandage beruht auf dem gleichnamigen Roman von Bethan Roberts und erzählt von der unterdrückten Liebe von Tom Burgess (Harry Styles, im Alter: Linus Roach) zu Patrick Hazelwood (David Daswon, im Alter: Rupert Everett), deren Durchtreibung durch Toms Gattin Marion (Emma Corrin, im Alter: Gina McKee) von dieser genauso lange verheimlicht wurde und erst ans Tageslicht gelangt, als sie nach Jahrzehnten ihre Koffer packt. Ob der Fokus auf die Frauenfigur nicht den interessanteren Film ergeben hätte, steht im Raum. Ebenso die letzlich vernichtende Fragestellung das unterste Ende der Skala von Filmen am diesjährigen PinkApple betreffend, die neben weiteren Spielfilmen halt auch projiziert wurden, obschon sie an klischierter Oberflächlichkeit nur schwer zu überbieten wären, die da lautet: Ob es dem Film geholfen hätte, wenn die Darsteller wenigstens grosse Schwänze … 

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.