Prinzip Hoffnung? Demokratie!

Die Stadtzürcher Stimmberechtigten haben die Volksinitiative «Eine Europaallee genügt – jetzt SBB-Areal Neugasse kaufen» mit 50,3 Prozent Ja-Stimmen gutgeheissen. Der Stadtrat lehnte die Initiative ab, weil sie nicht umsetzbar sei. Wie es nun weitergeht, ist offen.

Doch warum genau soll die Initiative nicht umsetzbar sein? Im Abstimmungsbüchlein ist nachzulesen, die SBB hätten gegenüber dem Stadtrat klar festgehalten, dass für sie weder ein Verkauf noch eine umfängliche Abgabe des Areals im Baurecht infrage käme. Areale wie die Neugasse hätten «langfristig im Eigentum der SBB zu verbleiben». Soweit, so klar, nur: Land, das im Baurecht abgegeben wird, verbleibt im Eigentum desjenigen, der es besitzt – beziehungsweise es fällt nach beispielsweise 60 Jahren an diesen zurück. Und das notabene, nachdem er 60 Jahre lang Baurechtszinsen dafür erhalten hat… Zumindest eine Baurechtslösung für das ganze Areal müsste also gemäss dieser Argumentationslogik möglich sein. Verkaufen wollen die SBB nicht – doch 80 Prozent ihres Areals an der Neugasse befinden sich in der Industriezone. Auch bei einem Nein zur Initiative hätten die SBB ihr Wohnbauprojekt deshalb nicht einfach verwirklichen können, sondern der Gemeinderat hätte erst einer Umzonung sowie dem Gestaltungsplan zustimmen müssen. Dass diese Ausmarchung im Sinne der SBB ausgegangen wäre, ist alles andere als sicher.

 

Warum also hat der Stadtrat nicht erst die Grundsatzfrage geklärt, zu welchen Bedingungen er die nötige Umzonung zu gewähren bereit ist? Warum liess er die SBB munter drauflos planen, als hätten sie diese auf sicher? Im Interview im P.S. vom 9. September beantwortete Hochbauvorsteher André Odermatt diese Frage so: «Hätten wir den SBB erklärt, sie bekämen die Umzonung nur gegen 100 Prozent gemeinnützige Wohnungen, wären sie gar nicht in die Verhandlungen und die Planung eingestiegen.» Ach, die wollen gar nicht ernsthaft bauen, beziehhungsweise nur dann, wenn sie ungestört Rendite bolzen können? Je nu, dann bauen sie eben nicht… Doch so locker kann es die Stadt natürlich nicht nehmen: Sie muss das Ziel eines Drittels gemeinnütziger Wohnungen bis 2050 erreichen, das die Stimmberechtigten 2011 mit einem Ja-Stimmenanteil von 76 Prozent gutgeheissen haben.

 

Nicht nur die SBB wollen also an der Neugasse etwas von der Stadt, nämlich die Umzonung, sondern die Stadt will auch etwas von den SBB, nämlich gemeinnützigen Wohnraum, weshalb sich die beiden Parteien an den Verhandlungstisch gesetzt haben. Stadtrat André Odermatt sprach im oben erwähnten Interview von einem «vorbildlichen Vertrag», der dabei herausgekommen sei. Sind die InitiantInnen – und die 50,3 Prozent der Abstimmenden, die Ja gesagt haben zur Neugasse-Initiative –, somit allesamt den «Maximalforderungen» und dem «Prinzip Hoffnung» von AL, SP und Grünen aufgesessen? Haben sie mit ihrer «Symbolpolitik» «dringend benötigten günstigen Wohnraum in der Stadt Zürich verhindert», wie der ‹Tagi› vom Montag schrieb? Zeigt gar eine «linke Mikropartei der SVP, wie Populismus geht», wie die NZZ festhielt? Oder geht es ganz banal darum, wer am längeren Hebel ist: Die SBB, die ohne Stadt gar nicht bauen können? Oder die Stadt, die zwar für die Umzonung sorgen und somit bauen könnte, der aber das Land nicht mehr gehört?

 

Die Stadt muss für gemeinnützigen und preisgünstigen Wohnraum sorgen, soviel steht fest. Aber sie muss deswegen nicht alles tun, was ein potenzieller Investor fordert – auch dann nicht, wenn dieser Investor SBB heisst und dem Bund gehört, also uns allen. In der Medienmitteilung des Initiativkomitees vom Sonntag heisst es, «die InitiantInnen erwarten jetzt vom Stadtrat, dass er der SBB ein konkretes Angebot für einen Kauf oder eine weitergehende Übernahme im Baurecht, allenfalls im Verbund mit interessierten Baugenossenschaften, unterbreitet. Angesichts des Volks-Ja und speziell der Tatsache, dass 18 000 m2 – zwei Drittel des Areals – bis zur Enteignung 1925 der Stadt gehörten, die das Land gezielt für Wohnungsbau erworben hatte, kann die SBB jetzt nicht, wie angedroht, die Tür zuschlagen und den Hinterausgang nehmen.»

 

Ja, der Stadtrat schnauft schwer unter dem Joch des Drittelsziels. Aber er erreicht es nicht schneller, wenn er Umzonungen befürwortet für Projekte, die nicht 100 Prozent gemeinnützige Wohnungen vorsehen. Und wenn er dadurch InvestorInnen ‹vergrault›, wie es die Bürgerlichen befürchten, dann entstehen zwar tatsächlich keine Wohnungen – aber eben auch keine Wohnungen, die den Anteil der Gemeinnützigen schrumpfen lassen. Das aber ist bekanntlich der Fall, wenn ständig mehr Wohnungen mit Marktmiete gebaut werden als gemeinnützige. Ja mehr noch: Die Privaten haben in den letzten Jahren so viel Nicht-Gemeinnütziges gebaut (das womöglich auch noch fossil beheizt wird…), dass die Stadt wohl noch am ehesten zu preisgünstigem Wohnraum kommt, wenn es ihr gelingt, möglichst viele Private dazu zu bringen, sich zumindest mit einer kleineren Rendite als der maximal möglichen zufrieden zu geben. 

 

Sind also Umzonungen zugunsten von Wohnraum zu Marktmieten angesichts des Drittelsziels und des Artikels 17 der Gemeindeordnung, der unter anderem die Erhöhung des Anteils von preisgünstigen Wohnungen beinhaltet, überhaupt noch politisch erwünscht? Klar, man kann den Privaten nach wie vor nicht vorschreiben, was sie bauen sollen, und bis vor Kurzem konnte man noch nicht mal einfordern, dass sie in ihre neuen Häuser wenigstens keine fossilen Heizungen mehr einbauen sollten. Aber eine (wenn auch knappe) Mehrheit der Stimmberechtigten hat am Sonntag die Neugasse-Volksinitiative angenommen, und diesen 50,3 Prozent der Abstimmenden nun vorzuwerfen, sie würden künftige potenzielle Investoren vergraulen – echt jetzt: Das kann es nicht sein! Sollen die InvestorInnen nur endlich mitbekommen, dass es in Zürich viele Menschen gibt, die weder 3500 noch 4500 Franken Miete pro Monat zahlen können – und das nicht etwa, weil die faulen Säcke nur Teilzeit arbeiten, liebe FDP! Die Stadt gehört nicht nur den Reichen, und sie gehört auch nicht nur jenen, die ‹arm› genug sind für eine städtische Wohnung. Für jene dazwischen wäre der «preisgünstige» Teil des Neugasse-Projekts der SBB tatsächlich etwas gewesen, wenn auch nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Aber sich diesen Tropfen mit weiteren Marktmiete-Wohnungen erkaufen, und das unweit der Europaallee? Das muss nicht sein, sagte sich die Mehrheit. Und das ist ihr gutes Recht: Auch ein als «sehr gut» angepriesenes Projekt darf man ablehnen – und die Kosten dafür tragen. Das nennt sich Demokratie.

 

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