Pragmatisches Kalkül und Hoffnung auf gute Nachrichten

Seit einem Jahr fährt Sasha Volkov Pick-Ups voller PC-Bildschirme nach Kiew und unterstützt geflüchtete UkrainerInnen in der Schweiz. Im Gespräch mit Tim Haag schildert der schweizerisch-ukrainische Doppelbürger die Situation der Kriegsflüchtlinge, die Stimmungslage derjenigen, die in der Ukraine blieben und die Rolle, die die Schweiz für das Schicksal dieser Gruppen spielt.

Herr Volkov, Sie sind seit Kriegsbeginn drei Mal in die Ukraine gereist. Wie muss man sich eine solche Reise vorstellen?

Sasha Volkov: Weniger abenteuerlich als sie im ersten Moment klingen mag. Ich kaufe jeweils einen günstigen Pick-Up und fahre damit über Deutschland, Tschechien und Polen nach Kiew. Dort übergebe ich das Auto und anderes Material – das letzte Mal waren es hundert gebrauchte PC-Bildschirme, gespendet von der Swisscom – an Freiwilligenorganisationen. Diese verteilen die Bildschirme an von russischen Soldaten geplünderte Schulen, die Autos werden an der Front gebraucht, um verwundete Soldaten von der Front zu evakuieren. Und dann besuche ich meine Eltern, die in der Nähe von Kiew wohnen. 

Sind diese Unternehmungen nicht gefährlich?

Naja, es kann sein, dass man während er langen Fahrt am Steuer einschläft (lacht). Natürlich kann man Pech haben, aber das nimmt man in Kauf. Solange man nicht in der Nähe von kritischer Infrastruktur ist, sind die Chancen, in einen tödlichen Autounfall verwickelt zu werden, sicher grösser als die Gefahr, von einer Rakete oder einer abgeschossenen Drohne getroffen zu werden. Ausserdem gibt es gut funktionierende Luftalarm-Apps, die vor Angriffen warnen. 

Wie reagieren die UkrainerInnen nach einem Jahr Krieg, wenn wieder der Luftalarm ertönt?

Die Menschen haben einen Fatalismus oder pragmatisches Kalkül entwickelt. Viele ignorieren die Warnungen mittlerweile. Die Gefahr, dass eine der Kinzhal-Raketen, die zum Beispiel von Kampfjets in Belarus abgefeuert werden, einen treffen, ist einfach zu klein. Ich will damit die Zerstörung, die russische Bomben und Raketen angerichtet haben, aber nicht kleinreden: Beispielsweise von der Stadt Slowjansk im Osten der Ukraine, in der ich aufgewachsen bin, ist nicht mehr viel übrig: Weder mein Kindergarten, noch mein Schulweg, noch die Technische Hochschule, an der meine Eltern studiert haben. 

Sie sind 47 und damit eigentlich im wehrpflichtigen Alter. Wieso dürfen Sie jeweils wieder aus der Ukraine ausreisen?

Ich habe das Glück, drei Kinder im Schulalter zu haben, weshalb ich von der Wehrpflicht ausgenommen bin. Es ist aber so, dass die Wehrpflicht sehr viele Ausland-Ukrainer, ich denke da an Fachkräfte, die beim Wiederaufbau helfen könnten, daran hindert, ins Land zu kommen.

Apropos Ausland-Ukrainer: Sie arbeiten im Ukrainischen Verein in der Schweiz, aber auch mit Behörden wie dem Staatssekretariat für Mi­gration, eng mit geflüchteten UkrainerInnen zusammen. Wie geht es den Kriegsflüchtlingen heute, ein Jahr nachdem die ersten von ihnen hier ankamen?

Grundsätzlich war – und bleibt – die Solidarität der SchweizerInnen sehr gross: Vor einem Monat haben meine Kollegen zuletzt eine Sammlung von Hilfsgütern organisiert. Wir erhofften uns, einen Lastwagen mit Hilfsgütern zu füllen, und am Ende wurden es vier. Aber natürlich gibt es auch Probleme. Besonders akut sind diese meiner Meinung nach bei den Jugendlichen, für die es noch immer praktisch unmöglich ist, eine Lehre zu finden, weil sie aufgrund des Schutzstatus S so bald als möglich das Land wieder verlassen müssen. Ich hoffe, dass hier ein politischer Entscheid getroffen werden kann, der den Jugendlichen erlaubt, bis zum Abschluss ihrer Lehre in der Schweiz zu bleiben. Mit dieser Sicherheit hätten auch Lehrbetriebe mehr Interesse, junge UkrainerInnen einzustellen. 

Wo positionieren Sie sich in der aktuellen Waffenlieferungs-Debatte? Versteckt sich die Schweiz Ihrer Meinung nach hinter ihrer Neutralität?

Ich bin zuversichtlich, dass sich die Schweiz am Ende dazu durchringen kann, die Wiederausfuhr von Schweizer Waffen und Munition durch andere Länder zu erlauben. Zumindest hoffe ich es. Es gibt zwei Arten, auf die dieser Krieg enden kann: Entweder, Putin zieht seine Truppen zurück, und es gibt keinen Krieg mehr, oder die Ukraine erhält keine Waffenlieferungen mehr, und dann gibt es bald keine Ukraine mehr. Was meiner Meinung nach aber mindestens genauso wichtig ist, ist nichtmilitärische Unterstützung, und hier hinkt die Schweiz Ländern wie den Niederlanden oder den skandinavischen Staaten hinterher. Dänemark beispielsweise hat sich verpflichtet, die Region Mykolajiw im Süden des Landes wieder aufzubauen. Solche Projekte sind gute Nachrichten für alle Ukrainer­Innen, und gute Nachrichten sind nach einem Jahr Krieg extrem wichtig.

Bei welchen Projekten könnte sich die Schweiz denn beteiligen?

Spontan fällt mir der Flughafen Uzhgorod ein, der direkt an der westlichen Grenze der Ukraine liegt. Flugzeuge, die von dort starten, befinden sich direkt nach dem Start im slowakischen Luftraum. Durch einen Auf- und Ausbau des kleinen Flughafens könnte es endlich wieder zivile Luftfahrt in der Ukraine geben. Ausserdem hat die Schweiz im Bereich der kritischen Infrastruktur das technische und organisatorische Know-how, um eine tragende Rolle beim Wiederaufbau zu spielen – sie muss es nur wollen und bereit sein, Ressourcen zu investieren.

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