Präsenz vor Leistung?
An einer Kolumne würgen. Kennt ihr das? Nicht weil einem nichts einfällt, sondern weil man langsam, aber sicher das flaue Gefühl im Magen nicht mehr ignorieren kann, das Gefühl, wenn man gerade die zwei Magen-Darm-kranken Kinder doch noch ins Bett gebracht hat und nun weiss, dass es einen auch tütscht. Denn ein Magen-Darm-Virus von Kindern findet den Weg in den eigenen Organismus. Immer. Man soll sich viel die Hände waschen, ist ein netter medizinischer Ratschlag, aber der kommt wohl von einem, der nichts weiss von diesem körperkontaktintensiven Nahkampf mit sich übergebenden Menschen im Vorschulalter. Man müsste sich schon eher in eine Wanne mit Desinfektionsmitteln legen, so alle 3 bis 5 Minuten, dann hätte man vielleicht eine Chance.
Und während man dann also so da sitzt und weiss, dass man die nächsten Stunden allein oder mit der ganzen Familie in einer Nasszelle verbringen wird, fängt man an zu organisieren. Krippe fällt aus, weil dort nur gesunde Kinder hin dürfen (in der Schweiz). Man braucht also Hilfe. Verwandte und Freunde sind oft keine Option, weil sie selber arbeiten müssen, weil sie zu weit weg wohnen oder weil man ihnen nicht zumuten kann, sich dann auch noch anzustecken. Der Babysitter kann ziemlich sicher nie in solchen Notfällen. Man stückelt dann den Tag auf in die Stunden, in denen der Mann arbeiten kann und die, in denen man es selber tut, weil, gar nicht ins Büro gehen geht nicht, Erwachsene können nämlich auch mit dramatischer Übelkeit noch in den Computer schauen oder an den wichtigen Sitzungen teilnehmen. Sie können es, und vor allem sollen sie es.
«Mütter nehmen sich nicht frei», ist der Slogan einer ganz besonders idiotischen Werbung für ein Grippemittel. «Mütter nehmen sich nicht frei – Mütter nehmen Wick DuoGrippal» heisst es dort und eine im ersten Bild erbärmlich kranke Mutter spielt wenig später lachend im Schnee mit ihrer Tochter. Ich habe mich lange und ergiebig aufgeregt über dieses niederträchtige Frauenbild. Aber es geht nicht nur um die Frau, das Problem ist ein anderes und das macht es leider nicht besser. Man ist nicht krank. Oder anders: Man geht krank zur Arbeit. Man macht das deshalb, weil allein die Präsenz am Arbeitsplatz als Leistung gilt und nicht das, was tatsächlich gearbeitet, produziert, gedacht und geschaffen wird. Der gute Mitarbeiter ist immer da, die gute Chefin ist die erste am Morgen im Büro und die letzte, die geht. Man nennt das Präsentismus, es ist weit verbreitet hierzulande und es ist vor allem das eine Grundübel, das uns bei jeder Forderung nach mehr Teilzeitstellen auch im Kader, nach mehr beruflichen Möglichkeiten für Mütter und Väter, überhaupt nach neuen Arbeitsmodellen ein Bein stellt.
Man weiss ziemlich genau, was kranke Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Büro kosten. Unter dem Strich nämlich mehr, als wenn sie zuhause bleiben würden. Statistiken zeigen aber, dass Absenzen aus Krankheitsgründen Jahr für Jahr zurückgehen. Die Menschen sind freilich nicht weniger krank, aber sie passen sich der vorherrschenden Meinung an, die besagt, dass die Präsenz vor Ort positiv korreliert mit guter Leistung. Die Wirtschaft hält unbeirrbar daran fest, obwohl man gleichzeitig ebenfalls weiss, dass Betriebe, die die Pflichtarbeitszeit kürzen, sehr verlässlich auch die Produktivität steigern.
Solange Präsenz gleichgesetzt wird mit Leistung, rennen längst nicht nur die Mütter und Väter gegen eine Wand, sondern eigentlich alle, die noch ein Leben haben. Denn es geht nicht nur darum, daheim zu bleiben, wenn man krank ist. Es geht um die Einsicht, dass man nicht ununterbrochen arbeiten muss, um so etwas wie Leistung zu erbringen, Verantwortung zu übernehmen, führen zu können.
Um die Einsicht auch, dass die, die das behaupten, allenfalls wirklich 42 Stunden in der Woche brauchen, um eine gute Idee zu haben. Aber das sind vielleicht nicht die Besten und sicher nicht die, nach denen wir uns richten sollten.