Polit-Pop

Prognosen sind bekanntlich schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Ich habe mir selber früher immer ein gutes Gespür für politische Stimmungen zugeschrieben. Mittlerweile habe ich mich doch ein paar Mal gründlich geirrt, so dass ich etwas mehr Vorsicht walten lasse. Ich spekuliere daher nicht über den Ausgang der Abstimmungen am Sonntag. Aber ich hoffe sehr auf ein Nein bei der Unternehmenssteuerreform III und ein Ja bei der erleichterten Einbürgerung für die dritte Generation.

 

Dass man bei knappen Ergebnissen auch mal falsch liegen kann, dass auch Umfragen sich irren können, daran hat man sich ja gewöhnt. Es gibt aber eine Reihe von politischen Phänomenen, die ich irgendwie nicht ganz verstehe. Und nein, es liegt nicht an der Filterblase. In der war ich – wie die meisten anderen Menschen auch – schon früher zu Hause.

 

Nehmen wir beispielsweise Emmanuel Macron. Dem ehemaligen Wirtschaftsminister werden mittlerweile gute Chancen für die Präsidentschaftswahlen zugeschrieben. Er sammelt Spenden in Rekordhöhe, seine Bewegung «En Marche» – die ja in erster Linie ein Macron-Wahlverein ist – hat grossen Zulauf. Warum eigentlich? Sein Programm ist bis anhin eher schwammig, er spricht in Plattitüden: «Wir wollen nicht die Linke versammeln und nicht die Rechte, sondern alle Franzosen.» Er spricht vom gemeinsamen Projekt, vom Frankreich des 21. Jahrhunderts. Was das genau ist, wissen wir noch nicht. Vielleicht werden wir es irgendwann mal hören. Er ist ein Zentrist, ein Sozialliberaler. Eben genau nicht jene Art von Politiker, die in den letzten Jahren für Aufsehen sorgten. Kein Bernie Sanders, kein Jeremy Corbyn, aber auch kein Trump. Weder dezidiert links, noch klar nationalistisch. Sondern eher so der Typ Tony Blair, der geschliffen redet, die Mitte bedient, dessen Bewegung wie aus dem PR-Handbuch stammt. Ein Politiker-Typus, den alle schon abgeschrieben hatten.

 

Er habe, so schreiben Georg Blume und Elisabeth Raether in der ‹Zeit›, eine neue Wählergruppe ins Visier genommen: «Macron spricht zu den Politikverdrossenen, die nicht an rassistischen Ideen interessiert sind, die sich nicht mehr Autorität wünschen, sondern mehr Freiheit – und die diese Interessen nicht mehr konsequent vertreten sehen.» Er ist also ein wenig der Operation-Libero-Kandidat, wenn wir es auf Schweizer Verhältnisse ummünzen würden. Die Frage ist nun, ob diese Wählergruppe genügend gross ist. Aber dank dem grossen Kandidatenumfeld könnte es in die Stichwahl reichen.

 

Dann haben wir Martin Schulz, den neuen SPD-Kanzlerkandidaten. Und plötzlich kann die SPD, der man noch vor kurzer Zeit keinen Blumentopf zugetraut hat, neue Hoffnung schöpfen. Sie legt in den Umfragen zu – kann teilweise gar zur CDU aufschliessen, in der Kanzlerfrage hat Schulz Merkel überholt. Warum eigentlich? Schulz ist im Gegensatz zu Macron kein Aussenseiter, er ist ein seit langem bekannter SPD-Politiker. Dass die SPD-WählerInnen mit ihm neue Hoffnung schöpfen, mag erklärbar sein. Aber warum verliert die AfD drei Prozentpunkte? Warum wechselt ein Wähler oder eine Wählerin von der AfD zur SPD wegen Schulz? Der Kanzlerkandidat war doch ein bekannter EU-Spitzenpolitiker und ist ein überzeugter Europäer.

 

Warum haben also diese beiden Erfolg? Vielleicht auch bloss deswegen, weil sie nicht die anderen sind. Ich würde Emmanuel Macron wählen. Aber das bedeutet nicht wahnsinnig viel. Denn ich würde auch einen Kartoffelsack erwägen, wenn die Gegenkandidatin Marine Le Pen ist. Und sein Konkurrent François Fillon hat momentan Schwierigkeiten, weil er seine Frau als parlamentarische Mitarbeiterin angestellt hat. Das machen zwar andere Abgeordnete auch. Aber es wirkt halt immer ein bisschen schlecht, wenn man von den Leuten verlangt, den Gürtel enger zu schnallen, sich aber selbst gerne bei den Honigtöpfen vom Staat bedient.

 

Auch bei Schulz spielt sicher eine Rolle, dass er weder Merkel noch Gabriel ist. Dass in Deutschland eine gewisse Ermüdung mit dem bestehenden Personal herrscht, ist auch verständlich. Viel Politnachwuchs hat es da bei allen Parteien nicht gegeben. Und Merkel erschien vielleicht vielen als alternativlos. Durch Schulz hat sie eine valable Alternative erhalten.

 

Was in Deutschland und Frankreich in den kommenden Monaten und Wochen passieren wird, ist noch völlig offen. Vieles ist im Fluss, vieles unberechenbar. Gibt es Enthüllungen bei Macron, wie sie die Wikileaks-Plattform, die immer offensichtlicher im russischen Dienst steht, angekündigt hat? Ist der Schulz-Effekt bloss ein Strohfeuer? Es bleibt spannend.

 

Vielleicht kann ich es nicht so gut nachvollziehen, weil ich mit zunehmender politischer Erfahrung immer skeptischer gegenüber diesen Popstar-ähnlichen Politphänomenen geworden bin. Natürlich können auch in der Politik Einzelpersonen einen Unterschied machen, im positiven oder im negativen. Und ja, es gibt Politiker und Politikerinnen, die Eindruck machen. Dennoch: Ich kann mir kaum vorstellen, stundenlang anzustehen, um mir eine politische Rede anzuhören. Denn auch die berühmten historischen Reden von der «Gettysburg Adress» zu «We Shall Fight them on the Beaches» leben neben der Rhetorik immer auch ein wenig von den historischen Umständen. Und die sind – trotz Trump – im Moment noch nicht so dramatisch.

 

Vor allem aber sind Politikerinnen und Politiker nun mal auch nur Menschen. Sie versprechen manchmal Dinge, die sie nicht halten können. Sie werden zuweilen klüger, manchmal auch dümmer. Sie machen Fehler. Sie scheitern. Das gehört dazu. Daher ist oft auch die Enttäuschung gross, wenn wieder mal ein Hoffnungsträger (seltener eine Hoffnungsträgerin) strauchelt.

 

Es hat mir nie eingeleuchtet, warum man ausgerechnet in der Politik jene bevorzugt, die möglichst wenig konkrete Erfahrung haben. Wenn ich operiert werde, möchte ich auch nicht die Chirurgin, die noch nie ein Skalpell in der Hand hatte. Ich schätze daher immer mehr diejenigen Politiker, die gerade weniger Hochkonjunktur haben: Die Handwerkerinnen, die Dossierkundigen. Jene, die zugeben, dass sie schon falsch entschieden haben. Die daraus aber lernen wollen. Die auch mal zugeben, etwas nicht zu wissen. Oder keine gute Antwort zu haben. Die die Komplexität gewisser Probleme anerkennen. Dass nicht alles schwarz und weiss ist und mittels drei-Punkte-Plan easy-peacy gelöst werden kann. Nun denn, vielleicht kommt auch dieser Typus wieder in Mode. Vielleicht war er es auch nie. Aber sicher ist: Nur Hallen füllen allein reicht nicht.

mart

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.