Poesie-verdoppelung

Das vom Sterbebett aus das Leben rückwärts bis ins Nochnichtleben leben, wie das Ilse Aichinger 1949 in «Mich wundert, dass ich so fröhlich bin» beschrieben hat, erweckt Nelly Bütikofer zu emotional fassbarem Leben.

 

Freude kann sich ähnlich unvermittelt anschleichen, wie sich Melancholie aus Plattenrillen oder Nebelschwaden heraus entwickeln kann. In ihrer Kombination und einer Gleichzeitigkeit sind sie in einer emotional fragilen Balance gehalten, ein unschlagbar eindringliches Gefühl. Nicht jubeln, nicht heulen, eher schweben in Zwischenwelten. Besinnlich gestimmt und erfüllt vom Genuss einer schwermütigen Leichtigkeit. Das auf einer Bühne mittels einer filigranen, ganz einfach wirkenden Arbeit auf ein Publikum übertragen zu können, wie das diesem Abend kongenial glückt, ist nur bezaubernd. Der Kreis des Abends ist kindlich unbeschwert: Peter Grünenfelder an der Mundharmonika und Nelly Bütikofer frohlockend, tanzend und singend, intonieren «es tanzt ein Bi-Ba-Butzenmann». Der Schabernack ist mit von der Partie und eine Lebensfreude, die theoretisch abstrakt in ein Wiederjungwerden projiziert werden könnte, wenn denn die Umkehr eines – auch eines harten – Lebens das grössere Geschenk wäre, als das Leben an sich. Ilse Aichinger war beim Verfassen des Textes 28 Jahre alt, hat die Naziherrschaft als Halbjüdin in Österreich gerade mal überlebt und ging, kaum volljährig das Risiko ein, ihre jüdische Mutter bis Kriegsende zu verstecken. Die Erleichterung, überlebt zu haben, muss überwältigend sein, der Hinwendung zu einer baren Lebensfreude indes steht das Erleben, das Wissen und der Trauer über die vielen Verluste entgegen. Die Umkehr des Lebensweges von der Bahre bis in den Uterus, wirkt wie ein literarischer Hebel des Trotzes. Gleichzeitig Zerstreuung wie Verarbeitung, eine Suche nach Hoffnung und Lebensmut und doch durch die akribische Wiederbegegnung mit sämtlichen Entbehrungen auch eine Flucht in ein Metareich sämtlicher Möglichkeiten. Nelly Bütikofer und Peter Grünenfelder benötigen kaum Bühnenmaterial. Ein Bettlaken, ein Seil, eine langgezogene Stoffbahn sind dreimal dieselbe Figur in unterschiedlicher Beschaffenheit und Grösse. Dem Thema ist nicht zu entrinnen. Wo Freude herrscht, ist auch Schwermut. Wo Erinnerung an Schönes geweckt wird, lauert auch unbändige Wut – bis zur Aggression. Der Verlust vieler der Liebsten stellt «Mich wundert, dass ich so fröhlich bin» mit der zuerst fein säuberlichen und überaus aufmerksam sorgfältigen Separierung der vielen ineinander gesteckten Figuren einer Matrioschka dar, die, kaum einzeln zusammengesetzt, mit einer Armbewegung über die gesamte Bühne verstreut werden – und scheppern. Eine Körpernähe, ein Trost können sich die beiden geben, den grössten finden sie in der Musik und der möglichst anmutigen Bewegung dazu. Doch selbst diese Harmonie will nicht ungestört vonstatten gehen. Die Arme ecken an und die körpereigene Kraft erwehrt sich dem militärischen hochschnellen des einen Armes, die Erinnerung an ein Stehen in der Linie zur Aussortierung kommt hoch. Aus jeder Gasse spricht Erinnerung. Diese wichtigtuerische, kurze Pflastersteinanordnung zu beschimpfen, tut gut. Die Sehnsucht nach der früh verstorbenen Mutter – im Text – wird als Sinnbild für eine Kaumerfüllbarkeit von Träumen, wie der Mensch sie sich am allerliebten ausmalt – und eine Warnung davor, sich allein der Emotion zu übergeben. Den Kopf nicht nur oben zu halten, sondern von dessen analytischen Fähigkeiten auch Gebrauch zu machen, selbst wenns schmerzt – real fühlbar und wolkig undefinierbar bis wattig, wie irgend eine Ahnung. Blicke ins vertraute Gesicht des anderen sind unermesslich wichtige Stützen. Das Wissen und Vertrauen darauf, dass Zusammenbrechen keine Linderung bringt, das Festhalten an der elementaren Liebe zum Leben hingegen Quell und Sinn und vielleicht auch ein wenig Glück bringt, ein Trost.

 

«Mich wundert, dass ich so fröhlich bin», 20.10., Theater am Gleis, Winterthur. www.nelly-buetikofer.ch

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