Pink Apple 2015: Ein guter Jahrgang

 

Ob im Drama oder der Komödie, die internationale Filmproduktion mit LGBT-Fokus (LesbianGayBiTrans) entwickelt sich augenscheinlich mit grossen Schritten in die seit Jahren gewünschte Richtung: Oberstes Primat ist ein handwerklich gut gemachter Film mit LGBT-Identifkationsfiguren.

 

Ein Publikumspreis lässt sich damit vermutlich nicht gewinnen, dafür bewegt sich «Anatomy Of A Love Seen» von Marina Rice Bader zu sehr auf einer Meta-Ebene. Dafür wird das damit gelegte Fundament zu einem starken Stück Beweisführung für die Universalität von Liebe und anderen Katastrophen. Geschlechterübergreifend und bar jedes Fokus einer sexuellen Ausrichtung. Ein Filmset im Film versprüht das genaue Gegenteil einer intimen Innigkeit der nachzudrehenden Sexszene, wofür Zoe (Sharon Hinnendael) und Mal (Jill Evyn) ein halbes Jahr nach Drehschluss noch einmal aufgeboten werden. Irgendwas mit zu viel Haut und Zensur gibt die Regisseurin Kara (Marina Rice Bader) schwammig als Grund dafür an, dass ausgerechnet die körperlichste Szene dieser Liebesgeschichte noch einmal aufgenommen werden müsse. Zu den üblichen Schwierigkeiten im Film wie das Divenbändigen und unter Zeitdruck Höchstleistungen abzuliefern, was glaubwürdige Sinnlichkeit mitmeint, kommt die maximale Erschwernis dazu, dass sich Zoe und Mal beim Erstdreh ineinander verliebt hatten, eine undefiniert lange Beziehung miteinander lebten, sich erst vor kurzem getrennt haben und seither keinen Kontakt mehr hatten. Das gesamte Filmset befindet sich in der Höchstspannung der Erwartung einer jederzeit ausbrechenden Eskalation bei gleichzeitig betont nach aussen hin gestellter Lässigkeit und Professionalität. Die Regisseurin Kara setzt alles daran, die beiden Schauspielerinnen in Watte zu packen, ihnen zu schmeicheln und sie zu flattieren, ihnen Mut zuzusprechen und das angeknackste Selbstbewusstsein für die bevorstehende Aufgabe zu grösstmöglicher Stabilität aufzubauen. Die Begegnung zwischen Zoe und Mal ist indes letztlich der springende Punkt der Anlage und das ist auch der Moment, wo «Anatomy Of A Love Seen» regelrecht abzuheben beginnt. Ein emotionaler Tanz zwischen zu überwindender Kränkung bei gleichzeitiger Trauer und noch nicht ganz abwesender Liebe bei dazwischen funkender Rachelust und Hassgefühlen beginnt. Die Diskrepanz zwischen dem Unvermögen, die irritierende eigene Gefühlslage in Worte zu fassen und dem diametral entgegen stehenden Bedürfnis, sich von diesem immensen emotionalen Ballastberg in einem finalen Wortschwall zu befreien, ist kolossal. Das Zusehen ist – ohne zynischen Unterton – einfach nur köstlich, denn der Film schafft es, diese allen bekannte Situation, die einfach nur schief gehen und einen per se nicht befriedigt daraus hervorgehen lassen kann, durch den Kunstgriff der baren Inszenierung dieses Treffens durch die Regisseurin auf eine übergelagerte Ebene zu hieven, die als Ventil für die verwirrende Emotionalität für Zoe und Mel herausragend funktioniert. Und auch für ein Publikum die Funktion eines Spiegels wahrnimmt, denn letztlich lacht man hier auch über die eigene Unzulänglichkeit. In diesem klug und raffiniert verspielten Setting findet man sich bald selbst motiviert wieder, sich bei der nächsten Begegnung mit ebendieser Situation in der Realität gelassener, gefasster, aufrichtiger zu agieren und weiss doch zeitgleich mit dem Fassen dieses Entschlusses, wie es um die Realisierbarkeit bei realer Konfrontation damit vermutlich ausschauen wird.

 

Überwältigende Emotionen

Die weitere kaum zu bewältigende Emotion thematisiert «Lilting» von Hong Khaou: Trauer. Der Brite Richard (Ben Whishaw) und der Secondo mit chinesischen Wurzeln Kai (Cheng Pei-Pei) waren jahrelang ein glückliches Paar. Allerdings gegenüber Kais Mutter Junn, die seit vierzig Jahren in England lebt und kein Wort englisch spricht, waren sie beste Freunde oder Mitbewohner. Die besitzergreifende Art der Mutter, deren liebstes Druckmittel die emotionale Erpressung, also die regelrechte  Bewirtschaftung eines Schuldgefühls war, um damit die Zuneigung ihres Sohnes nicht zu verlieren, erschwerte ein Coming-Out zusätzlich. Jetzt ist sie im Altersheim und überhäuft den ihr vor dem inneren Auge erscheinenden Sohn noch immer mit denselben Vorwürfen. Offensichtlich ist ihr Plan, damit eine emotionale Bindung herzustellen, dermassen gut aufgegangen, dass sich der heimliche Witwer in seiner Trauer gleich selbst quasi genötigt fühlt, sich fortan um das Wohlergehen der Mutter seiner grossen Liebe zu kümmern. Seine unendliche Trauer über den Verlust des Geliebten versucht er zu lindern, indem er sich fürsorglich um dessen einziges Familienmitglied kümmert und sich dem Verstorbenen dadurch indirekt näher fühlt. Da Junn im Altersheim wortlos von einem männlichen Charmeur umworben bis bedrängt wird, sieht Richard eine mögliche Hilfestellung gegen die Vereinsamung von Junn im Engagement einer Übersetzerin. Da sitzt nun also eine junge Frau zwischen dem gealterten Paar und übersetzt Säuseleien, Komplimente und verwandelt Schlüpfriges in Übersetzbares, um die Contenance zu bewahren. Diese fällt indes in einem herrlichen Dialog zwischen den beiden Alten, als sie sich entschliessen, einander zu offenbaren, was sie am Gegenüber stört. Aus der stets freundlich lächelnden wortlosen Konversation wird ein bodenlos beleidigendes Hickhack: «Sie könnte ihre Zahnpflege intensivieren, sie riecht so stark nach Knoblauch aus dem Mund» wird gekontert mit: «Er soll endlich mehr duschen und frische Kleider tragen. Sein Ganzkörpergestank nach Urin ist ja nicht auszuhalten». Keine Frage, dass diese Verbindung danach Geschichte ist. Diese Parabel über Macht und Ohnmacht von Worten im Rahmen einer amourösen Zuneigung ist insofern trefflich inszeniert, als dass sie gleichsam für die weiteren Verbindungen in dieser Filmkonstellation steht: Junn-Kai, Kai-Ritchard und zuletzt Richard-Junn. Denn in allen drei Verbindungen sind Vertrauen, Liebe und Respekt die tragenden Säulen, die handkehrum nicht um jeden Preis verlangen, dass ein Verstehen und ein Verständnis zwangsläufig auf verbaler Verständigung basieren muss. Womit sich der Kreis zum überwältigenden Gefühl der Trauer wieder schliesst, deren stärkste Kraft ebenso wie in der Liebe keineswegs aus der Formulierbarkeit stammt. Über die wortlose Annäherung zwischen Richard und Junn, die sich durch das Wissen um die gemeinsame Trauer beider um den jeweils am meisten geliebten Menschen entwickelt, finden denn auch die beiden Zurückgebliebenen ein Stück weit sogar entgegen sämtlicher vorheriger Befürchtungen einen Draht zueinander und vor allem ein Stück weit auch Trost.

 

Eltern: Hilfe und Missbrauch

Eine weitere Nuance eines Bedürfnisses nach einer Art von Trost betrifft Eltern nach dem ersten Schock eines Coming-Outs eines ihrer Kinder als transident oder homosexuell. Gerade in patriarchal strukturierten Gesellschaften, die deren Existenz schlicht negieren oder leicht abgeschwächt tabuisieren und totschweigen, trifft eine solche Nachricht die Eltern ins Mark. Das damit erschütterte Weltbild betrifft nicht nur die Sorge um eine mögliche fehlerhafte Erziehung oder die Unabwägbarkeit der nachbarschaftlichen Reaktionen, sondern primär die Angst um das Glück des eigenen Kindes. Sieben türkische Eltern sprechen in Can Candans Dokumentarfilm «My Child» frontal in die Kamera und geben komplett unspektakulär, aber verblüffend aufrichtig darüber Auskunft, wie sie das Coming-Out eines Kindes als Elternteil empfunden haben. Zurückgehend auf Tötungen auf offener Strasse, haben Eltern in Istanbul «Listag» gegründet, ergänzt von der Selbsthilfegruppe «Cetan», die in Begleitung von psychologischer Betreuung Treffen arrangiert. Obschon sie Aufklärung im Parlament betreiben, grosse Demonstrationen auf der Haupteinkaufsstrasse Istanbuls Istiklal für die Einrichtung eines Anti-Diskriminierungsgesetzes auf die Beine stellen und natürlich die eigenen Erfahrungen in Beratungsgesprächen mit neu dazustossenden Eltern teilen, sagt eine der Mütter: «Wir sind doch keine Aktivisten, wir sind nur Mütter.» Worauf eine zweite nachdoppelt: «Wir sollten mehr über Sexualität reden – aber nicht über den technischen Teil.» Die entwaffnende Offenheit, mit der diese Eltern über ihre innersten Konflikte, Ängste, Widerstände und den zähen und sorgenvollen Weg hin zur Akzeptanz ihres Kindes erzählen, ist schlicht ergreifend. Trotz der Einzigartigkeit jeder einzelnen Familiensituation entsteht durch diese Vielzahl von möglichen Wegen der Akzeptanz letztlich ein universales Plädoyer dafür, dass einen letztlich jegliche Verweigerung unverständlich und unwürdig erscheint.

 

Doch PinkApple ist seit den sechzehn Ausgaben, die seit den EuroGames im Jahr 2000 auch in Zürich stattgefunden haben, keineswegs einzig auf Wohlgefühl getrimmt. Gerade Eltern sind mitunter der existenziellste Feind für ein sich nicht nach ihren heteronormativen Vorstellungen entwickelndes Kind, wie es zwei Filme aus Indien und den USA einen vor Augen führen, dass man darüber leicht die Fassung verliert. «Qissa» von Anup Singh handelt zur Zeit der Staatenbildung von Pakistan und Indien mit den Zwangsumsiedlungen von Muslimen wie Hindus in der nochmaligen Minderheit der Sikhs. Der vermeintlich liebevolle Vater Umber Singh erklärt das vierte Mädchen der Familie kurzerhand zum Jungen und übergeht damit die Unversehrtheit des eigenen Kindes genauso wie er die absehbaren Folgen im Erwachsenenalter negiert. Aufgewachsen im Selbstverständnis, der männliche Nachkomme zu sein und darum eine privilegierte Stellung innerhalb der Familie wie der Gesellschaft zurecht für sich zu reklamieren, gelingt es dem Filmvater sogar über das Erreichen der Geschlechtsreife von Kanvar, ihr das männliche soziale Rollenverhalten bis zur Verinnerlichung einzutrichtern. Selbst der spätere Versuch der Mutter, Kanvar mit den Worten «Du bist ein guter Sohn, aber Du bist eine Frau», doch noch mit der Realität zu konfrontieren, kommt viel zu spät. Die Rolle als Mann hat sie längst verinnerlicht und die arrangierte Heirat mit Neeli wirkt selbst dann gesellschaftlich nicht aussergewöhnlich, wenn dem Filmpublikum klar gemacht wird, dass Neeli einzig darum geheiratet werden muss, weil Umber Singh in einem entfesselten sexuellen Rausch über sie hergefallen war. Die Zweisamkeit der beiden Frauen kennt eine kurze Zeit der wahrhaftigen Zuneigung und des inneren Friedens. Doch bald kehrt der Vater selbst nach seinem Tod als Geist wieder auf und sorgt eifersüchtig weiterhin dafür, dass sein Sohn – also sein ganzer Stolz – keinen Ansatz einer Möglichkeit erhält, die gewaltsam eingeimpfte Rolle zu verlassen. Die Tragödie ist absehbar und in dieser Anlage der einzig mögliche Schluss. Denn natürlich führt diese von aussen auferlegte schizophrene Situation für Kanvar zu einer schweren psychischen Störung, die sie zu einer reinen Verzweiflungstat greifen lässt, woraufhin die gesamte Verwandtschaft ihr Geheimnis kennt und sie sich ihres Lebens nicht mehr sicher ist.

 

Zwar nicht über den Tod hinaus, aber im Sinne einer vergleichbaren kompletten Gehirnwäsche, reicht der Zugriff der Eltern auf den jugendlichen David im Superchristenmilieu in den USA. Dieser wird von heute auf morgen seinem angestammten Umfeld entrissen und in eine Korrektionsanstalt in der Dominikanischen Republik gesteckt. Weder seine Freunde noch deren Eltern oder die Lehrer wissen, was mit ihm geschehen ist, wo er steckt und was mit ihm passiert. Erst die Filmemacherin Kate S. Logan, die selber streng gläubig ist und eine reine Dokumentation über diese «Schule» zu filmen im Begriff ist, beginnt in ihrer mehrmonatigen Vor-Ort-Recherche bald einmal, an der Methodik dieser Anstalt zu zweifeln und verändert den Fokus ihres Films «Kidnapped For Christ» von der wohlwollenden Dokumentation hin zu einem regelrechten Krimi über die Situation von David. Sie wird heimlich zu dessen Nachrichtenüberbringerin, was zuhause Lehrpersonen und engagierte Nachbarn dazu bringt, mit dem Ziel dorthin zu reisen, David da rauszuholen. Sie bleiben genauso chancenlos, ihn nur schon zu Gesicht zu bekommen, wie es Kate S. Logan bald einmal verwehrt wird, weiterhin zu filmen. Neben der Tatsache der physischen wie psychischen Misshandlung der InternatsschülerInnen, die an systematischem Drill und Entzug jeglichen Selbstwertgefühls nur schwer übertreffbar ist, ist vor allem anderen erschütternd, welche Entwicklung David nimmt. Während er in der ersten Hälfte des Films gegenüber Kate S. Logan noch Fluchtgedanken, Widerwillen und Ansätze von Kampfgeist zeigt, sind seine Reden Monate nach seiner Rückkehr in die USA über die vergangene Zeit regelrecht weichgespült, was darauf hinweist, dass diese Gehirnwäsche zumindest vordergründig funktioniert (im Gegensatz zur Umkehr der sexuellen Ausrichtung). Die Kraft der Manipulation geht augenscheinlich so weit, dass selbst körperlich und seelisch erlittene Qualen vom Betroffenen im Nachhinein als nötige Massnahme auf dem Weg zur Jesusfindung angesehen werden. Dass vor dem US-Senat bereits vier Anträge abgeschmettert wurden, diese Korrektionsanstalten, von denen die Vereinigten Staaten regelrecht übersäht sind und im konkreten Falle noch viel mehr Schulgeld kosten als die Eliteuni Harvard, endlich unter US-Recht und Gerichtsbarkeit zu stellen, ist als Tatsache nicht minder erschütternd, als die Folgegeschichte dieser «Schule» nach Bekanntwerden der dortigen Methodik auf dem US-Festland. Gebäude wie Land wurden verschenkt, die Institution geschlossen, aber kurz darauf unter einem neuen Namen und einer neuen Trägerschaft im selben Geist, Sinn und Zweck wieder eröffnet… quel horreur!

 

Schnitt: Zeit für Selbstironie

Zum Glück gibts Schnaps und herrlich selbstironische Komödien, um aus dieser erschlagenden Deprimiertheit wieder hinauszufinden. Auf der lesbischen Seite zum Schreien komisch ist «Appropriate Behavior» von Desiree Akhavan, die die Hauptrolle der iranisch-stämmigen Amerikanerin Shirin gleich selber spielt. Zwar versinkt auch sie nach der Trennung von ihrer Partnerin Maxine zuerst ins Loch des Selbstmitleids, rappelt sich mit der Kraft der Rachelust jedoch bald wieder hoch. Mit dem Ziel, Maxine eifersüchtig zu machen, beginnt die bisexuelle Shirin bald einmal, alles zu Bespringen, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist. Bei dieser Motivation für Promiskuität ist ein Gelingen des Plans ebenso ausgeschlossen wie die Findung eines irgendwie gearteten Glücks. «Appropriate Behavior» ist eine komplett überhöhte Ansammlung von sexuellen Peinlichkeiten und Missverständnissen in Kombination mit einer wenig schmeichelnden Darstellung der iranischen Familientradition im Ausland. Das ist dermassen offensichtlich auf komisch getrimmt, dass sich kaum jemand beleidigt fühlen kann – ausser vielleicht das zuschauende Individuum, das in der einen oder anderen Verzweiflungstat von Shirin sich selbst erkennen muss und im Idealfall über die eigene Bescheuertheit im Umgang mit emotionalen Ausnahmesituationen in helles Gelächter ausbricht.

 

Bei den Männern zeigt «Guidance» von Pat Mills ein in schriller Tumbheit der Vorlage von «Appropriate Behavior» in nichts nachstehende Variation aus Kanada. Der frühere Kinderstar David Gold ist die blondierte Affektiertheit in Person, aber natürlich nicht schwul. Seine Sorgen ertränkt er in Alkohol, was natürlich alle Probleme löst… Erst als sich seine Schwester weigert, dem notorisch klammen Bruder weiter mit Geld unter die Arme zu greifen und er droht, aus seinem Apartment zu fliegen, sucht er sich eine Stelle. Auf Youtube sieht er einen Schulpsychologen eingängige Phrasen über seine Arbeit dreschen, die er – ganz Schauspieler – in Tonfall und Wortwahl auswendig lernt und sich als Aushilfe auf eine ausgeschriebene derartige Stelle bewirbt. Vermutlich, weil der Job ab dem Folgetag zu vergeben ist und der Rektor zwei Wochen weg muss, bekommt der im brauen Cordanzug und Streberbrille ein Abziehbild einer Lehrperson abgebende Sonderling diese Aufgabe überantwortet. Mit den Problemen der SchülerInnen identifiziert er sich indes sehr viel stärker als mit dem Lehrkörper:  Mit dem Haschischdealer tauscht er Gras gegen Schnaps, das Mauerblümchen baut er damit auf, sie soll sich einen dummen Jungen zum Freund aussuchen, und zwei It-Girls macht er sich gewogen, in dem er sie schlechterdings abfüllt. Natürlich fällt er damit über kurz oder lang dermassen auf die Nase, dass die hier geholte blutige Nase quasi zum Erweckungsmoment über die eigene Situation und deren Verlogenheit wie Realitätsferne wird.

 

Schrill im Auftreten können auch jugendliche Schwule dargestellt sein, die damit ein gewisses Selbstverständnis demonstrieren, dafür aber viel augenscheinlicher anecken. Zwei Filme im diesjährigen Programm stellen eine solche Identifikationsfigur ins Zentrum, ohne dabei die Ernsthaftigkeit der Handlung zu überspielen. In «Xenia» des Griechen Panos H. Koutras findet sich der 16-jährige Dany nach dem Tod der Mutter als Waise wieder. Er lässt auf Kreta alles hinter sich, um in Athen nach seinem älteren Bruder Ody zu suchen. Sehr frei nach Homers Odysseus begeben sich die beiden nicht aufenthaltsberechtigten Albaner auf die Suche nach ihrem namenlosen griechischen Vater, von dem sie nur vom Hörensagen wissen. Wenn er die beiden ungleichen Söhne anerkennen würde, so der Plan, könnten sie legal in Griechenland bleiben. Selbst wenn hier die Wohlfühlabsicht des Filmemachers durchs Band durchschlägt, ist die Entwicklung der Bruderliebe jenseits eines gleichlautenden Lebensentwurfs in all den Widersprüchen feinfühlig eingefangen. Denn zuletzt sind sich die beiden in ihrer Verzweiflung der einzige Halt, den sie beide haben, und schlagen sich durch.

 

Ebenfalls bereits äusserlich auffällig ist Davide im italienischen Spielfilm «Piu Buio Di Mezzanotte» von Sebastiano Riso. Die Anlage ist ähnlich absurd überdreht, aber im Einfangen der tatsächlich rückständigen staatlichen wie gesellschaftlichen Behandlung von LGBT-Personen in Italien eine regelrecht ernsthafte Anklage. Wegen latent «weibischem» Verhalten psychisch wie physisch vom Vater drangsaliert, nimmt der 14-jährige Davide reissaus und schliesst sich einer Gruppe junger trans-, homo- aber auch heterosexuellen Strichern an. Der Schutz dieser Wahlverwandtschaft reicht jedoch nicht sehr weit, denn sämtliche dieser bunt-schrillen Truppe stellen je in ihrer Art eine sogenannte Bedrohung für die machismogestützte Vorstellung einer Männlichkeit dar. Also werden sie gejagt, verprügelt, sexuell missbraucht. Wenige Nächte dauert das Gefühl der Befreiung für Davide, bis sich heraustellt, dass diese losen Bande unter diesen Umständen nicht tragfähig sein können. Zudem verliebt sich Davide erstmals in seinem zarten Alter in den etwas älteren Sexworker Vito, dessen Coolness sich jedoch schnell als künstlich hochgehaltener Panzer erweist. Denn Vito ist zwar nicht obdachlos, aber seinem sehr viel älteren Zuhälter gegenüber genauso schutzlos ausgeliefert wie Davide dem rauen Wind der Realität. Die herbe Zärtlichkeit in Kombination mit der durch den Schauspieler tatsächlich glaubwürdigen Schutzbedürftigkeit eines solchen feingliedrigen Jungen verströmt einen verstörenden Charme. Nur durch das kluge und beherzte Handeln von Davide kippt diese Anlage nicht komplett ins Trostlose, wenngleich sich chancenreiche Aussichten auf ein selbstbestimmtes Leben andererseits ebenfalls anders anfühlten.

 

Migrantenschicksale

Überhaupt keine Chancen auf Selbstbestimmung hat der jugendliche Migrant Ibrahim in Mikel Ruedas Drama «A Escondidas». In einem spanischen Durchgangslager. Er wartete auf einen Bescheid über seinen Aufenthaltsstatus – und mehrfach im Film wird die spanische Abschiebemassnahme alias «Familienzusammenführung» direkt und scharf kritisiert. Findet sich irgend ein entfernter Verwandter in Marokko, selbst für in Spanien geborene Migrantenkinder, ist der Apparat noch so froh, sie unter diesem Deckmäntelchen loswerden zu können. Weil das Durchgangslager auch sportliche Aktivitäten für die Jugendlichen anbietet, lernen sich Ibrahim und der Spanier Raffa beim Wasserball kennen. Im rüden Ton der Männlichkeitsrituale von Heranwachsenden wird Raffa stets gedrängt, sich die in ihn verliebte Maria endlich zu krallen. Die Clique um Raffa ist in ihrer krassen Wortwahl erschreckend, aber wohl kaum sonderlich übertrieben, geht es in Adoleszentengruppen doch um eine Hackordnung und nicht zuletzt eine «Meisterschaft» in Männlichkeitsgehabe. Was natürlich die Erniedrigung der Schwächeren wiewohl der Frauen mitmeint. «A Escondidas» atmet in der Machart und der Abfolge der Szenen die darin behandelte Verlorenheit der beiden jungen Männer auch formal. Denn die sich hier anbahnende Freundschaft ist in ihrer Zartheit noch einige Schritte von gelebter Sexualität entfernt. Es ist eine emotionale Bande, die sich hier auftut und in die Tiefe zielt. Der Film wäre eine wunderschön feinfühlige Studie über aufkeimende Gefühle in einem sich selbst zu schaffenden Schutzraum gegen die Mehrheit, zöge die Migrationsthematik mit dem Ausweisungsbescheid für Ibrahim nicht einen unabänderlichen, finalen Schlussstrich um diese zarte amouröse Anbandelung. Das Ende rührt einen nachgerade zu Tränen.

Mehrere Filme in diesem Jahr, wie etwa der litauische Eröffnungsfilm «Saingalé» von Alanté Kavaité oder «Lichtes Meer» von Stephan Butzmühlen legen den Fokus auf eine Coming-Of-Age-Geschichte, die mit stark auf die Herstellung barer Bildschönheit den Akzent von der letztlich zu erzählenden Geschichte auf eine zu fühlende verschieben.

 

Unrecht und Unvermögen

Irgendwo zwischen Migration, Stricherschicksal und hoffnungslosem Griff nach dem einzig möglichen Strohhalm bewegt sich «Je suis à toi» des Belgiers David Lambert. Der dicke Bäcker Henry ist einsam und verlassen in irgend einem Dorf und lernt den jungen Argentinier Lucas im Internet kennen. Die eigene Sehnsucht nach Nähe und Zärtlichkeit lässt ihn Lucas’ Reise zu ihm finanzieren. Doch das Ideal eines ungleichen Duos zerbricht quasi bereits mit der Landung von Lucas. Allerdings – und das im Gegensatz zur letzten Rolle von Robin Williams als Nolan Mack in «Boulevard» – findet sich in dieser belgischen Erzählung eines regelrechten Verfallens einer unerreichbaren jugendlichen Figur immerhin eine Spur eines Hoffnungsschimmers zum Schluss. Wenngleich auch nur für die Perspektive des Jugendlichen. Letztlich sind beide Filme bedenkenswerte Variationen über das Thema der gesellschaftlichen Vereinsamung in einer Überflussgesellschaft, der es an wenig mangelt ausser an Herz und Mitgefühl. Im Falle von «Je suis à toi» ist durch die Besetzung von Henry mit einem korpulenten mittelalterlichen Schwulen ebensosehr die oft selbst in der LGBT-Community auszumachende Intoleranz gegenüber nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechenden Mitgliedern der Community und die daraus folgenden Schwierigkeiten bei der Findung eines Sexual-/Liebespartners ziemlich ungeschminkt vorgetragen. Man ist besser nicht alt, nicht übergewichtig, nicht behindert.

 

Wer als schwarze Lesbe in New York zur Welt kommt, hat schlicht keine Wahl, wie die Dokumentation «Out In The Night» von Blair Dorosh-Walter eindringlich zeigt. Eine Clique von sieben jungen Frauen wird im West-Village von einem weissen Hasardeur eindeutig sexuell bedrängt, was bis zur Drohung einer Vergewaltigung reicht. Als sie sich als Gruppe zur Wehr setzen und ihn mit einer kleinen, keineswegs lebensbedrohlichen Stichwunde ausser Gefecht setzen, nimmt eine zum Himmel schreiende Jusitzposse ihren unaufhaltsamen Verlauf, deren Ende eine der Personen über acht Jahre hinter Gitter bringt. Diese Langzeitdokumentation, die auf ein reales Ereignis aus dem Jahr 2006 zurückreicht, entblösst die uns derzeitig aus den USA erreichenden systematischen Polizeiübergriffe auf die schwarze Bevölkerung als eine von der Justiz mitgetragene, schreiende Ungerechtigkeit. Vor diesem Hintergrund erfüllt einen die Dokumentation «Born This Way» über AktivistInnen des Untergrund-LGBT-Treffpunkts «Alternative Kamerun» über die Situation von Schwulen und Lesben in diesem afrikanischen Land im Mindesten mit einem Hauch von Hoffnung. Selbst wenn die Geschichten der heimlich portraitierten Personen in diesem Film keineswegs Grund zur Freude Anlass geben, so ist ihr selbst geschaffener und von der Anwältin Alice Nkom tatkräftig mit Rat und Tat beschützte Schutzraum doch gleichsam ein positives Signal, eine Veränderung in kleinen Schritten aktiv in Angriff zu nehmen und sich trotz teilweise unschönen Rückschlägen nicht von der allgemeinen Stossrichtung abhalten zu lassen. Ein noch sehr zartes Pflänzchen im Streben nach Emanzipation und Selbstbestimmung, aber immerhin ein Ansatz, sich irgendwann zu einem stabilen Baum zu entwickeln.

 

Verblüffende Geschichten

Zum Schluss noch zwei filmisch wie inhaltlich herausragende Beispiele von Filmen dieses PinkApple-Jahrgangs, auch wenn bei endlos viel Platz in der Zeitung auch noch zehn weitere gesehene angehängt werden könnten, was aber natürlich noch längst nicht mit einer vollständigen Visionierung des Gesamtprogramms – geschweige denn der täglichen PinkTalks im Stüssihof – einher ginge. «Vestido de Novia» von Marilyn Solaya ist dem Vernehmen nach erst der dritte kubanische Film überhaupt, der von einer Frau realisiert werden konnte. Wenngleich das geführte Gespräch mit der Filmemacherin sehr verwirrend war – im Sinne eines einzigen, grossen Widerspruchs in sich – so gehört der Film doch unbenommen zu den Höhepunkten des diesjährigen Programms. Basierend auf der ersten öffentlich gewordenen Geschlechtsumwandlung einer transidenten Person Ende der 1980er-Jahre entwickelt Marilyn Solaya einen hochpolitischen und sehr direkt gesellschaftskritischen Film. Der Film handelt vom Spagat von Rosa, die als Frau den Handwerker Ernesto ehelicht, aber das grosse Geheimnis ihrer Transidentität nicht preisgeben kann. Es die Geschichte einer innigen Liebe, so lange Ernesto nicht erfährt, dass seine Frau früher in einem Männerkörper lebte. Die Kritik am herrschenden Machismo wiewohl der Verlogenheit der behaupteten Freundschaft von sogenannten «Compagneros» ist ungeschminkt und schonungslos. Denn als Ernesto erfährt, dass Rosa keine Kinder bekommen kann, bricht er zwar in Tränen aus und ein Lebenskonzept zerbricht auf der Stelle, aber die Liebe könnte obsiegen, wären da nicht seine Arbeitskollegen und der aus einer früheren Verletztheit noch immer auf Rache sinnende Parteibonze Laurenzio, der die Entblössung im sinnbildlichen wie konkreten Sinne von Rosa aktiv vorantreibt. Die Vielschichtigkeit der Anklagen gegen das System wiewohl der Bevölkerung malt ein Bild eines komplett zerrütteten, scheinheiligen und nachgerade boshaft auf den eigenen Vorteil bedachte agieren, manipulieren und täuschen praktisch der gesamten Gesellschaft. Nach so einem intimen und augenscheinlich bis weit in die Details hinein authentischen Film über die Lage in Kuba, schwindet das ohnehin schon knapp bemessene Verständnis für eine ideologisch überhöhte Verehrung des dortigen Sozialimus sehr stark in Richtung Nullpunkt. Auch dargestellt durch die schrille Version in der Figur von Rosas bester Freundin Sissi, die im Film als letzten Ausweg und Akt der grössten Verzweiflung einen besseren Bretterverschlag besteigt und mit anderen die Insel flieht. Welch trostloses Bild.

 

Auf der diametral gegenüberliegenden Seite der Emotion steht die späte Dokumentation über «Peter De Rome: Grandfather Of Gay Porn», den Ethan Reid noch kurz vor dessen Tod im letzten Jahr im hohen Alter von beinahe 90 Jahren realisiert hat. Der ursprünglich britische Edelmann zog nach dem Krieg in die USA, wo er zum regelrechten Vorreiter in vieler Hinsicht wurde. Zuerst drehte er pornografische Szenen mit einer Super-8-Kamera für den Eigengebrauch und gibt im Film auch unumwunden zu, sich den Protagonisten nach Abschalten der Kamera auch einschlägig physisch genähert zu haben. Die Diskrepanz zum damals herrschenden Verbot, das ihn bei Entdecken dieser Streife hinter Gitter hätte bringen können, erklärt Peter de Rome erfrischend nonchalant, aufrichtig und trotz hohem Alter reichlich spitzbübisch: Er hatte gar nie im Sinn, die Filme öffentlich aufzuführen und sieht darum in seinem Tun auch keinerlei Heldentat zur damaligen Zeit. Erst das British Film Institute, das sein Archiv mittlerweile in seinen Kanon aufgenommen hat, die Filme restauriert und als DVD-Editionen herausgibt, kommt durch die filmwissenschaftliche Betrachtung dieser Filme zum Schluss, es handle sich hier um Pioniertaten. Denn Peter de Rome war der erste, der eine explizite Sexszene in einer New Yorker Metro drehte, der erste, der eine Gruppensequenz, bestehend aus lauter schwarzen Männern, drehte und zu seinem Wohnungsfenster hinaus quasi zufällig die allerletzte Filmaufnahme von Greta Garbo vor deren Tod drehte und diese notabene in eine seiner Erwachsenenfilme integrierte. Peter de Rome, der mit dem Aufkommen von Aids mit dem Filmen aufhörte, weil es geschmacklos gewesen wäre, angesichts dieser Bedrohung für sein so verehrtes Lebensgefühl des freien Männersexes, das er mit diesen Filmen zelebrierte, wurde ab den 1960er-Jahren regelrecht zum Star, ja zu einer annähernd ikonisch verehrten Figur. Doch der Ruhm, so sehr er ihn sicherlich genoss, hat ihn nicht primär interessiert. Die Selbstverständlichkeit, mit der er im Film über die filmische Herstellung von Eros zwischen Männern spricht, hat etwas dermassen erfrischend Unverkrampftes, Unkünstliches, Aufrichtiges, dass man sich fast wünschte, diese Art von erotischem Film wäre nie in eine artifizielle Pornoindustrie von heute überführt worden.

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