- Post Scriptum
Pazifismus und Narzissmus
Ich bin Pazifist, das gehört zu meiner Selbstidentifikation schon seit ich als Teenager begann, über Politik nachzudenken. Selbstverständlich habe ich 1989 für die Abschaffung der Armee gestimmt und seither auch gegen jede Rüstungsvorlage. Aber langsam weiss ich nicht mehr, was richtig und falsch ist.
Ich wohnte einige Jahre lang in einer idyllischen Liegenschaft mit drei Wohnungen, einem Nebengebäude, Wiese und Garten. Leider gab es keine genauen Pläne, welche Teile des Anwesens welcher der drei Parteien gehörte. So entwickelte sich ein nicht endender Verdrängungskampf. Der eine Nachbar machte an immer neuen Orten Ansprüche geltend. Anfänglich gaben wir einfach nach in der Erwartung, danach sei dann Ruhe – aber dies war ein Irrtum: Jeder kleine Sieg animierte den Nachbarn, es an einem neuen Ort wieder zu versuchen. Erst als wir anfingen, für uns einzustehen und uns zu wehren, gelang es, eine verbindliche Aufteilung der Liegenschaft auszuhandeln. Dies kommt mir manchmal in den Sinn angesichts der Weltlage. Die Annahme etwa, wenn Russland die Ukraine irgendwann erobert habe, sei dann Ruhe, ist irrational, denn jeder Sieg wird Putin animieren, es an einem neuen Ort zu versuchen. So ticken Narzissten.
Nun frage ich mich, was ich als Pazifist davon halten soll. Was soll die Schweiz, soll Europa tun? Heisst Pazifist zu sein, die Rüstungsausgaben auf Null zu senken, die Armee abzuschaffen, wie ich mir das vor 35 Jahren vorgestellt hatte? Dann wäre es wohl eine gute Idee, Russisch zu lernen – was zwar cool wäre, aber sicher nicht im Hinblick auf eine Invasion. Pazifismus ist Teil meiner demokratischen Werte, und kann also nicht bedeuten, dass ich mich lieber kampflos einem autoritären Machthaber unterwerfe, als mich zu wehren. Mich beschleicht der Verdacht, dass mein Pazifismus der letzten Jahrzehnte eine Art Luxus war, den ich mir leisten konnte in der Erwartung, dass die Amerikaner, vielleicht zusammen mit den Engländern, Franzosen und Deutschen, es dann schon richten. (Den gleichen Luxus leistet sich ja die SVP mit ihrer Ausprägung des Neutralitätsgedankens.) Und nun sind wir (wieder) konfrontiert mit einem narzisstischen US-Präsidenten, der Putin offen bewundert. Ich glaubte selbstverständlich, dass unsere gemeinsamen demokratischen Werte Europa einen und stark machen. Und nun sind wir konfrontiert mit der Tatsache, dass die Demokratie auch in Europa in die Defensive gerät – Ungarn und Italien haben bereits rechtsnationale Regierungen, Deutschland und die Atommacht Frankreich sind auf dem Weg dazu, alle mit dem demokratischen Segen ihrer Bevölkerungen. Anscheinend, wie es Min Li Marti letzte Woche im P.S. in Bezug auf Donald Trump formulierte, mögen die Leute, was ihnen charismatische Führerfiguren verkaufen. (Seltsam: Die gleichen Kreise, die vor 40 Jahren allenthalben die Unterwanderung durch «Moskau» wähnten, untergraben heute selbst die demokratische Ordnung in Bewunderung für das russische System.) Wenn nun Europa schleichend auseinanderbricht, viele Länder in die Hände unberechenbarer Narzisst:innen fallen, ist es dann aus pazifistischer Sicht eine gute Idee, ohne Militär dazustehen? Oder ist diese Idee nicht eher vergleichbar damit, die Haustüre unverschlossen zu lassen, damit die Einbrecher sie nicht kaputtmachen?
Narzissten nehmen sich, was sie können, weil sie es können, das habe ich von meinem Nachbarn gelernt. Sie verachten ihre Gegner so lange, wie sie ihnen auf der Nase herumtanzen können. Aber während man Leute mit anderen Persönlichkeitsstörungen in Kliniken steckt, macht man Narzissten zu Anführern. Dies können wir nun mal nicht ändern, aber wir müssen dafür sorgen, dass wir uns gegen sie wehren können, auf allen Ebenen.