Nur der Mann im Mond schaut zu

Wenn zum Schluss von «Verminte Seelen» die Stimmen von Verwahrungsopfern und ursächlich dafür Verantwortlichen im Originalton zu hören sind, entblösst die Tragweite ihre Zeitkomponente und verdeutlicht damit die Ausweglosigkeit.

 

Mario D., Ursula K., Caroline S. – Barbara-David Brüesch verwebt für «Verminte Seelen» über das reale Grauen von Tausenden «adminstrativ Versorgten» in der Schweiz drei Beispielschicksale zu einem thematisch dichten Teppich. Hier als Sinnbild dafür, wie jemandem der Boden unter den Füssen weggerissen werden kann. Der Refrain des Gutenachtlieds, mit dem Heinz Rühmann seinen Ziehson im Film «Wenn der Vater mit dem Sohne» in den Schlaf wiegt, prallt im Dokumentarstück des Theaters St. Gallen als dem Inhalt zuwiderlaufende Perspektive dagegen – erst recht in seiner tröstlichen Tonalität. Welches Verhalten rechtschaffen ist und welches korrigiert gehört, war in der Schweiz bis 1981 eine leicht zu beantwortende Frage. Im Zweifel wird unterjocht. Lehrern, Pfarrern, Gemeindeammännern oblag die vielfach willkürlich ausgelegte Macht, die sogenannte Ordnung aufrechtzuerhalten. Eine eigentliche (Straf-)Tat musste einer Verwahrung nicht zwingend vorangehen. Ein Verdacht respektive die vermeintliche Gewissheit über vererbbares Vagantentum, eine sich bestimmt entwickelnde Gewaltbereitschaft oder eine mütterliche Vorbelastung für unsittliches Verhalten konnten genügen, um junge Menschen, also Kinder, in die Endlosschlaufe einer menschenverachtenden Umerziehungsmaschinerie zu schicken. Ohne eine das Verdikt der Obrigkeit ergänzende Regelübertretung fand diese Versorgung ausserhalb der Jurisprudenz statt, eine Überprüfung war nicht vorgesehen. Einmal in der Mühle, war das Schicksal besiegelt. Fabian Müller, Birgit Bücker und Diana Dengler leihen den drei Beispielschicksalen von Mario D., Ursula K. und Caroline S. ihre Stimme. Pascale Pfeuti, Marcus Schäfer und Bruno Riedl ihre den (Adoptiv-)Müttern, (Stief-)Vätern und Amtsträgern. Die Kälte der technokratischen Amtssprache stellt einem noch heute die Nackenhaare auf. Dass für Erwachsene, in deren Obhut die Kinder überantwortet wurden, Prügelstrafen, sexuelle Ausbeutung, Nahrungsentzug und weitere heute längst unter körperliche und/oder psychologische Tortur bis Folter fungierende Taten selbst dann noch folgenlos blieben, als diese faktenreich belegt waren, vermittelt eine eindringliche Ahnung von der alles durchdringenden Ohnmacht. Den Heranwachsenden ihrerseits bleiben allein Fluchten. Physisch, psychologisch oder in den Suizid. Die direkte Gegenwehr steigert nur das Strafmass. Im (Schau-)Spiel überwiegt erstaunlicherweise ein Überlebenswille, der bis zu einem gewissen Grad als positiv konnotiert erlebbar ist. Selbst wenn dieser die Form von Selbstbetrug annimmt. Die Regie bemüht sich erfolgreich darum, die Monstrosität der hier verhandelten Abgründe in eine Form zu überführen, die für das Publikum als Balance lesbar wird: Zwischen der Betonung der inhaltlichen Dringlichkeit und dem Aushaltbaren im Rahmen einer Abendunterhaltung. Dramaturgisch geschickt wechseln sich Schreckensszenarien mit der Darstellung von Wunschfantasien oder sogar realen Ausbrüchen in Augenblicke von gelebter Freiheit ab. Die Uniformität der Ausstattung – Bluejeans, weisses Shirt, grauer Pulli – überführt die konkreten Beispielschicksale in eine Universalität, die nicht nur auch die SchauspielerInnen der Erwachsenenrollen einschliesst, sondern damit auch die Grössenordnung der Anzahl der von diesem schreienden Unrecht betroffenen Personen intuitiv als riesig erfahrbar macht. Und damit das Wesen von Willkür vermittelt. In der Auswahl der zu Bestrafenden. In der Wahl der Strafe. Und in der Zufälligkeit, selber davon verschont geblieben zu sein. Und sei es bloss durch die Gnade einer späten Geburt …

 

«Verminte Seelen», 1.3., Theater Winterthur.

 

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