Non gettare carta

Gerne und oft wird darüber berichtet, was oben rein geht – Kulinarik ist mindestens seit den 1950er-Jahren im Schwang –, und wie vielfältig sich das Essen gestalten lässt. Auch der Darm schafft es unterdessen (etwa «mit Charme») auf die Bestsellerlisten. Eher nicht so viel hört man vom rückwärtigen Ende des menschlichen Stoffwechsels, bzw. gilt das dann eher als lästig bis unflätig. Begreiflich! Der Mensch ist ja kein Hund, der in seiner Artgenossen Hinterlassenschaften gerne «Zeitung liest». 

Dennoch ist die Diskretion um die Geschehnisse auf dem stillen Örtchen weder besonders alt noch universell. Erst kürzlich zeigte die Wanderausstellung «Ausser Gebrauch» neben anderen obsolet gewordenen Geräten wie dem Wählscheiben-Telefon eine hölzerne Zwillings-Klobrille (vielleicht der Ursprung der heute nicht mehr recht einleuchtenden Bezeichnung?). Vor rund zweihundert Jahren fand man also nichts dabei, sich in trauter Zweisamkeit zu entleeren… Carlo Levi berichtete in «Cristo si è fermato a Eboli» über den Ort seiner Verbannung durch die Faschisten im Süditalien der 1920er-Jahre: In jener mausbein-armen Dorfgemeinschaft gab es weder fliessendes Wasser noch sonstige Abtritte. Man benutzte einen Nachttopf, und dieser wurde am Morgen, wie nach einer «geheimen Choreografie», aus jedem Haus um die gleiche Zeit ohne Vorwarnung durchs offene Küchenfenster auf die (unbefestigte) Strasse gekippt… Eine «Unverschämtheit» erlebte ein Freund in heutiger Zeit, dessen Peristaltik in einem noblen Häuschen in Thailand durch einen flugs herbeigeeilten Rücken-Masseur Unterstützung erfuhr, was zunächst das Gegenteil der beabsichtigten Entkrampfung bewirkte… 

Tabu sind gemeinsam bezeugte Vorgänge solcher Art trotzdem (was sich nicht zuletzt an der Eignung von Fäkalsprache für Schimpfwörter und Witze, d.h. zum Tabu-Bruch, zeigt). Das Tabu soll ja etwas in aller Klarheit zutage Liegendes zum Unberührbaren machen. Ob dieses hinter Bewusstseins- und Sprechverbote oder hinter handfeste Schlösser und Riegel verbannt wird, handhaben verschiedene Kulturen offenbar anders, und innerhalb der kulturellen Schranken gibt es auch divergierende Empfindlichkeiten. (Eine Freundin von mir wollte jedenfalls nichts von einem  lustigen und lesenswerten Buch wissen, in dem ein urtümliches Volk neben anderen Verschrobenheiten allmorgendlich eine Shitting-Beach aufsucht und das dort Vollbrachte ausführlich diskutiert.) 

Als Kind dachte ich zum Thema wohl altersgemäss borniert. Die früher übliche «Knebelschiissi» aus den Erinnerungen meines Vaters wähnte ich in abgeschlossener Vergangenheit. Bald wurde ich in den Stehklos italienischer Gaststätten eines Besseren belehrt. Den allerorten handschriftlich angebrachten Hinweis «Non gettare carta!!» verstand ich aber nicht, obwohl der darunter platzierte Papierkorb die Bedeutung in anschaulicher Dinglichkeit illustrierte. «Wer wirft den Karten – was für Karten überhaupt? – ins Klo …», fragte ich mich in ungetrübt naiver Überheblichkeit. Dem Tabu ist es wohl anzulasten, dass ich niemanden um Aufklärung bat. Als ich es endlich begriff, fand ich es abgründig eklig und unbegreiflich unkultiviert angesichts der sonst allgegenwärtigen italienischen Eleganz.

Am hiesigen Ferienort praktiziere ich den Brauch gewissenhaft (und dank Treteimer praktisch geruchlos). Denn die Insel besitzt keine Kanalisation: Alles Abwasser wird zur Läuterung durch dünne – d.h. verstopfungsanfällige – Abflussrohre in unterirdische Sickerhöhlen im Vulkangestein geleitet. Da frage ich mich: Sollten wir nicht auch in Nordeuropa das Papier von den Kläranlagen fernhalten? Das würde sicher die Reinigung vereinfachen, und zumindest in Zürich käme auch der Fernwärme dienliches Brennmaterial ohne Umweg in den Kehricht.