- Ein Blick zurück mit …
«Nie aufgeben, um weiterzukommen»
Dass es im Haus, wo Agnes Guler wohnt, keinen Lift gibt, scheint der 100-Jährigen nichts auszumachen. Im Gegenteil: Das Treppensteigen in den dritten Stock, wo sie ihre Wohnung hat, halte sie sogar fit. Auf ihrem Esstisch liegt eine aufgeschlagene P.S.-Ausgabe. Die Altkantonsrätin kennt Rebekka Wyler, die jüngst als SP-Co-Generalsekretärin zurücktrat und dazu im P.S. interviewt wurde, noch aus Zeiten, als Rebekka Wyler noch im Juso-Vorstand und Agnes Guler im Parteivorstand der SP 10 war. Daneben liegt ihr Parteibüchlein, das ihre Mitgliedschaft und ihr Eintrittsdatum im Jahr 1953 bestätigt – ein Objekt, das heute längst nicht mehr existiert. Zur SP kam sie aber erst, als sie nach Zürich zog – in Graubünden, wo Agnes Guler aufgewachsen war, wurden damals noch keine Frauen in die Bündner SP aufgenommen. Gewerkschaftlich organisiert war sie zwar bereits, sie hatte zuvor in einer Wolldeckenfabrik in Sils gearbeitet und dort an einem Fabrikstreik ihren Mann kennengelernt, aber aufgrund des Widerstands gegen die schlechten Arbeitsbedingungen und sozialen Ungerechtigkeiten fanden die beiden im Bündnerischen keine Arbeit mehr – und so zogen sie nach Zürich, in dieselbe Genossenschaft, in der die 100-Jährige heute noch wohnt. Es sei keine einfache Zeit gewesen, auch für sie persönlich: Agnes Guler musste jung viele Schicksalsschläge erleben und verlor früh sowohl Geschwister als auch ihre Mutter, später auch ihren Lebenspartner. Weitergehen musste es trotzdem.
Eine protestreiche Zeit
Agnes Gulers politisches Engagement nahm in jener Zeit Fahrt auf, in der es insbesondere um die Erkämpfung des Frauenstimmrechts ging, weshalb sie besonders aktiv in den Frauengruppen der SP war. Es sei eine protestreiche Zeit gewesen. Als das Frauenstimmrecht schliesslich erarbeitet respektive erkämpft war, wurde es bald auch konkreter mit der politischen Karriere. Agnes Gulers Kinder waren schon Jugendliche, als sie 1980 im Kantonsrat nachrückte. Bei den Wahlen 1979 war sie auf der SP-Liste erster Ersatz, und bevor Walter Zogg seinen Rücktritt verkündet hatte, wurde Agnes Guler von ihm gefragt, ob sie denn überhaupt nachrücken würde – ansonsten würde er gar nicht zurücktreten. Für sie war klar: «Man kann nicht für das Frauenstimmrecht kämpfen und dann ablehnen – man muss Verantwortung übernehmen.» Und das tat sie: Sie wurde zwei Mal wiedergewählt und schied nach elf Jahren altersbedingt aus dem Rat. Die Verwirklichung eines Vorstosses, den sie vorgebracht hatte, sah sie erst später: Die Stabsstelle für Frauenfragen – heute die Fachstelle für Gleichstellung. Man merkt ihr an, dass sie stolz auf diese Errungenschaft ist, wenn sie auch stets mit viel Bibbern verbunden war, weil die SVP in den Budgetdebatten die Finanzierung der Stelle immer wieder streichen wollte. Die Angriffe auf Agnes Gulers Arbeit konnten jedoch abgewehrt werden.
Generell ist die Arbeit für Agnes Guler ein wichtiges Thema. So war sie zum Beispiel auch aktiv in den Dreh des Films «Eine andere Geschichte» von Tula Roy involviert, der von der vielen Arbeit engagierter Frauen im Kampf um das Frauenstimmrecht erzählt und dem Narrativ von der unpolitischen Frau am Herd entgegenwirkt. Ihre Rede, die sie für die Premiere des Films im Jahr 1995 schrieb, hat sie heute immer noch. Und gerade wenn es um die Erkämpfung des Frauenstimmrechts geht, erinnert sich Agnes Guler an viele Absurditäten dieser und der nachfolgenden Zeit. So zum Beispiel an ein Erlebnis um eine Regierungsratswahl, als sie mit ihren Genossinnen der SP-Frauen auf der Pestalozziwiese zum Flyern verabredet war. Eine Frau hatte Agnes Guler einen Flyer nicht abnehmen wollen, weil sie trotz dem neu errungenen Frauenstimmrecht nicht abstimmen wollte. Die Frau noch in der Nähe, tauchte eine Gruppe «junger Schnösel» auf und kanzelte die flyernden SP-Frauen mit Machogehabe ab. «Wir brauchen keine Hühner im Regierungsrat.» Die Frau, die den Flyer zuvor ausgeschlagen hatte, drehte sich um, nahm Agnes Guler den Flyer doch ab, und meinte zum Schnösel: «… weitere Güggel aber auch nicht!» Gerade die Zeit des Kampfs für das Frauenstimmrecht hat Agnes Guler als sehr bewegte Zeit in Erinnerung. Aber auch sonst blickt die Hundertjährige auf bewegte Zeiten zurück, so etwa auf die Jugendunruhen der 1980er-Jahre – sie sass zu genau dieser Zeit im Kantonsrat. Vielleicht konnte sie deshalb nie ihr politisches Engagement ganz loslassen, und so war Agnes Guler bis vor zehn Jahren in der SP60+ aktiv.
Heute geht es für Agnes Guler schliesslich aber doch etwas weniger um Politik. So freut sie sich zum Beispiel darüber, dass sie noch regelmässig ins Aquafit geht – und auch darüber, dass ihr Sportaktiv anlässlich ihres 100. Geburtstags ein Jahresabo geschenkt hat. Dass um ihren hundertsten Geburtstag aber so viel los sein wird mit Medienanfragen oder der Ehrung für 70 Jahre Mitgliedschaft bei der SP hätte sie aber doch nicht erwartet. Diese Wertschätzung sei eine grosse Erfüllung für sie – und zeigt vielleicht auch das Resultat ihrer Lebenseinstellung: «Nie aufgeben, um weiterzukommen.» Mit hundert Jahren ist man schliesslich durchaus weit gekommen.