Nicht ärgern, nur wundern

Veränderungen gegenüber kann man sich komplett verweigern, sie bis zur eigenen Lachhaftwerdung antizipieren oder sie, als weltzugewandter Humanist, als solche hinnehmen und dabei ins Grübeln geraten, wie das Lorenz Keiser tut.

 

Das neuste Soloprogramm von Lorenz Keiser ist eigentlich eine aktuelle Auflistung der neusten menschlichen Erfindungen, um sich und allem um sich herum das Leben zu erleichtern. Gerade wenns da­rum geht, die anvisierten Ziele für ein idealeres Dasein nicht genauso schnell wieder fallen zu lassen wie die Neujahrsvorsätze jeweils am dritten Januar. So praktisch viele dieser Neuerungen sind – Dating-Apps für Stotterer, Sonnenbrillen für Hunde, Grünanstriche für sogenannt Liberale und Tutorials zur Herstellung von beispielsweise Flammenwerfern – finden sich darunter mitunter doch auch eigenartige Übertreibungen, deren Sinnhaftigkeit sich nicht auf Anhieb allen erschliesst. Zuallererst begrüsst er die Pflegefachkräfte, als endlich zweite Berufsgruppe neben den KünstlerInnen, denen Applaus statt entgeltlicher Wertschätzung neuerdings genügen und ihr Auskommen sichern soll. Doch Covid 19 ist glücklicherweise nicht das dominierende Thema von «Wobisch?!» Sein Bekannter Marco, der ihn ständig auf dem Handy anruft, um beispielsweise Ratschläge gegen die ständig missglückenden Erstdates zu erbitten, ist neben der Influencerin Scarlet «Sexybabe» Hugentobler, die minütlich den neusten heissen Scheiss in die digitale Welt absondert, wie etwa Pushup-Einlagen aus Blumenkohl, eine seiner Figuren. Ungeschlagen in der Komik allerdings ist der Appenzeller, dem eine Verköstigungshostess im Einkaufsparadies den zukunftsträchtigen Verzehr von Insekten beliebt machen möchte, worauf dieser die Neuheit als alten Zopf entlarvt: «Grille ässed mir scho lang, die störed de Mittagsschlaf.»

 

Modeerscheinungen

Lorenz Keiser schaut mit Vorliebe hinter die glänzende Fassade der Werbeversprechen, die neuerdings alle alles als nachhaltig verkaufen wollen. Die einen übertreibens, wie die Fast-Fashion-Hersteller mit der Baumwolle. Was soll daran nachhaltig sein? Die kürzeren Abstände zwischen den Rauchpausen für die Kinderpflücker? Andere wiederum verpassen es komplett, auf diesen Zug aufzuspringen, und ihre Erfolge marketingmässig auszuschlachten. Der weltgrösste CO2-Sparer etwa war in jüngster Zeit der Flugzeughersteller Boeing. Eine ganze Flotte von 737-Max steht seit über einem Jahr bloss herum, was das spart… Dass gewisse Schlussfolgerungen von Lorenz Keiser mehr als bloss sarkastisch sind, ist keine «breaking news». In der erträglichen, losen Kadenz, in der er zum rhetorischen Zweihänder greift, bleibt ausreichend Raum und Zeit, um als Publikum das Unterscheiden zu lernen. Ob der Kabarettist, der zynische Gegebenheiten zerpflückt, zwingend selber Zyniker ist etwa. Ihn stört ganz offensichtlich die allgemeine Gedankenlosigkeit, die teilweise von der Digitalisierung noch begünstigt wird. Als Beispiel nimmt er – mit Showeinlage! – die in den 1970er-Jahren irrsinnig erfolgreiche Formation «Boney M.», deren Musik ihn äh, nun ja, nicht gerade begeisterte. Er sucht deren Nummer im Telefonbuch, schreibt veraltete Wählbewegungen in die Luft, und als er völlig wider Erwarten einen Musiker am Draht hat, sind seine Hemmungen, seine beleidigende Schimpftirade abzulassen, grösser als die Wut im Bauch und das Gespräch wird ganz gesittet bis nahezu interessant. Wenn sich Lorenz Keiser auch nicht gegen den Fortschritt in all seiner Ausprägung stemmt, so ist er bezüglich der grundsätzlichen Werte doch recht verbohrt. Was immer schon galt, um ein möglichst freundliches zwischenmenschliches Zusammenleben zu erleichtern, hat nicht plötzlich seine Gültigkeit verloren, nur weil man neuerdings in der eigenen Küche vereinsamenkann, weil Siri und Alexa am liebsten direkt miteinander plaudern.

 

Lösungsansätze

Gewisse Herausforderungen der Zeit sind in der Tat sehr komplex, das muss selbst er zugeben. Aber statt sich bloss darüber zu mokieren, sucht er – stellenweise kampfeslustig verbissen – nach Lösungsansätzen. Dabei kommt er aber doch nicht ganz umhin, sich über den Menschen als solchen zu wundern. Seit nunmehr zwanzig Jahren stolpern wir von Apokalypse zu Apokalypse, und wenn sich keine aktuelle Krise zu einer emporstilisieren lässt, so gibts bestimmt lautstarke Gruppen mit nicht zwingend selbstdeklarierten Eigeninteressen, die eine verhältnismässige Petitesse so einer solchen aufbauschen. Beispiel Personenfreizügigkeit: Eine Million Einwanderer seit 2006. Europa hat 750 Millionen EinwohnerInnen – wo sind die restlichen 749 Milllionen geblieben? Aus seiner politischen Selbstverortung hat er noch nie ein Geheimnis gemacht, was aber nicht heisst, dass er seine Watschn nur einseitig verteilt. Schliesslich sind Linke per se auch keine besseren Menschen. Ganz zum Schluss schliesst sich der Kreis und er findet den Ursprung für die allgemeine Orientierungslosigkeit. Uff!

 

Lorenz Keiser: «Wobsich?!», bis 1.11., Theater Hechtplatz, Zürich. www.lorenzkisser.ch

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