- Kultur
Neuverortung
Nachdem Michael Elber das Theater Hora in zwanzig Jahren Arbeit von der damals noch geschützten, aber auch in sich geschlossenen Werkstatt in eine publikumswirksame professionelle Theatercompagnie verwandelt hatte, katapultierte Jérôme Bel den eigentlichen Ausbildungsbetrieb 2012 mit dem «Disabled Theatre» in komplett neue Sphären. Die damit erlangte internationale Beachtung, der zahlreiche weitere Kooperationen mit einschlägig bekannten Regiepersonen nach sich zog, stellte sowohl eine wahnsinnige Chance dar, als dazu auch das Risiko einer vollkommenen Überforderung der strukturellen und personellen Möglichkeiten proportional wuchs. Das Theater Hora stand in mehrerlei Hinsicht an einem Scheideweg: Die Grundidee einer Schauspielausbildung stiess strukturell an eine Decke, weil für eine Fortführung individueller Karrieren unter anderem auch die Bereitschaft der deutschsprachigen Theater faktisch nicht vorhanden war, jemanden aus dem Hora im eigenen Ensemble zu engagieren. Und die langjährige zentrale Bemühung des Gründers, die kognitiv beeinträchtigten Schauspieler:innen einerseits weg vom Amateurgrüppchen als im selben Atemzug auch weg von der Freakshow in eine ernstzunehmende Bühnenwerke erarbeitende Truppe zu verwandeln, drohte durch die strenge Hierarchisierung des Star-orientierten Business in einer umfassenden Fremdbestimmtheit zu versinken. Die internen Anstrengungen, dieses kolossale Dilemma zu bändigen und das Beste aus allen Ebenen nach Möglichkeit zu kombinieren, war in den jüngeren Jahren ein zentrales Bestreben von teils grossen und auf lange Dauer ausgelegten Projekten, denen aber oft die Aussenausstrahlung fehlte. Mit «Leonce und Lena – Hora total» ist nun ein Projekt bis zur Bühnenreife entwickelt worden, das die maximale Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit bezüglich (annähernd) sämtlichen involvierten Belangen im Sinn führte. Je jemand aus dem Team oder extern hinzugezogene Expert:innen erarbeiteten in grösstmöglich basisdemokratischer Teilhabe (ausser in der Entwicklung der arbeitsagogischen Struktur und deren faktischen Koordination) der im Kern die Hauptpersonen darstellenden Spieler:innen mit kognitiver Beeinträchtigung alles an dieser Produktion, von der Stückfassung bis zu Licht und Bühnenbild in Eigenregie. Georg Büchners Handlungsstrang ist ultrakomprimiert vereinfacht, die teils nur schwer verständliche verbale Artikulation wird mit Übertiteln aufgefangen. Das Resultat bewegt sich weg von der einseitigen Fokussiertheit auf klassisches Sprechtheater hin zur formal vielseitig offenen Gesamtperformance. Eine sichtbare nachgerade anarchistisch anmutende Verspieltheit erinnert an den Dringlichkeitsausdruck früheren Agitprops, was eine nicht zu unterschätzende darstellerische Qualität darstellt und zugleich einen ernstzunehmenden Charme verströmt. Dies verweist auf eine sehr selbstbewusste Kunstherstellung, trägt aber auch das Risiko aller Zeitgenossenschaft in sich, vom Publikum die Bereitschaft einer intuitiven Wahrnehmung einzufordern. Erst ein Etappenziel, aber von aussen besehen ist es das erste eines vielversprechenden Weges.
«Leonce und Lena – Hora total», bis 3.11.,
Fabriktheater, Zürich.