Neue Praxisregel

Zürich als «Werkplatz der Zukunft»: Auf dem Weg zu diesem Ziel hat die Baubewilligungsbehörde ihre Praxis angepasst. Bei Produktionsflächen in der Industrie- und Gewerbezone muss statt auf einem Anteil von 55 Prozent nur noch auf einem Drittel tatsächlich produziert werden. Auf dem Rest ist eine betriebszugehörige Nutzung erlaubt. Das schafft mehr Platz für das ‹moderne› Gewerbe. 

 

Im Auftrag des Hochbaudepartements und der Stadtentwicklung der Stadt Zürich haben Thomas von Stokar, Vanessa Angst und Gina Spescha vom Büro Infras eine Studie mit dem Titel «Nutzungen in den Industrie- und Gewerbezonen der Stadt Zürich. Zeitgemässe Definition» erstellt. Die Projektleitung hatte der Departementssekretär des Hochbau-departements, Urs Spinner, inne, und die Begleitgruppe setzte sich aus Mitarbeitenden sowohl dieses Departements wie auch der Stadtentwicklung, des Amts für Städtebau und des Amts für Baubewilligungen zusammen. Der Auftrag an die AutorInnen ist in der Einleitung zusammengefasst: «Die vorliegende Studie soll (…) erstens eine zeitgemässe Abgrenzung industrieller und produzierend-gewerblicher Betriebe von Dienstleistungs- und Handelsbetrieben vornehmen und zweitens die Praxisregel auf ihre Zukunftsfähigkeit überprüfen.»

 

Taugliches Kriterium?

Die sogenannte Praxisregel besagt folgendes: In den Zonen für Industrie und Gewerbe werden «dienstleistungsbezogene Tätigkeiten», zum Beispiel Forschung und Entwicklung, Marketing, ICT oder Leitung und Administration zugelassen, «wenn ihre Nutzfläche maximal 45 Prozent der Gesamtbetriebsfläche beträgt». Der grösste Teil der Fläche, nämlich die restlichen 55 Prozent, ist für die Produktion gedacht. Das bedingt natürlich, dass sich Produktion und Verwaltung bzw. sonstige Tätigkeiten scharf voneinander abgrenzen lassen – doch genau das ist laut Studie zunehmend anspruchsvoll.

 

Entsprechend wollten die AutorInnen wissen, ob die genannte Flächenzuteilung heutzutage überhaupt noch ein «taugliches Kriterium» ist, um einen Betrieb als der Industrie respektive dem produzierenden Gewerbe zugehörig qualifizieren zu können. Oder anders gesagt: Was zeichnet einen ‹modernen› Industrie- und Gewerbebetrieb aus, und wie unterscheidet er sich von einem ‹klassischen› Betrieb, beispielsweise einer Schreinerei, einem Malergeschäft oder einer Autogarage? Die AutorInnen führten dazu eine «Felduntersuchung» bei 30 Zürcher Unternehmen durch. Schliesslich befassten sie sich auch noch mit der Frage, wie andere Schweizer Städte bestimmen, ob «zeitgemässe Industrie- und produzierende Gewerbebetriebe» zonenkonform sind oder nicht.

 

Ebenfalls relevant ist in diesem Zusammenhang die Frage, welche Ziele die Stadt früher mit dem Ausscheiden von Industrie- und Gewerbezonen verfolgte und welche heute im Vordergrund stehen. Dazu muss man wissen, dass die jüngste Zürcher Bau- und Zonenordnung (BZO) von 2016 drei Typen von Indu-strie- und Gewerbezonen (IG) vorsieht, die sich im Anteil der maximal zulässigen Ausnützungsziffer für Handels- und Dienstleistungsnutzungen sowie in der Höhe der Freiflächenziffer unterscheiden. Die Zone IG I entspricht der bisherigen Zone I, die Zonen IG II und IG III ersetzen die Zone IHD, in der Handels- und Dienstleistungsnutzungen uneingeschränkt zulässig sind.

 

Was brauchen moderne Betriebe?

Laut Günther Arber von der Stadtentwicklung Zürich hat sich der Stadtrat bereits 2007 dafür ausgesprochen, die noch bestehenden Flächen fürs produzierende Gewerbe in der Stadt Zürich zu sichern. Dieser Entscheid schlug sich später auch in der «räumlichen Entwicklungsstrategie» (RES) von 2010 nieder und fand Eingang in den regionalen Richtplan sowie in die jüngste Bau- und Zonenordnung.

 

Nichts ändern können diese Bemühungen allerdings an der Tatsache, dass die Industrieareale in den letzten Jahren, vor allem aber seit 1995, immer weniger werden: 1995 setzte der Kanton dem jahrelangen Streit um die von der Zürcher Stimmbevölkerung angenommene Bau- und Zonenordnung (BZO) von Hochbauvorsteherin Ursula Koch ein Ende, indem er eine eigene verfügte, die nach dem damaligen kantonalen Baudirektor Hans Hofmann benannte «BZO Hofmann». Die Folgen sind bekannt: Während Ursula Koch Dienstleistungsbetrieben den Zugang zu Industriezonen verwehren wollte, wurde mit der BZO Hofmann im Norden und vor allem im Westen der Stadt aufgezont, was das Zeug hielt, und die Industriezonen wurden für Dienstleistungen geöffnet.

 

Doch zurück zur Studie: Während die klassischen Handwerksbetriebe meist mit Flächen im Erdgeschoss, genügend Starkstromanschlüssen und wenig lärmsensi-blen Nachbarn zufrieden waren, braucht das ‹moderne› Gewerbe, zu dem etwa High- und Cleantechbetriebe, die Herstellung von Prototypen oder die Produktion von Computergames gerechnet werden, häufig andere Rahmenbedingungen.

 

Klassische Betriebe wiederum benötigen zwar insgesamt kaum weniger Platz, aber die Aufteilung der Fläche hat sich geändert: Oft nimmt die eigentliche Produktion weniger Raum ein, während sich gleichzeitig das, was einst ‹das Büro› war, zur Abteilung «Verwaltung, Marketing und Kommunikation» gewandelt hat und zusätzlich um die Abteilung «Forschung und Entwicklung» ergänzt wurde.

 

Ein-Drittel / Zwei-Drittel-Regel

Diesen Veränderungen sollen die neuen Praxisrichtlinien Rechnung tragen, welche die Bausektion am 27. März genehmigt hat, wie Spinner ausführt: Die Abgrenzung Produktion/Dienstleistung erfolgt nach wie vor über die Flächenaufteilung, doch gilt neu die Ein-Drittel / Zwei-Drittel-Regel. Ein Drittel (statt 55 Prozent) der Fläche muss industriell-gewerblich genutzt werden. Bei den restlichen zwei Dritteln muss es sich um «betriebszugehörige Nutzflächen» handeln, erklärt Reto Nutt, Jurist im Amt für Baubewilligungen: «Der Verwaltungssitz eines Industriekonzerns, der am Standort Zürich nichts mehr produziert, ist nur im Rahmen der Ausnützungsziffer für Handels- und Dienstleistungsnutzungen zulässig.» In IG-Zonen grundsätzlich nicht zugelassen sind beispielsweise Wohnungen, Hotels oder Spitäler.

 

Bleibt noch die Frage danach, ob die Richtlinien ein «taugliches Instrument» sind, um den Werkplatz Zürich zu stärken. Die neue BZO ist bekanntlich zwar vom Gemeinderat verabschiedet, doch es sind Rekurse hängig: Einige Grundbesitzer in der Zone IHD wehren sich, weil sie in einer der neuen IG-Zonen keine reinen Büronutzungen mehr einquartieren, sprich potenziell weniger verdienen könnten.

 

Umgekehrt gibt Reto Nutt zu bedenken, dass mit den alten Praxisregeln etliche Baugesuche abschlägig beantwortet werden mussten, weil der reine Produktionsanteil zu tief war – obwohl es sich um Betriebe handelte, die man «selbstverständlich» dem Gewerbe zurechnen würde: «Diese haben nach den neuen Regeln definitiv bessere Karten.»

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