(Neo-) kolonialistische blinde Flecken
Mit der Ausstellung «Blinde Flecken: Zürich und der Kolonialismus» lädt das Stadthaus ein zu einem Rundgang durch das koloniale Erbe der Stadt – und will zur Selbstreflexion anregen.
«Kolonialismus heisst Gewalt» und «Zürich ist beteiligt», steht es in dicker schwarzer Schrift auf den gelben Absperrbändern, die dieser Tage über das Atrium des Stadthauses gespannt sind. Nach der Uni-Studie über koloniale Verstrickungen der Familie Escher und der (hängigen) Abdeckung rassistischer Häuserinschriften im Niederdorf ist die Ausstellung «Blinde Flecken: Zürich und der Kolonialismus» ein weiterer Schritt in der Auseinandersetzung Zürichs mit seinem kolonialen Erbe. Das Motiv des Gelben Bandes, das auch die Aussenfassade des Stadthauses schmückt, übernimmt in der Austellung die Funktion eines roten Fadens und ist bewusst gewählt: «Die gelben Bänder als Sinnbild können ausgrenzen, aber ebenso Verbindungen schaffen», erklärt das Kurator:innen-Team, das aus der Historikerin Manda Beck, dem Historiker Andreas Zangger, der Antirassismus-Expertin Anja Glover und der Kunst- und Kulturforscherin Marilyn Umurungi besteht.
Historische Verschlingungen
Und so findet man die sich kreuzenden, ineinander verschlungenen Bänder auf dem Gang um die Galerie immer wieder. Sie führen beispielsweise zu einer an der Wand angebrachten Weltkarte, genauer nach Britisch-Ostafrika, wo Bauherr Alwin Schmid in der Zwischenkriegszeit die nach eigenen Angaben grösste Kaffeeplantage Afrikas errichtete und in seinem Kaufhaus an der Sihlporte unter die Leute brachte. Oder nach Indien, wo Leonhard Ziegler, der «Soldatenmillionär von Kalkutta», hundert Jahre früher Indigo für die Schweizer Textilindustrie anpflanzte und bei Nachlässigkeiten seiner Arbeiter:innen auch gerne einmal zur Reitpeitsche griff. Oder nach Südafrika, wo die Schweizer Bankiers Niklaus Senn und Max Saager der weissen Regierung Kredite sprachen und damit dazu beitrugen, dass die Apartheid nicht schon in den 1980er-Jahren ihr Ende fand.
Auch auf der anderen Seite der Ausstellung hängt eine zweite Karte, diejenige der Stadt Zürich. Hier führen die gelben Bänder zu Orten in der Stadt, an denen die Folgen des Kolonialismus noch heute zu sehen oder zu spüren sind: An die Langstrasse, wo asiatische und afrikanische Prostituierte mit rassistischen Stereotypen – als exotisch, wild oder untergeben – präsentiert werden, ins Letzigrund, wo schwarze Fussballer:innen in der jüngeren Vergangenheit mit Bananen beworfen wurden, oder zur prunkvollen Villa Patumbah im Seefeld, die sich Bauherr Karl Fürchtegott Grob dank lukrativem Tabakbau auf Sumatra – auf Kosten von Mensch und Natur – hatte leisten können.
Rund ums Atrium haben die Kurator:innen reihenweise gelbe Plakate an den Wänden angebracht. Sie behandeln Teilaspekte des (Neo-)Kolonialismus und erläutern, in welchem Zusammenhang diese mit Zürichs Vergangenheit stehen: Sklaverei, wirtschaftliche Ausbeutung, Kolonialarmeen, Menschenzoos oder Blackfacing am Sechseläuten. Die Texte sind sachlich und informativ, oft erschreckend, aber manchmal wirkt es beim Lesen, als hätten sich die Kurator:innen mit ihrem breiten Themenspektrum zu viel vorgenommen und es wird klar, dass man den zweiten Stock des Stadthauses auch durchaus mit Plakaten zu einem einzigen der Teilaspekte hätte füllen können. Apropos füllen: Die Lücken zwischen oben erwähnten gelben Plakaten füllen kleinere, graue Zettel mit Fragen, die zur Selbstreflexion ermuntern sollen: «Woher kommen die Kleider, die ich trage?», «Welche Gefühle habe ich geflüchteten Menschen gegenüber?», «Muss ich Verantwortung übernehmen für das, was meine Vorfahren gemacht haben?»
Sauer aufgestossen
Während die Einträge im Gästebuch am Ende des Rundgangs zum allergrössten Teil positiv ausfallen, stossen die «Blinden Flecken» einigen ausserhalb des Stadthauses sauer auf. Die NZZ am Sonntag beispielsweise widerlegt eine Behauptung, die in der Ausstellung gar niemand macht: Nämlich, dass die Schweiz eine Kolonialmacht sei. Ausserdem müsse die Beteiligung Zürichs an der Sklaverei schon fast als Boykott derselben verstanden werden – schliesslich seien Zürcher Unternehmer bloss an der Verschleppung, Ausbeutung und Versklavung von 37 572 Menschen mitverantwortlich gewesen – eine Marginalie also, kaum erzählenswert, im Vergleich zu den knapp 13 Millionen Menschen, die zwischen 1525 von Afrika nach Amerika verschifft wurden. Ähnlich klingt es auch bei der ‹Weltwoche›, die «religiöse Züge» in der «zeitgeistig moralisch aufgeladenen» Ausstellung wittert und mutmasst, dass die Kurator:innen vor allem bestrebt gewesen seien, die Bedeutung der Stadt Zürich im Kolonialismus zu überhöhen. «Frei nach dem Motto: Auch wir dürfen schuldig sein.»
Wer für sich selbst herausfinden will, ob Zürcher:innen von früher und heute denn schuldig sein dürfen, sollen oder sind, kann dies noch bis am 15 Juli 2023 im Stadthaus tun. Der Eintritt in die Ausstellung ist frei.