Nehmen Sie Platz Madame!

Am 7. Februar 1971, also ziemlich genau vor 50 Jahren, sagte die männliche Schweizer Stimmbevölkerung endlich Ja zum Frauenstimmrecht. Anlässlich des diesjährigen Jubiläums sind gleich drei Bücher zum Thema publiziert worden. Sie beleuchten das Frauenstimmrecht, den Feminismus und die Schweizer Frauengeschichte aus unterschiedlichen Perspektiven und offenbaren allerlei Überraschendes, Inspirierendes, Ermutigendes und aber auch Empörendes.

 

Fabienne Grimm

50 Jahre – in gewissen Bereichen mag das viel Zeit sein. Wenn man sich beispielsweise vorstellt, wie es wäre, 50 Jahre in Quarantäne verbringen zu müssen. Da fühlen sich bereits zwei Wochen an wie eine Ewigkeit. In anderen Bereichen wiederum, beispielsweise wenn es um die Einführung des Frauenstimmrechts geht, gleichen 50 Jahre eher einem Wimpernschlag – oder, etwas profan ausgedrückt, einem Mückenschiss. 

Als Teil der sogenannten Millennials stand die Existenz des Frauenstimmrechts für mich nie infrage. Sie war eine Selbstverständlichkeit. Wohl deswegen habe ich mir über das Frauenstimmrecht und die Konsequenzen, die dessen späte Einführung für so viele Frauen in der Schweiz gehabt hat, nie viele Gedanken gemacht. So war ich dann auch bereits Anfang zwanzig, als mir die Bedeutung des Jahres 1971 zum ersten Mal richtig bewusst geworden ist. Ich sass im ersten Seminar meines Geschichtsstudiums. Doziert hat das Seminar ein Gastprofessor aus Südfrankreich. Inmitten seiner Ausführungen über die Industriepolitik Frankreichs bemerkte er, wie erschüttert er gewesen sei, als er das erste Mal erfahren habe, wann in der Schweiz das Frauenstimmrecht eingeführt worden sei. Er habe es schlicht nicht glauben können. Zuerst musste ich lachen, doch angesichts der Ernsthaftigkeit in seinem Gesicht trat mir Tragweite der Zahl 1971 plötzlich ganz deutlich vor Augen. Wieso weiss ich eigentlich fast nichts über die Frauengeschichte in der Schweiz? Wieso wurde dieses wichtige Thema in der Schule nie besprochen? Wieso fallen mir von jenen Frauen, die für das Frauenstimmrecht gekämpft haben, praktisch keine Namen ein? Und wieso um Himmelswillen wurde das Frauenstimmrecht in der Schweiz derart spät eingeführt?  All diese Fragen schossen mir damals im Seminarraum durch den Kopf. 

Ich weiss, dass ich mit meiner Unwissenheit nicht die Einzige war. Es bestand damals und besteht auch heute noch diesbezüglich ein grosser Nachholbedarf. Wer sich also mit der Frauengeschichte der Schweiz, dem Feminismus und dem Frauenstimmrecht auseinandersetzen will, hat jetzt die beste Gelegenheit dazu. Gleich drei Publikationen zum Thema sind im letzten Jahr erschienen. Ein Blick in eine oder mehrere lohnt sich, denn wie die Historikerin Elisabeth Joris (vgl. Seite 12–13) ausführt, lädt das diesjährige Jubiläum vor allem dazu ein, sich zu informieren und zu reflektieren. 

 

Alles erkämpft

Das Buch «Jeder Frau ihre Stimme. 50 Jahre Schweizer Frauengeschichte 1971-2021», herausgegeben von der Historikerin Denise Schmid, verdeutlicht vor allem eines: Der Kampf um das Frauenstimmrecht war nur einer unter vielen in der Schweizer Frauengeschichte. In jeweils sehr ausführlichen Beiträgen schildern sechs Historikerinnen die wichtigsten Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Jeder der Essays befasst sich mit einem Jahrzehnt Frauengeschichte seit den 1970er-Jahren. Eine Ausnahme bildet der Beitrag von Caroline Arni, der die Zeit vor der Einführung beleuchtet und sich verschiedenen Vorkämpferinnen widmet. 

Bereits in Elisabeth Joris’ Ausführungen zu den 1970er-Jahren wird deutlich, was sich im Verlauf des Buches immer wieder zeigen wird: Die Frauenbewegung und der Feminismus in der Schweiz waren stets ausgesprochen heterogen. Oftmals hatte man unterschiedliche, teilweise sogar gegenteilige Ansichten. So appellierten die Feministinnen der Nachkriegszeit vor allem an «helvetische Werte», ohne dabei die patriarchalen Machtverhältnisse infrage zu stellen. Ganz anders argumentierte die sich in den 1970er-Jahren neu entfaltende Frauenbewegung. «Befreiung» war das Stichwort der Stunde, Befreiung von den patriarchalen und kapitalistischen Strukturen. Ziel war die «uneingeschränkte Selbstbestimmung». Verhütung und Abtreibung wurden somit zu essenziellen Themen des feministischen Diskurses. 

Welchen Einfluss Migrantinnen auf die Frauenbewegungen in der Schweiz hatten, zeigt der Beitrag von Anja Sutter. Dass viele von ihnen auch innerhalb der Bewegung strukturellen Ausschluss erfuhren, mag heute vielleicht erstaunen. Insbesondere der Wunsch schwarzer Frauen, exklusive Räume für den Austausch unter sich zu beanspruchen, missfiel vielen weissen Frauen. Und dies, obwohl die 1980er-Jahre «das Jahrzehnt der exklusiven Frauenräume» waren, wie Sutter schreibt. Sutters Ausführungen zu Rassismus, Ausgrenzung und dem Engagement von Migrantinnen und BIPOCs ist insbesondere deshalb so interessant, weil sie die viel zu selten erzählten Geschichten und Perspektiven von marginalisierten Gruppen innerhalb der Frauenbewegung beleuchten. 

Trotz vieler Errungenschaften mangelte es in den nächsten Jahrzehnten nicht an unschönen Episoden. Genannt seien das Referendum gegen das Eherecht, das Nein zum Mutterschutz 1984, das unsäglich spät eingeführte Frauenstimmrecht im Kanton Appenzell Innerrhoden oder der steinige Weg der Frauen in den Bundesrat, von der Nichtwahl der SP-Nationalrätin Lilian Uchtenhagen bis zur Abwahl von Bundesrätin Ruth Metzler 2003. Die unglaubliche Trägheit, mit der die Gleichstellung in der Schweiz voranschritt, ist beim Lesen des Buches manchmal nur schwer auszuhalten. Besonders bitter ist dies in Anbetracht dessen, dass sich die Errungenschaften, die grossen Siege, vielfach halbgar anfühlen. So war beispielsweise die Vergewaltigung durch Ehemänner auch mit dem neuen Eherecht noch nicht strafrechtlich relevant. Und wenn man bedenkt, dass eine Initiative bereits 1977 die Einführung eines neunmonatigen Elternurlaubs forderte, dann kann man über den erst im letzten Jahr eingeführten Vaterschaftsurlaub nur noch müde den Kopf schütteln. Die wohl wichtigste Erkenntnis liefert die Historikerin Caroline Arni gleich zu Beginn des Buches: «Beim Ausschluss der Frauen von den politischen Rechten handelt es sich nicht um ein Zuspätkommen aus Vergesslichkeit, nicht um Nachlässigkeit oder Unachtsamkeit, Es liegt kein Betriebsunfall der Geschichte vor, kein Stottern im Motor der Moderne – sondern eine Entscheidung, die wiederholt getroffen und bekräftigt wurde.» In diesem Sinn ist mir beim Lesen immer wieder folgender Gedanke durch den Kopf geschossen: «Ach Schweiz, du hättest in Bezug auf Gleichstellung und Demokratie tatsächlich die Vorreiterrolle einnehmen können, mit der du dich so gerne brüstest. Stattdessen hast du 2004 als letztes Land in Europa die Erwerbsersatzentschädigung für Mütter eingeführt.»

 

Inspiration und Empowerment

Wir alle brauchen Vorbilder. Menschen, die uns mit ihrem Handeln, ihren Geschichten und ihrem Engagement inspirieren, vorantreiben und begeistern. Genau solche Menschen kommen im Buch «50 Jahre Frauenstimmrecht. 25 Frauen über Demokratie, Macht und Gleichberechtigung» zu Wort. Das von der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Isabel Rohner und der Journalistin Irène Schäppi herausgegebene Buch versammelt Texte, Interviews und Porträts von und mit 25 bekannten Schweizer Frauen «aller politischer Couleur und jeden Alters». Dadurch wird der Gleichberechtigung von unterschiedlichsten Blickwinkeln auf die Spur gegangen, was das Buch ausserordentlich vielseitig und ertragsreich macht.

Ganz besonders ist mir das Porträt über Margrith Bigler-Eggenberger in Erinnerung geblieben. Ihr Leben, insbesondere ihre Karriere, ist wahrhaftig beeindruckend. «Zum Entsetzen viele Männer» wurde sie 1974 zur ersten Bundesrichterin der Schweiz gewählt. Nach ihrer Wahl hagelte es von allen Seiten Häme und von ihren Richterkollegen wurde sie nicht ernst genommen und belächelt. Ein Bundesrichter sprach gar über ein Jahr kein Wort mit ihr. Und das nicht etwa aufgrund mangelnder Kompetenz ihrerseits – nein, im Gegenteil – sondern einfach, weil sie eine Frau war. Und Frauen sollten, wenn es nach dem Gusto ihrer Kollegen gegangen wäre, eigentlich keine Richterinnen sein. Margrith Bigler-Eggenberger hat sich von all dem nicht abhalten lassen. «Nicht verunsichern lassen, sondern machen!» war ihr Motto. Dass gerade Frauen in Machtpositionen oft Steine in den Weg gelegt wurden, zeigt auch das Interview mit Elisabeth Kopp. Mit viel Witz und Charme erzählt sie von ihrer Zeit unter «beglatzten Köpfen» und wie man damit umgeht, wenn man als Frau als «Störfaktor» wahrgenommen wird. Oder wenn man als Gemeindepräsidentin für die Protokollantin gehalten wird.  Weniger amüsant, dafür aber umso interessanter ist der Text der Geschlechterforscherin Andrea Maihofer. Dieser geht den Fragen nach, warum das Frauenstimmrecht in der Schweiz so spät eingeführt wurde und weshalb die Geschichte des Gleichstellungskampfes in unserem kollektiven Gedächtnis fehlt. Der Sammelband enthält aber auch ganz praktische Texte, wie z.B. das «Manifest für erfolgreiche Frauen in Unternehmen» von Bea Knecht, Gründerin der Streamingplattform Zattoo. Hier erfährt Frau z.B. was zu tun ist, wenn man ignoriert oder übergangen wird. Zu guter Letzt sei noch das Interview mit der Filmemacherin Petra Volpe erwähnt, die nicht nur mit ihrem Plädoyer für Empowerment und Solidarität ganz im Sinne von Sisterhood überzeugt, sondern mit ihrem Hinweis, «der ärgste Feind ist der Feind, den man im Kopf hat, der einen selber limitiert», zumindest bei mir den Nagel auf den Kopf getroffen hat. 

 

Keine Selbstverständlichkeit

Auch in der Publikation «Gruss aus der Küche. Texte zum Frauenstimmrecht», herausgegeben von Rita Jost und Heidi Kronenberg, kommen verschiedenste Frauen zu Wort. 31 Autorinnen, Kolumnistinnen und Historikerinnen von 30 bis 80 fragen sich: «Was hat das vor 50 Jahren eingeführte Frauenstimm- und -wahlrecht gebracht? Was war vorher? Wo sind noch blinde Flecken in den Köpfen von uns Frauen und Männern?» Entstanden ist so ein Potpourri an Texten, mal witzig, mal frech, mal fordernd, mal nachdenklich stimmend. Im Vergleich zum Buch von Schäppi und Rohner ist «Gruss aus der Küche» allenfalls etwas gehaltvoller, aber dafür nicht ganz so zugänglich. 

Die Frage nach Frauenquoten löst ja immer mal wieder rege Diskussionen aus. Selbst unter Feministinnen ist man sich nicht einig, ob Quoten der richtige Weg zum Ziel sind. Die Historikerin und Geschlechterforscherin Fabienne Amlinger findet: Ja, es braucht Quoten. Denn «das demokratische Versprechen der Gleichstellung ist keine Frage der Reife der Zeit oder des geduldigen Wartens». Und seien Frauen in politischen Positionen systematisch schlecht vertreten, werde die Mitbestimmung und Mitgestaltung der Gesellschaft verwehrt. Der Frage, was das Patriarchat in unseren Köpfen anstellt, widmet sich die Slam-Poetin Fatima Moumouni in ihrem Text. Denn, «das Patriarchat verschwindet nicht mit dem Stimmrecht, es verschwindet überhaupt nicht allein mit rechtlichen Anpassungen.» Es bleibt in unseren Köpfen, sagt uns, dass unsere Poren zu gross und unser Bauch zu dick sind. Oder dass wir Mascara, Eyeliner und Lippenstift tragen müssen, um «Frau» zu sein. Und selbst wenn man sich dem Patriarchat im eigenen Denken bewusst ist, so wird man es doch nicht so schnell los. Denn, «wer sich lange darin übt, mit sich selbst unzufrieden zu sein, wird ziemlich gut darin».

Das Frauenstimmrecht war für mich stets eine Selbstverständlichkeit. Seit ich klein war, trichterte man mir ein, ich müsse unabhängig sein und selbstständig. Vielleicht ist gerade dies der Grund, weshalb mir der Beitrag der Autorin Angelika Waldis nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. «Späth-Sommer 1959» erzählt die Geschichte von Erna Späth. Erna hat einen Mann – Theo. Sie träumt von einer Arbeitsstelle, einer Zweizimmerwohnung und von ein wenig Geld, mit dem sie ihrem Sohn ein Sommerpaket schicken kann. Doch Theo will nicht. Stattdessen muss Erna für ihn den Haushalt schmeissen und ab und zu die Beine breit machen. Sie tut dies so lange, bis sie es irgendwann nicht mehr aushält und sich aus dem Staub macht. Ernas beklemmende Geschichte steht stellvertretend für die Geschichte unzähliger Schweizer Frauen. Sie zu lesen, ist nicht einfach. In praktisch keinem anderen Text wird die Konsequenz fehlender Gleichstellung und Selbstbestimmung für die Frauen derart eindrücklich aufgezeigt. Die Geschichte von Erna Späth zeigt noch einmal sehr deutlich, wieso wir uns mit dem Frauenstimmrecht und der Frauengeschichte auseinandersetzen müssen.

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