Naturkunde mit dem FloZ-Klotz

Fast zwei Kilo wiegt das Resultat des Jahrhundertprojekts einer Flora des Kantons Zürich (FloZ). Für alle, die Natur und Landschaft lieben, empfiehlt sich das Buch als eine Anschaffung fürs Leben.

 

von Hans Steiger

 

Die neu erschienene Publikation ist vielseitig; nicht nur der über tausend Seiten wegen. Was einst als «Natur- und Heimatkunde» vermittelt wurde, macht sie im neumodischen Homeschooling möglich. Verständlich präsentierte Wissenschaft wird mit Vorschlägen verknüpft, auch bezüglich Pflanzen unterschiedlichste Ecken des Kantons zu erkunden. Viele wirkten über Jahre ehrenamtlich – koordiniert durch die Botanische Gesellschaft Zürich – bei der aktuellen Bestandesaufnahme in mehr als 200 Kilometerquadraten mit. Nun werden die 1757 Arten präsentiert, welche seit 1850 längere Zeit «wild» wuchsen. Fürs erste ist nicht konzentriertes Lesen angesagt, sondern Stöbern und Staunen. Aber auch Trauer: 107 dieser in Steckbriefen liebevoll Vorgestellten gelten als ausgestorben, zumindest «verschollen», und unzählige sind von diesem Schicksal akut bedroht. Mit den 131 «Neuzugängen», von denen ein paar wenige als Problemfälle berüchtigt sind, zeigt sich zwar ein stetiger Wandel der Biodiversität. Doch in der Bilanz nimmt sie ab.

 

Zuoberst schon ziemlich alpin

 

Weil ich relativ weit oben in Fischenthal wohne, fand ich besonders viele Hinweise auf seltene bis sehr seltene Arten in nächster Umgebung. So kommt ein Dunkler Mauerpfeffer kantonal nur gerade «spärlich am Dürrspitz» vor, und von einer Stendelwurz-Variante wurde bei Steg ein einziges Exemplar gefunden. Manches ist andernorts als Gebirgsflora normal, die Exklusivität also allein den Höhenmetern zu verdanken. Das gilt für die Alpenrosen am Tössstock. Doch der Kies-Steinbrech, wegen seiner im kargen Gelände auffälligen Blüten auch Safrangelber Steinbrech genannt, wächst im Tössbergland gehäuft wie sonst kaum. Oft sei am gleichen Ort der Bach-Steinbrech zu finden, der ähnliche ökologische Situationen braucht, und der Rundblättrige erfreute uns schon im Mai mit zierlichen Kelchen, bei einer der im Buch empfohlenen Exkursionen – siehe nebenstehende Seite!

 

Eine kürzere, kaum weniger attraktive Tour führt vom HB entlang der Limmat durch Zürich, «wo Unterschiedliches zusammenfällt». So kämen einzelne Feigenbäume und Seltenheiten wie der Zylindrische Walch vor. Speziell interessant wären auch die Bahnareale. Dass die Biodiversität auf dem agrarischen Land tendenziell ab- und in Städten zunimmt, wird in der allgemeinen Analyse der Entwicklung bestätigt. Parks bewahren noch alte Baumbestände, in Brachen sind Pionierpflanzen zu finden, auch Urban Gardening oder Dachbegrünungen sorgen für neue Vielfalt. Bereits seit 1914 hat sich in Wollishofen auf den Flachdächern des Seewasserwerks «ein Ersatzlebensraum» für Orchideen entwickelt, der mit über zehntausend Individuen recht spektakulär zu sein scheint. 

 

Wunder-Lauch und Holz-Apfel

 

Zu entnehmen ist dies einer Anmerkung zur Verbreitung des Kleinen Knabenkrauts. Trotz knappem Raum liefern die je halbseitigen Pflanzenporträts häufig derart bunte Details, die wohl meist irgendwann später entdeckt werden, beim Überprüfen vermuteter Funde. Aber erst daheim: Für unterwegs ist der FloZ-Klotz wirklich zu schwer. Heute sind ja die meisten digital ausgerüstet. Mir kann kein Gerät das genüssliche Blättern ersetzen. Noch und noch Überraschungen. Ah, den «Berliner Bärlauch» gibt’s auch bei uns? Er stammt ursprünglich aus dem Kaukasus, wurde im vorletzten Jahrhundert im alten Botanischen Garten Zürich als Wunder-Lauch angepflanzt, etablierte sich in Parkanlagen und verwilderte zunehmend auch in der Agglomeration. Aber er sei «sehr selten», während üblicher Bärlauch im Süden des Kantons fast überall vorkomme, nur «in der nördlichen Hälfte etwas lückiger». Grösser sind die Lücken bei den Märzenglöckchen, welche diesen zwei Porträtierten folgen. Weil die «für die Art günstigen Obstgärten» fehlen. In den 1960er-Jahren hätten Landkinder auf den Kantonsstrassen davon Sträusse verkauft, wenn Zürcher, «die am Sonntagabend im Vorfrühling mit dem Auto vom Skiwochenende nach Hause fuhren», im Stau standen. Ja, das waren noch Zeiten …

 

Spannend wird das alle botanischen Gattungen umfassende Inventar auch durch seinen Mix, der einer für mich rätselreichen Reihung folgt. Plötzlich prangt nach dem Gemeinen Ackerfrauenmantel, der keineswegs so allgemein vorkommt, wie sein Name klingt, auf Seite 532 ein Wilder Birnbaum, danach Holz-Apfelbäume. Gross und klein, grün oder bunt, altvertraut, noch nie gesehen. Vielfalt der Natur!

 

Urknall, Ewigkeiten, Klimastress 

 

Gut nachvollziehbar sind die eingangs von Fachleuten der jeweiligen Sparte verfassten Texte zu Geologie, Topografie, zur Vegetationsgeschichte des Kantons und vielem mehr. Alles begann mit einem Urknall und mündet in den wiederholt erwähnten Klimawandel unserer Tage, der mit seiner extrem kurzfristigen Dynamik auch für die Flora dramatische Folgen hat. Dagegen wirken die Zeiträume beim Rückblick riesig. Etwa in der Periode vor 14 000 Jahren, als «die altsteinzeitlichen Jäger als Nomaden durch eine steppenartige Buschlandschaft» streiften und nach Gletscherrückzügen «der Mensch die Landschaft mitzugestalten begann», schliesslich vor 8000 Jahren auch in unserer Region sesshaft wurde. Völlig unvorstellbar die urzeitlichen Weiten des irdischen Lebens davor: Der als versteinertes Fossil abgebildete Adlerfarn aus dem Mittel-Miozän, am Hörnli gefunden, wuchs vor 13 Millionen Jahren!

 

Wer nun nicht weiter lesen, lieber die jetzt blühenden Steinbrecher in der Töss­schlucht bewundern will, kann sich ab Bahnhof Steg an den Wanderwegweisern zur Tössscheidi orientieren. Wenn es links zunehmend felsiger wird, zeigen sich die mit ihren sattgrünen Rosetten markanten Pflanzen auf Augenhöhe. Erst recht gilt dies – nach der Gabelung der Quellflüsse – für die Steilwände am Weg rechts nach Wolfsgrueb und Wald. Links weiter wäre eine öffentliche Feuerstelle. Wer sich vom «Zürcher Grand Canyon» zeitig genug wieder tössabwärts bewegt, könnte vor Steg auch die ‹Badi-Beiz› besuchen. Geworben wird mit «best Burger in Town», geboten einiges mehr. Dem jungen Team, das dort in schwieriger Zeit startete, ist eine gute erste Saison zu wünschen.

 

Flora des Kantons Zürich. Herausgegeben von der Zürcherischen Botanischen Gesellschaft. Haupt Verlag, Bern 2020, 1128 Seiten, über 3500 Farbfotos, fast 2000 weitere Abbildungen, 120 Franken.

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.