- Politeratour
Nachabstimmungsstimmung – weiterlesen, -denken, -machen
Deprimierend, dieses Nein zum Bemühen um mehr Biodiversität – das Resultat wie die triumphierende Interpretation durch Ritter und Rösti. Wunderbar direktdemokratisch wurde wieder eine Initiative für mehr Agrarökologie und andere alternative Ansätze beerdigt. Dies vorab im Interesse mächtiger Verbände und Konzerne, die den Kompromiss im Parlament sabotierten, das Nein organisierten und finanzierten. Priorität behält die Rentabilität. Eine kleine Episode in der globalen Tragödie, die Vandana Shiva seit Jahrzehnten um- und zum Handeln vor Ort antreibt.
Wider die Selbstmordökonomie
Bei den ökologischen Gründen für einen raschen und radikalen Paradigmenwechsel im landwirtschaftlichen System führt sie «das Verschwinden der biologischen Vielfalt und der Arten» noch vor der Klimakrise an. Dazu kommen Hunger- und Gesundheitsprobleme, aber auch die oft prekäre Lage der Bauern. Nicht nur in Indien werden viele durch Verschuldung in den Selbstmord getrieben. Mit dem Kampf gegen globale Abhängigkeit von zunehmend monopolisiertem Saatgut hat Shiva die sogenannte Grüne Revolution als neue Form der Kolonisation enttarnt und mit eigenen Forschungs- und Farmprojekten grundlegend andere Wege aufgezeigt.
Hans Rudolf Herren, als schweizerischer Pionier der biologischen Schädlingsbekämpfung auch Mitautor des von UNO und Weltbank veranlassten Weltagrarberichts, gehört zu den kompetentesten Landwirtschaftsexperten. Er hat das Vorwort zum jüngsten auf Deutsch vorliegenden Buch der auch feministisch profilierten Inderin verfasst und betont, dass sie nicht nur akute Ernährungskrisen fundiert analysiere. Sie führe, «und dies ist sehr wichtig», darüber hinaus auch praktische Lösungen vor, die das immer wiederkehrende Argument der Agrarindustrie widerlegen, dass ein «ökologisch-regeneratives Landwirtschaftssystem die Welt nicht ernähren könne». Auch im Buch wird sie dem Anspruch auf Vielfalt in jeder Hinsicht gerecht. Eine knappere Version ihrer Vision lässt sich auf der Website des Verlages finden.
Leben in und von guten Böden
Ein weiterer Wälzer zum Thema lag bei mir länger auf dem Stapel. Mitschuldig war wohl der unattraktive Schutzumschlag von «Neuland». Wer diesen entfernt, hat einen hellgrünen Leinenband in der Hand, dessen erstes Kapitel mit wundervollen Einblicken in einen alten Obstgarten und seinen Untergrund erfreut. Unglaublich, diese Fülle von Leben. «In einem Gramm Boden der Rhizosphäre können bis zu einer Milliarde Bakterien stecken.» Wäre ich nicht schon anderswo Ähnlichem begegnet, hätte ich einen Druckfehler vermutet. Aber es sind nicht nur Ziffern, die verblüffen, sondern das ganze unterirdische Universum. Und die Würdigung der Leistung von Regenwürmern zum Beispiel ist einfach schön. Später ist zu erfahren, dass deren rasant abnehmende Zahl pro Quadratmeter ein zentraler Indikator für die Zerstörung der wichtigsten Ressource auch unseres Lebens ist.
George Monbiot will noch vorhandene gesunde Böden erhalten und zeigen, «wie wir die Welt ernähren können, ohne den Planeten zu zerstören». Klar ist für ihn die Richtung. Viel weniger Fleisch, ideal wäre vegan. Womit das Cover-Bild seinen Sinn bekommt: Kuh weg! Ja, gegen Ende des generellen Teils seiner Erderkundung postuliert er eine Perspektive, die zwar unwahrscheinlich klinge, aber realistisch wäre: «Wir können mehr Nahrung mit weniger Landwirtschaft erzeugen.» Mit den folgenden Exempeln wolle er «keine perfekten Lösungen», aber mögliche Ansätze präsentieren. Nicht jeder überzeugt, denkanstössig sind alle. Widersprüchliches schreckt den britischen Umweltjournalisten nicht.
Lösungen, die hoffen lassen
Seine deutschen Kolleginnen Christiane Grefe und Tanja Busse beziehen sich in «Der Grund» mehrmals auf Monbiot, loben seine Streitschrift gegen ein global verheerendes Agrarsystem als «brillante Hommage an den Boden», kritisieren jedoch punktuell seine «radikale Konsequenz». Warum soll etwa die Weidewirtschaft abgeschafft werden, wo sie ideal hinpasst? Dafür dann Kunstfleisch? Ihnen ist – wie mir – seine Neigung, gelegentlich gar Schwärmerei für Hochtechnologisches nicht geheuer.
«Natur wiederherstellen oder die Welt ernähren?» Unter diesem Zwischentitel wird die im Kern falsche Kontroverse beleuchtet, die bei uns zum tristen Untergang der Biodiversitätsinitiative geführt hat. «Landwirte und Naturschützer kamen sich schon immer in die Quere», stellen die beiden Beobachterinnen fest. Letztere schimpften über Anbauweisen, die auf den Artenschutz keine Rücksicht nehmen, während Erstere sich «in ihrer Verantwortung als Ernährer» missachtet fühlten. Vielerorts gab es zwar Dialoge und praktische Versuche, «gute Kompromisse für die Zwänge auf beiden Seiten zu finden». Doch nun lädt sich das Spannungsverhältnis im Zuge von neuen Krisen und den Geboten einer umfassenden Transformation wieder auf. Zudem hat sich der brutal geführte ökonomische Kampf um Grund und Boden weltweit verschärft.
Global ist auch ihre Sicht auf alternative Wege. Die agrarökologischen Ansätze in Indien kommen vor. Doch meist sind es deutsche Beispiele, die via zielgerichtete Prämien oder Steuern etwa zu Projekten für Agroforstwirtschaft oder sogenannte Schlammstädte führen, also zu «Lösungen, die Hoffnung machen» – auf eine neu «geerdete» Gesellschaft. Dafür sind Kämpfe gegen mit Konzernen verfilzte Institutionen und Verbände auszutragen. Aber auch innere Widerstände heute «systemkonform» Produzierender und Konsumierender sind enorm. Obwohl «die meisten Bürger und Bürgerinnen» längst wissen, «dass sich etwas ändern muss», eigentlich «eine nachhaltigere Welt» wollen. Ihnen wäre vermehrt zu zeigen, «wo die Vision schon Realität ist», dass anders leben zu einem für alle besseren Leben führt. Darum gelte es, dementsprechende soziale Bewegungen zu stärken, und deren Spur sei am auffälligsten in den Städten erkennbar, mit grünen Inseln im asphaltierten Gelände. Auseinandersetzungen um den Besitz und die Nutzung unserer gemeinsamen Erde beginnen oft lokal und mit kleinen Erfolgen. Wenn das nach diesem Abstimmungswochenende kein Trost ist …
Stadtoasen in grünen Wüsten?
Also weiter zu «Stadtnatur» von Josef H. Reichholf. Der war lange an der Zoologischen Staatssammlung München sowie an der dortigen Technischen Universität als Professor für Ökologie und Naturschutz tätig, mischt sich nach wie vor gern nonkonformistisch in ‹grüne› Debatten ein und liefert eine geballte Ladung böser Bemerkungen zu auch bei uns akuten Streitpunkten: Für die meisten Tiere sei heute das Land furchterregend, nicht die Stadt. Ähnliches gelte für die Zukunft wild wachsender Pflanzen, die «draussen vergiftet oder weggedüngt werden». Vielfalt finde sich in den urbanen Zentren, sie seien zu Oasen in grünen Agrarwüsten geworden. München und Berlin eröffnen die Positiv-Bildstrecke. Provokativ auch seine Polemik gegen sogenanntes Nachverdichten. Das geschmähte «Ausufern» der Städte, welches damit verhindert werden solle, wäre wahrscheinlich nicht nur für die menschliche Lebensqualität, sondern auch für die Natur besser. Da wirke eine inzwischen weltfremd anmutende Angst nach: «Die böse Stadt frisst das gute Land!» Maisanbauflächen schützen? Siedlungen mit kleinen Gärten wären wertvoller. Von dort sowie aus sehr entlegenen, geschützten Stellen «auf dem Land» könnte sich natürliche Vielfalt regenerieren, wenn irgendwann wieder günstige Verhältnisse geschaffen würden. Aber entsprechende Veränderungen kämen aus Städten. «Davon können, sollten und müssen wir alle ausgehen.»
Im übrigen würdigt der Autor freudvoll, was in urbanen Räumen kreucht und fleucht, zu häufig unbemerkt blüht oder versehentlich vertrieben wird. Wie bei den grossen globalen Themen, dem Artensterben, dem Klimawandel, sei politisch Verantwortlichen zwar längst bekannt, was zu tun wäre. Aber das Abwarten sei bequemer, zumal es «vielleicht auch manchmal vor möglichen Fehlentscheidungen schützt». Umso bewundernswerter findet der Autor die «doch recht vielen engagierten Menschen», die zumal auf kommunaler Ebene spürbare Verbesserungen bewirken.
Das wilde Urbane kennenlernen
Dazu passen die «Nachrichten aus der urbanen Wildnis» von Hanna Bjørgaas. Sie hat ein Studium mit Akzent auf Biodiversität und Evolution absolviert, sich dann auch als Führerin bei Exkursionen in Eismeerregionen betätigt. Wo es zu einem Aha-Erlebnis kam: Zu ihrem Auftrag gehörte, diese Reisen «in fremde und wunderschöne Landschaften» für alle zum berührenden Erlebnis werden zu lassen. Vielleicht würden dann die Beteiligten danach zuhause nach Lösungen für mehr Umweltschutz suchen. Sie sollte darum als Fachfrau gute Naturgefühle vermitteln. «Nichts leichter als das. Aber irgendetwas daran stimmte nicht.» Für viele war die Tour einfach die Erfüllung eines Lebenstraums, andere wirkten gleichgültig. Sie kamen, knipsten ihre Bilder und die Gelbflechten, von denen sie sprach, interessierten sie nicht. Und plötzlich wurde ihr klar, dass sie ja selber «mehr über die Flechten der Antarktis wusste als über die in meinem eigenen Hinterhof», in Oslo. Darum zog sie im kommenden Januar, als ihre Stadt «ein einziges Grau» war, dort los und setzte ihre Erkundungen trotz ersten Frustrationen fast Monat für Monat fort. Primär kommen Tiere, zumal Vögel, in ihr Blickfeld, dann aber auch Pflanzen, bei denen ihr bisher nur der Teil über der Oberfläche wichtig erschien. Später das Leben im Untergrund. Sie stellt fest, wie sehr die Böden unter Asphalt und in Pärken unter gemähten Rasen verschwanden, wie fremd sie ihr waren. «Ich glaube, als Dreijährige wusste ich mehr über Erde und das darin befindliche Leben, ihren Geschmack und Geruch als heute.» Manchmal fehlten ihr die Worte für das, was unter dem Spaten knirschte. Sand? Dreck? Leute mit Yogamatten und Laptoptaschen unter dem Arm warfen ihr lange Blicke zu. Spannend, diese Entdeckungsreise.
Vielfalt rundum – und Symbiosen!
Auch ein im ‹Haupt Natur›-Programm neu erschienenes Buch könnte zum Erkunden der Vielfalt im städtischen Umfeld animieren. «Symbiosen beobachten» ist zwar ebenso für Abstecher in Wälder, Wiesen oder am Wasser gedacht. Aber die im Untertitel zuletzt genannte Stadtnatur eröffnet den Reigen. Das ist nicht aktuell «abstimmungspolitisch» begründet, doch «in Mitteleuropa lebt der grösste Teil der Menschheit in Städten». Also sollen zunächst da leicht zu beobachtende «positive Beziehungen» vorgestellt werden. Baumscheiben mit angesäten oder spontan aufkommenden Pflanzen locken Bestäuber und andere Insekten an. Nicht mehr gemähte Rasen, ein Stadtpark mit alten Bäumen bieten in der Nähe viel, und das Autoren-Duo kann sein Wissen gut vermitteln. Andreas Gigon hat sich als Experte und Verfasser eines Grundlagenwerks über symbiotische Beziehungen in der Natur und «ihre Bedeutung für den Menschen» beim handlicheren «Feldführer» mit dem pädagogisch erfahrenen Felix Stauffer zusammengetan. Auch der Gedanke, dass wechselseitige Förderung und Win-Win-Situationen mindestens so viel Beachtung verdienen wie die bekannteren Konkurrenzverhältnisse, gefällt mir. Letztere werden natürlich nicht unterschlagen, «Symbiosen» ausdrücklich nicht im «menschlichen, moralischen Sinn» als positiv bezeichnet. Ermutigendes geht trotzdem von ihnen aus. Wenn rundum alles trostlos scheint, kann schon beobachtendes Verweilen im Grünen oder nun herbstlich Bunten wichtig sein. Zudem: «Nur was man kennt, kann man auch schützen.»
Bibliographie
Vandana Shiva: Agrarökologie und regenerative Landwirtschaft. Mit einem Vorwort von Hans Rudolf Herren. Neue Erde, Saarbrücken 2023, 425 Seiten, 35 Franken.
George Monbiot: Neuland. Wie wir die Welt ernähren können, ohne den Planeten zu zerstören. Aus dem Englischen von Rita Gravert. Blessing, München 2022, 478 Seiten, 30 Franken.
Christiane Grefe / Tanja Busse: Der Grund. Die neuen Konflikte um unsere Böden – und wie sie gelöst werden können. Kunstmann, München 2024, 240 Seiten, 36 Franken.
Josef H. Reichholf: Stadtnatur. Eine neue Heimat für Tiere und Pflanzen. Oekom, München 2023, 188 Seiten, 30 Franken.
Hanna Bjørgaas: Das geheime Leben in der Stadt. Nachrichten aus der urbanen Wildnis. Aus dem Norwegischen von Sabine Richter. Stroux Edition, München 2023, 304 Seiten, 30 Franken.
Andreas Gigon / Felix Stauffer: Symbiosen beobachten. Feldführer für unsere Wälder, Wiesen, Äcker, Seeufer und Stadtnatur. Haupt, Bern 2024, 208 Seiten mit über 400 Abbildungen, 30 Franken.