Nach Corona: Zeit für einen feministischen Aufbruch
Die Corona-Krise zeigt praktisch alle geschlechterspezifischen Probleme unserer Gesellschaft exemplarisch auf. Dieser Perspektive wird jedoch weder in der Analyse noch in den Massnahmen Rechnung getragen. Das wollen wir mit diesem Debattenbeitrag ändern.
Nina Hüsser und Tamara Funiciello
Die eklatante geschlechterspezifische Komponente der Corona-Krise zeigt sich in folgenden Bereichen:
1. Systemrelevante Erwerbsarbeit wird vor allem von Frauen geleistet. Das steht im krassen Widerspruch zu ihrem Lohn. Rund 86 Prozent der Pflegefachpersonen, 92Prozent aller KinderbetreuerInnen, zwei Drittel der 300 000 Detailhandelsangestellten und ebenso viele Beschäftigte in Apotheken in der Schweiz sind Frauen. Die Frauen sind die Hauptmanagerinnen dieser Krise: (Fast) alles, was wirklich systemrelevant ist – das Gesundheitswesen, die Kinderbetreuung, der Lebensmittelmarkt – wird von ihnen betreut. Wir merken plötzlich, dass unsere Gesellschaft ohne die klassischen «Frauenberufe» schlichtweg nicht auskommt.
Das steht jedoch in krassem Widerspruch zu ihrem Lohn: Im Detailhandel beträgt der durchschnittliche Mindestlohn 3932 Franken bei 41h/Woche und 5 Wochen Ferien. Eine Fachangestellte Gesundheit verdient zwischen 4100.- und 4400 Franken bei 42h/Woche und 5 Wochen Ferien. Eine Kinderbetreuerin verdient ca. 4100 Franken. Ein Investmentbanker kann hingegen schnell über 15000 Franken verdienen. Dazu kommen noch hohe Boni. Das ist sehr viel Geld für etwas, das wir eigentlich nicht brauchen.
2. Unbezahlte Care-Arbeit ist systemrelevant. Wer momentan Homeoffice, Kinderbetreuung und Haushalt unter einen Hut bringen muss, merkt, dass Kinderbetreuung nicht einfach nebenbei erledigt werden kann. Sie erfordert Aufmerksamkeit, Zeit und Energie, ist also Arbeit – Care-Arbeit. Vergessen wir nicht: Die Mehrheit aller Arbeitsstunden in der Schweiz wird unbezahlt gearbeitet (9,2 Milliarden Stunden im Jahr). Über 60 Prozent dieser Arbeit leisten Frauen. Alleine in der Kinderbetreuung arbeiten Frauen 1000 Millionen Stunden unbezahlt zu Hause. Dazu kommen 4,3 Milliarden Stunden Hausarbeit. Gesamthaft hat die unbezahlte Arbeit der Frauen einen Wert von 248 Milliarden Franken im Jahr. Mehr als alle Ausgaben von Bund, Kantonen und Gemeinden zusammen.
3. Externe Kinderbetreuung ist systemrelevant. Externe Kinderbetreuung ist elementar. Viele Kitas befinden sich aber momentan in einer schwierigen Situation, weil die Bestimmungen unklar sind. Corona zeigt: Wir bauen auf die unbezahlte Arbeit von Müttern und Grossmüttern, schlecht bezahlten Kinderbetreuerinnen oder Care-Migrantinnen. Das Betreuungssystem in der Schweiz ist miserabel und geht davon aus, dass die Arbeit von Frauen eine unendliche Ressource ist.
4. Frauen sind von den wirtschaftlichen Auswirkungen besonders betroffen. Der Shutdown von nicht lebensnotwendigen Geschäften trifft besonders Menschen, die in Tieflohnbranchen arbeiten: Gastronomie, Hotellerie, Reinigung, Detailhandel (ausserhalb von Lebensmitteln) etc. Hier sind Frauen ebenfalls übermässig vertreten. Sie haben oft kaum finanzielle Rücklagen und sind zum Teil nicht sozialversichert. Entsprechend fallen sie durch alle Maschen. Das ist besonders gravierend für Frauen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, die momentan nicht in ihre Heimatländer zurückkehren können. Ein idealer Nährboden für Gewalt und Ausbeutung.
5. Die neoliberale Abbaupolitik im Gesundheitswesen der letzten Jahrzehnte ist ein enormer Verstärker dieser Krise. Diese Abbaupolitik fand auf dem Rücken der Frauen statt. Ein gutes Gesundheitswesen ist wertvoll, nicht nur in aussergewöhnlichen Zeiten. In den letzten Jahrzehnten wurde aber genau das von neoliberalen Kräften mit allen Mitteln abgebaut: Für sie steht nicht das Wohl der Menschen, sondern der Profit im Zentrum. Was nicht rentiert, wird gestrichen oder zumindest auf ein Minimum reduziert. Die Folge? Spitäler wurden privatisiert oder gleich ganz geschlossen, Arbeitsbedingungen und z.T. Löhne im Pflegebereich sind miserabel. Das ging vor allem auf Kosten der Frauen, die wie erwähnt 86% der Pflegefachpersonen ausmachen. In der aktuellen Corona-Krise zeigt sich, dass dieser Abbau ein tödlicher Fehler war.
6. Konjunkturprogramme sind männlich und privatwirtschaftlich. Die letzten Konjunkturprogramme, die im Rahmen der Finanzkrise 2008 verabschiedet wurden, haben v.a. Männerarbeitsplätze gerettet. Gleichzeitig führen die ausbleibenden Steuereinnahmen zu einer weiteren Privatisierungs- und Abbauwelle im Care-Sektor. Frauen tragen die Last der Krise also gleich doppelt: Sie verlieren nicht nur ihre Jobs, sondern müssen auch die Güter und Dienstleistungen ersetzen, die nicht mehr auf dem Markt gekauft werden können bzw. vom Staat aufgrund von Budgetkonsolidierungen nicht mehr zur Verfügung gestellt werden. Zwölf Jahre nach der Finanzkrise müssen wir sagen: Diese Form der Konjunkturprogramme führt uns in eine andere Krise – in eine Care-Krise. Und diese Krise kostet gerade Menschenleben.
Aus dieser Analyse resultieren verschiedene Forderungen. Wir können hier nicht auf detaillierte Forderungen eingehen. Für uns ist aber zentral, dass sich Überlegungen für die Zeit nach Corona an dieser feministischen Analyse orientieren. Wir wollen deshalb folgende Massnahmen vorschlagen und anregen:
1. Es braucht ein feministisches Konjunkturprogramm, das bezahlte und unbezahlte Care-Arbeit ins Zentrum stellt. Der Staat muss nun Geld investieren, dabei müssen diese Investitionen zwingend in den Care-Bereich fliessen.
2. Kein Profit mit unserer Gesundheit! Spitäler und Gesundheitszentren müssen staatlich organisiert und ausreichend finanziert sein.
3. Externe Kinderbetreuung gehört zur Bildung/Erziehung! Sie muss genau wie die Schule staatlich organisiert und für Familien kostenlos zugänglich sein. Das ist nicht zuletzt auch wichtig für die Chancengleichheit. Weder Gesellschaft noch Wirtschaft würden ohne Kitas funktionieren. Trotzdem sind sie chronisch unterfinanziert.
4. Gute Löhne und Arbeitsbedingungen in «typischen Frauenberufen», also im Gesundheitswesen, im Detailhandel und in der Kinderbetreuung.
5. Es braucht eine Arbeitszeitverkürzung. So können unbezahlte Care-Arbeit und Erwerbsarbeit besser verteilt werden.
Wir erheben für diese Analyse keinen Anspruch auf Vollständigkeit und freuen uns über Debattenbeiträge.
Nina Hüsser ist Mitglied der SP Frauen*, Tamara Funiciello ist Nationalrätin und Co-Präsidentin der SP Frauen*