Mythos Miliz

Von allen schweizeri­schen Mythen und heiligen Kühen ist mir ja das Milizsys­tem der Liebste. Ich finde es richtig, wenn PolitikerInnen noch einen Fuss im Berufs­ leben haben, im Alltag verankert sind. Wenn ich vier Tage in der Woche im Büro bin, dann geht es weniger um das Büro, als um einen Alltag, eine Aufgabe und Menschen, bei denen sich nicht alles um den Berner Politkuchen dreht. Das hält mich auch ein bisschen bodenständig. Der Schweizer Politbetrieb ist im Gegensatz zu vielen anderen Ländern weder mit üppigen Gehältern, Dienstwagen noch Entourage aus­gestattet (auch wenn das viele nicht glauben). Das hat viele Qualitäten, auch wenn man im Moment wohl nicht viele BundesrätInnen im Bus oder in der Migros trifft.

 

Leider ist wie so oft die romantische Vorstellung nicht immer im Einklang mit der Realität. Das gilt auch für das Schweizer Milizsystem. Um noch mal zu mir zurückzukommen: Mit zwei Kommissionen und vier Sessionen pro Jahr, Abstimmungskampa­gnen, Podien, weiterer Sitzungen und Termine sind die vier Tage Büro pro Woche nun doch immer seltener die Regel. Dabei leidet der Fokus sowohl im Parlament wie im P.S. Aber vor allem ist es für die restliche P.S.­Crew eine Herausforderung, um es euphemistisch zu sagen. Zumutung trifft es zuweilen besser.

Nun könnte man meinen, das sei nun mal vor allem eine Frage der Ebene. Ein Nationalratsmandat ist halt nicht mehr reine Miliz, kommunal oder kantonal sieht die Sa­che ganz anders aus. Das stimmt schon, aber auch hier wird die Miliztauglichkeit immer mehr infrage gestellt. Als ich Gemeinderätin war, gab es einmal ein Jahr, in dem wegen der überlangen Traktandenliste praktisch jeden Mittwoch Doppelsitzungen angesetzt waren. Und ich erinnere mich, dass ich am Ende des Jahres mir kurz den Rücktritt überlegt habe. Die ewigen Doppelsitzungen bis um 23 Uhr schlugen mir aufs Gemüt und die Kondition. Erschwerend dazu kam, dass ich zu dieser Zeit nach Bern pendelte. Und es war ja nicht nur der eine Sitzungstag. Als Fraktionspräsi­dentin kamen noch etliche Verpflichtungen und Sitzungen dazu und mir schien es, als ob es praktisch kaum einen freien Abend pro Woche gab. Der Gemeinderat tagt heute jeweils bis 22 Uhr und dies schon seit einer geraumen Weile. Die Fluktuation ist rekordhoch. Damit geht viel Wissen verloren, was wiederum die Debatten verlängert und die Vorstosszahl erhöht, weil keiner mehr weiss, dass man doch schon vor ein paar Jahren das genau Gleiche gefordert hat. Die Kommissionsarbeit hat im Gemeinderat auch zugenommen. Die Miliztauglichkeit des Feierabendparlaments ist hart an der Grenze angelangt. Natürlich ist ein Teil davon selbstverschuldet. Man muss nicht zu allem, was man in der Zeitung liest, auch gleich einen Vorstoss machen. Man muss auch nicht auf jedes blöde Votum replizieren. Die Kommissionsarbeit wurde in einigen Kommissionen schon zu meiner Zeit in einer operativen Detailversessenheit geführt, die nicht immer wahnsinnig zielführend ist, ausser man habe das Ziel, die Verwaltung zu quälen. Und dennoch: Die Geschäfte werden durchaus auch komplexer wie beispielsweise die Richtpläne. Und wenn ich manchmal an­ schaue, wie nonchalant wir in Bundesberner Kommissionen legiferieren, bin ich nicht unfroh, dass im Zür­cher Gemeinde­ und Kantonsrat genauer hingeschaut wird.

Das Milizsystem mag den Vorteil haben, dass Menschen ihre beruflichen Erfahrungen direkt in die Politik einbringen können. Aber es hat den Nachteil, dass es die Kontrolle von Verwaltung und Exekutive schwächt. Vielleicht bewusst schwächt. Denn wer hat denn wirklich Fachwissen zu komplexen juristischen, ökonomischen oder wissen­schaftlichen Fragen? Kaum jemand. Mit dem Geld für die persönliche Mitarbeiterin lässt sich knapp eine studentische Hilfskraft beschäftigen, die die Post sortiert oder Videos schneidet. Recherche, Gutachten und die Bearbeitung von komplizierten Themen blei­ben da auf der Strecke. Auch hier kann man sagen, die Schwäche ist selbstverschuldet, weil selbstgewollt. Jegliche Ideen für mehr Ressourcen wurden immer abgelehnt. Und so beklagte sich das Parlament während der durch coronabedingten ausserordentlichen Lage darüber, dass der Bundesrat zu viele Kompetenzen habe und die vom Parlament überwiesenen Motionen nicht umsetze. Nur hätte das Parlament die Kompetenz gehabt, selbst Notverordnungen zu erlassen. Den Bundesrat hätte es nicht gebraucht. Kompe­tenz nützt wenig, wenn sie ganz wörtlich real nicht vorhanden ist.

 

Die Schweizerische Gemeinnützige Gesell­schaft hat mit der Fachhochschule Graubünden eine Studie zur Vereinbarkeit von Beruf und Milizsystem durchgeführt. Dabei zeigte sich ein nicht unerwartetes Bild: Das Miliz­system wird zwar von der überwiegenden Mehrheit der Unternehmen als sehr positiv eingeschätzt. Real fördern aber nur neun Pro­zent der Unternehmen aktiv, dass sich ihre MitarbeiterInnen politisch betätigen, 21 Pro­zent sehen sich wenigstens in einer passiven Förderrolle. Die grosse Mehrheit tut nichts. Tatsächlich sind es auch nicht so viele Firmen, bei denen MitarbeiterInnen in der Politik sind. Der grösste Teil der Unternehmen, 46 Prozent nämlich, hat keine politisch tätigen MitarbeiterInnen. Dies widerspricht dem Bild eines breit verankerten Milizsystems. Weitere 33 Prozent der Unternehmen stellen eine Person und 14 Prozent zwei Personen in der kommunalen oder kantonalen Milizpolitik. Lediglich sieben Prozent der Unternehmen verfügen über drei und mehr Miliztätige. Auch nicht ganz un­bekannt ist, dass die Branchen und Berufe in der Politik recht ungleich vertreten sind, es weit mehr Akadamikerinnen gibt als Hilfsarbeiter. Zwischen Wunsch und Wirklichkeit auch da eine Diskrepanz.

Dazu kommt, dass an allen Fronten – gefühlt und wohl auch real – die Anforderungen gestiegen sind. Im Beruf, aber auch in der Familie, aber auch seitens der Parteien. Auch wenn die meisten Parteien beispielsweise wohl Vereinbarkeit von Beruf und Familie im Programm und in den Reden haben, sehen sie das ganz anders, wenn es um die ständige Verfügbarkeit von MandatsträgerInnen geht. Dazu kommt, dass es nicht immer einfach ist, sich politisch zu exponieren. Weil es bei Kundinnen oder Kollegen schlecht ankommen könnte. Oder weil man mit Shitstorms und Morddrohungen konfrontiert werden könnte. Miliz ist also ein schöner Mythos. Aber gerettet werden kann das System nur, wenn man ihn auch mit etwas Realität konfrontiert.

 

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