- PinkApple Filmfestival
Mut
Heimweh ist keine rationale Sehnsucht. Aber das Bedürfnis nach dem Zustand eines körperlich wie mental fühlbaren umfassend kompletten Beschütztseins ist universell nachfühlbar. Der empfundene Verlust muss kein Ort sein, muss noch nicht einmal etwas bereits Erlebtes und Erfahrenes meinen, kann sich ebenso als Wunsch gegenüber einer Zukunft eindringlich materialisieren. Für Victoria Versau ists ein Mensch. Mit Meril teilte sie vor zehn Jahren Ohnmacht, Zweifel, Schmerz und Freude nach erfolgter Vaginoplastie in einer Spitalzweckunterkunft in Thailand. Zehn Jahre später lebt von beiden nur noch Victoria. Merils Suizid konfrontiert sie mit der existenziellen Infragestellung, der sie mit der Rückkehr an den Ort ihrer entstandenen tiefen Verbundenheit begegnen möchte. Aber nicht allein. In Athena und Aamina findet sie im Internet zwei trans Personen, die sich mit ihr gemeinsam auf das Abenteuer «Trans Memoria» einzulassen bereit erklären. Formal schneidet sie damalige Bildnachrichten im Aufwachraum mit künstlerisch verfremdeten Aufnahmen von Medizinal- und Hygieneartikeln und teils heftig geführten Debatten unter den drei angereisten Personen mit wenig ansprechenden Zeugnissen der dafür gebauten Umgebung zu einer ungewohnt aufrichtigen, ergo mitunter schonungslos heftigen Selbstreflektion. Für Aamina stellt Victorias Indifferenz gegenüber Authentizität und Inszenierung ein so grosses Hindernis dar, dass sie ihre weitere Partizipation nicht mehr vor sich verantworten kann und frühzeitig abreist. Athenas Position gleicht der eines regelrechten Advocatus Diaboli. Genauso bezüglich einer latenten Gefahr dieser filmischen Selbsterkundung, mit der Larmoyanz zu flirten und zu kokettieren, wie mit der Entscheidung Victorias, für ein imaginiertes Lebensideal sehr viel mehr Risiken in Kauf zu nehmen, als es Athena jemals bereit wäre. Diese ausnehmend kluge und raffinierte, zum Schluss sogar spöttisch selbstironische filmische Selbstergründung mündet allerdings zeitgleich auch in eine überwältigende Überforderung. Wenn Victoria wie beiläufig erklärt, ihr Glück darin finden zu beabsichtigen, ein Standardleben mit einem heterosexuellen Mann zu führen, übersteigt das den eigenen Horizont. Eine nach aussen projizierte Verantwortlichkeit für das eigene Glück, das bei Licht betrachtet auf einer höchst vagen Grundannahme der Existenz eines gegenläufigen Begehrens aufbaut, überführt den ohnehin kolossalen Komplex in Victorias Leben in Richtung einer sich wahllos wild und unkontrollierbar überschlagenden Gemengelage eigener Gedanken und Empfindungen. «Trans Memoria» ist der diesjährige Film mit dem längsten Nachhall.
Gründe, wogegen es sich in Malaysia aufzubegehren lohnt, müssen nicht erst gesucht werden. Jede Person wird per Geburt als dem islamischen Glauben in einer ausgeprägt rigiden Form zugehörig angesehen. Der Scharia kommt im Moralempfinden als auch der Rechtssprechung eine gewichtige Rolle zu und als Yihwen Chen 2018 mit der Dokumentation «Queer as Punk» beginnt, demonstriert die Jugend während den Wahlen gegen die seit 60 Jahren herrschende Partei, die ihr Volk in einer Mischung aus Patriarchat, Korruption und Gewalt am Gängelband der Unfreiheit hält. «Shh… Diam!» (deutsch: Maul halten) ist eine musikalisch nicht unbedingt überzeugende DIY-Wahlfamilienband aus Lesben, Heteras und trans Männern, die den Gefahren trotzt, die das öffentliche Verteidigen von Ansprüchen auf Rechte inklusive dem Recht auf Schutz von LGBT-Personen birgt. Die drei Hauptpersonen im Film wollen sich dem allgemeinen Braindrain der gut ausgebildeten Minderheiten nicht anschliessen, sondern für eine aktive Veränderung vor Ort einstehen. Die Wahl 2018 verändert die politischen Mehrheiten tatsächlich, was zumindest theoretisch die Aussichten auf eine Verbesserung der allgemeinen Menschenrechtslage aufhellen könnte. Allerdings desavouiert sich diese neue Regierung nur wenig später mit der unbeholfenen Bewältigung der Pandemie gleich selbst und die Proteste richten sich bald gegen sie genauso wie gegen die Vorgänger. Eine Person gibt dann während der Dreharbeiten auch entmutigt auf und sucht ihr Glück im Ausland. Die Band besteht seit 2010 und spielt auch dank digitalen Kanälen längst international bekannt weit herum in der Welt. Im Notfall auch mal kunstvoll verhüllt, ergo anonymisiert. «Queer as Punk» ist ein ungeheurer Trotzdem-Film, der über die Privatpersonen und deren Widerständigkeit eine Ahnung davon vermittelt, welch massiven Einschränkungen eine stark religiös geprägte Macht auf die individuelle Freiheit ausüben kann.
Tankstelle für Lebensmut
«Ausser Warren Beatty waren zu meiner Zeit alle Hollywood-Schauspieler schwul», kokettiert der 92-jährige Charly Addabessa tänzelnd durch Nicola Belluccis Film «Quir», benannt nach dem gleichnamigen Lederwarengeschäft von Massimo und Gino in der Altstadt von Palermo. Die beiden sind seit 42 Jahren ein Paar und ihr Geschäft ist genauso lange schon eine Tankstelle für Lebensmut, Dreh- und Angelpunkt für Protestaktionen für LGBT-Rechte, ein Manifest gewordener Hort und Schutzort der Toleranz. Sogar der aufdringlich neugierige und latent homophobe Pöstler wird ausreden gelassen, wenngleich ihm Massimo mit zwei, drei trefflichen Spitzen jeden Wind aus den Segeln zu nehmen pflegt, woraufhin allgemeines Gelächter ausbricht. Jung und schön sind längst verblasste Parameter bezüglich eines eigenen Wohlbefindens, wohingegen der politische Aktivismus – insbesondere gegen die ungeheuer rückwärtsgewandte Grundwertehaltung der aktuellen Ministerpräsidentin – nach wie vor nach beherztem Einstehen verlangt. Von diesem Nähatelier ausgehend, dessen Taschen mitunter einschlägig salopp-schlampige Aufnäher zieren, folgt der Film einigen Besucher:innen ins Private. Neben dem ehemaligen Hollywood-Habitué aber doch nicht vollends -Star ist dies der Musicalsänger und Dragperfomer Ernesto Tomasini, der das Wohnzimmer seiner 94-jährigen dementen Mutter gegen die Londoner Bühnenlandschaft getauscht und sie während fünf Jahren bis zu ihrem Tod inklusive zahlloser Gastauftritte von ortsansässigen Performer:innen aller Altersklassen kontinuierlich nicht nur gepflegt sondern auch bespasst hatte und nun einen Wiedereinstieg vor sich sieht. «Quir» ist extrem spektakulär unspektakulär. «Jetzt ist es doch zu spät, mich noch zu entlieben», ist das Äusserste was von Gino als Kommentar zu vernehmen ist, nachdem sich Massimo nach Jahrzehnten der Partnerschaft zu einer Transition entschlossen hatte. Genauso vorbildhaft erscheint die gesamte Filmclique alias Wahlfamilie in ihrem aktiven Bemühen darum, ihre gegenseitige Fürsorge und Beistand füreinander über jedwede mögliche Konsequenz zu stellen. Hier zählt allein der Mensch, das Menschliche.
In gleichlautender Absicht versucht eine auffallend grosse Gruppe von jungen Iraner:innen, eine heimliche Abschiedsparty für den das Land für immer verlassenden Freund von Hamid auf die Beine zu stellen. Erschwerend zum Verbot von Homosexualität und der Illegalität von Privatparties mit Alkoholausschank, kommt die Frage nach der ethischen Vertretbarkeit einer Feier so kurz nach dem tragischen Unfalltod eines Freundes aus dem innersten Zirkel hinzu. «The Crowd» von Sahand Kabiri zeigt einerseits, wie stark vernetzt die iranische Jugend untereinander agiert und leider auch, wogegen die engagierteste Improvisationskunst kaum eine Chance hat, zu reüssieren. Hamed kommt aus einem wohlhabenden Hause, in dem offenbar die Elterngeneration noch nicht lange verstorben ist. Als offen schwuler Mann steht er im Familienranking des selbsternannten jetzigen Familienoberhaupts Mahmood nur sehr marginal über dem beinahe inexistenten Ansehen ihrer gemeinsamen Schwester. Der offenbar spielsüchtige und darüber hinaus nicht geschäftstüchtige Mahmood hat sich mit der Unterwerfung ans Regime mitsamt Abhängigkeit von der Obrigkeit auf die vermeintlich sichere Seite geschlagen, was es ihm handkehrum vollends verunmöglicht, dass er es zulassen könnte, dass eine der vielen leeren Lagerhallen zu einem «Puff wie in Pattaya» verkommen könnte und seis auch nur für eine Nacht. Wenn die Risse das Private durchdringen, ist eine Gegenwehr kaum mehr mit Anstand und gutem Zureden alleine zu bewerkstelligen, weshalb aus einer Notwendigkeit für einen gebührenden Abschied eines Lieblingsmenschen quasi notgedrungen eine anderweitig unfreiwillige Übergriffigkeit erwächst. Sich jeden letzten Rest an Selbstbestimmung nehmen zu lassen, steht nicht zur Disposition.
Zum Glück voll drüber
Wenn die Kamera direkt von das Pimpern predigenden Plüschschweinen ins möchtegernsexuelle Rumtollen von dicken, alten Schwulen in pinken Rüschen schwenkt, ist die Urheberschaft nur unschwer zu erkennen. Die ewig aufmüpfige Nervensäge im Kampf um die Schwulenemanzipation in Deutschland und Umgebung, Rosa von Praunheim stellt in seinem 83. Lebensjahr mit «Satanische Sau» noch einmal alles infrage. Perplex über die allgemeine Reaktion auf sein Immernochleben rekapituliert er – dargestellt durch das Alter Ego Armin Dallapiccola – das eigene Tun, die Entwicklung der allgemeinen Gesellschaft wie auch der nicht allein positiven neueren Tendenzen innerhalb eines insbesonders politisch kämpferischen und darin weitum solidarischen Engagements der Schwulencommunity. Reihum scheint das Bewusstsein in Emanzipationsbewegungen aktuell sehr grossen Wert darauf zu legen, zu erkennen und zu vermitteln, auf wessen Schultern die heute möglichen Freiheiten errungen worden waren. Offenbar nicht bei Schwulen. Die sieben Nasen, die neben mir im Kino sassen, waren natürlich alle keine zwanzig mehr, und selbst wenn Aktionen wie öffentliche Outings von prominenten Personen aus Kultur und Politik in den 1990er-Jahren nicht bloss grenzwertig, sondern voll drüber waren, kann gemessen an der Wirkmacht Rosa von Praunheim niemand das Wasser reichen, wenn es um das Entwickeln und Anerkennen eines Selbstverständnisses schwulen Lebens im deutschsprachigen Raum geht. Auch im Alter ist er noch voll camp. In einem wilden Mix aus Spott und Schlüpfrigkeit, aus intellektuellem Hintersinn und blossem Nonsens mit einer vielleicht etwas gar ausgeprägten Auseinandersetzung mit dem Glauben, ballert er das Publikum in einem Heidentempo mit existenziellen Fragen zu, auch äusserst unangenehmen. Die sogenannte Schönheit, das ideale Alter, das kolonialistische Moment in Partnervorlieben, die Bereitwilligkeit zur Oberflächlichkeit, das angeblich nicht mehr notwendige Selberdenken und die leidlich ausgeprägte Tendenz zur Anbiederung an den Mainstream erfahren hier ihre tragikomische Quintessenz. Natürlich tuts ein bisschen weh. Aber es ist auch zum Brüllen komisch.
Fünfzehnjährige sind in ihrer Unsicherheit gegenüber sich und gegenüber sich in der Welt alle gleichermassen herausgefordert. Diese Binsenweisheit bringen Lucas van der Rhee und Christ Westendorp mit ihrer niederländischen TV-Dokumentation «Queer Camp» einprägsam in Erinnerung. Das anfänglich erwähnte Heimweh findet sich hier im eigentlichen Wortsinn wieder. Faas ruft noch vor Ablauf des ersten Tages der Teilhabe an einem einwöchigen LGBT+-Sommercamp unter Tränen die Mutter an, sie möge Faas bitte sofort wieder abholen kommen. Nur mit Mühe und der Unterstützung einer psychologisch geschulten Begleitperson kann Faas dazu überredet werden, diesem ureigenen Wunsch nach Austausch und Erfahrungssammeln eine etwas ausgeprägtere Chance zu geben, auch eine Wirkung zu entfalten. Mit Fano findet Faas eine gleichaltrige Person in einer vergleichbaren Situation und blüht schnell sichtlich auf. Dafür, um allen des rund halben Dutzends jugendlicher Personen während des kurzen Filmes in ihrer Entwicklung integral folgen zu können, ist der Film etwas zu sprunghaft. Was nicht gilt für die allgemeingültige Erkenntnis, um die es dem Filmteam aller Voraussicht nach hauptsächlich geht, die die Bedeutung von solch fachkundig begleiteten Auszeiten von zahllos individuell verschiedenen Personen innerhalb des gesamten LGBTQIA+-Spektrums im jugendlichen Alter als nicht zu überschätzend hoch ansieht. Die Teilnahme an den durchdachten Freizeitangeboten zur Versöhnung mit dem Selbst sind freiwillig, bei allfälliger Überforderung steht eine geschulte Betreuungsperson parat. Die Möglichkeit, neuen Freund:innen direkt in die Augen sehen und sich bei gegenseitigem Bedarf in die Arme schliessen zu können, in einem geschützten Raum, der gleichzeitig emotional umschliessend als auch physisch offen und frei ist, ist in diesem Alter und Entwicklungsstand schlicht Gold wert.
Mal klarstellen
Bezüglich der aktuellen Turbulenzen in den USA gilt es festzustellen, dass die Hoffnung darauf, auf juristischem Weg die freihändig ausgesprochenen Hüftschüsse eines allgemein gesellschaftlichen Backlashes insbesondere gegen trans Personen wieder entlang einer menschenwürdigen Grundlage zurückbiegen zu vermögen, nicht vollends vergeblich ist. Selbst wenn zwischen einzelstaatlichen Gesetzesänderungen und einem höchstrichterlichen Verdikt eine übermässig lange Zeit unverhältnismässig viele Personen Schaden daran nehmen können, ist die Gewaltenteilung noch intakt. «Heightened Scrunity» von Sam Feder begleitet den Anwalt Chase Strangio der American Civil Liberties Union während den Vorbereitungen zum Prozess der Klage gegen das in Tennessee eingeführte Verbot der Herausgabe von geschlechtsangleichenden Medikamenten an trans Jugendliche. Im Verlauf der vielen Gespräche und Beratschlagungen mit teils sehr viel erfahrenen Anwält:innen und im direkten Freundeskreis kommt in einem nicht nur marginalen Nebenerzählstrang auch die Rolle von Massenmedien in den Filmfokus. Bezüglich der Verbreitung von Halbwahrheiten und der Stimmenüberlassung an einschlägig bekannte und orchestrierte Lobbystimmen aus dem erzkonservativen Lager ist noch nicht einmal die ‹New York Times›, eines der Inbegriffe des liberalen Journalismus in den USA davor gefeit, das Anheizen einer ohnehin bereits tendenziösen Stimmung höchstselbst noch zu befeuern. Zum Filmschluss stand das Urteil noch aus, weshalb sich das Engagement und die damit verbundene öffentliche Aufklärung über die gesundheitlichen Konsequenzen für die betreffenden Personen in einen Appell verwandelt, die eigene Wahrnehmung, unsachgemässe Befürchtungen oder gar ein Hörensagen nicht höher zu gewichten, als jede nüchtern sachliche Informiertheit. Die aktiv zu beschaffen ist.
Am 24. Oktober 1975 nahmen sich zeitgleich neunzig Prozent der isländischen Frauen einen ganzen Tag lang frei. Vom Begriff Streik nahmen die linken früh abstand, um auch die bürgerlichen mit im Boot zu haben. Schliesslich war 1975 das UNO-Jahr der Frau, die Selbstbestimmungsrechte für Frauen aber noch nirgends. Pamela Hogan und Hrafnhildur Gunnardottir erzählen in «Ein Tag ohne Frauen» in Interviews mit Zeitzeuginnen, Archivbildern und Animationen von Joel Orloff von den insgesamt vier Jahren Anlauf zu diesem weltweit erstmaligen und einzigartigen Ereignis, das damals ein starkes Signal in die Welt hinaus sandte, unterdessen aber etwas in Vergessenheit geraten war. Mit der Unterstützung des isländischen Radiosenders und einer Mund-zu-Mund-Propaganda sondergleichen vermochten es die damaligen Aktivistinnen, erstens die Frauen über die Notwendigkeit dieser Aktion zu sensibilisieren und sie mittels recht hemdsärmliger Vorschläge für eine Umsetzung – dem Mann die Kinder jeden Alters einfach ins Büro, die Fabrik vorbeibringen – untereinander zu solidarisieren. Ein Festakt, der in der Folge eine Veränderung bewirkte, die von den Männern erst als überhaupt überlegenswert angesehen wurde, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben Kaffee kochen oder Kleinkindern die Windeln wechseln mussten und erstmals überhaupt erkennen konnten, dass es sich dabei um Arbeit handelt. «Der lange Freitag» war (und bleibt erkennbar) ein Energieschub historischen Ausmasses.
Begrenzte Möglichkeiten
Das Wissen über die eigene Verletzlichkeit findet in einem Aufnahmeland für ein Asylgesuch nicht automatisch sein plötzliches Ende, die Gefahrenlage und Abhängigkeiten verschieben sich nur. In Joy Gharoro-Akpojotors «Dreamers» wurde die frauenliebende Isio aus Nigeria in England wegen fehlender Papiere festgenommen und in ein Frauenaufnahmezentrum übersiedelt. Kaum je ein Wort sagend, verkriecht sie sich unter der Bettdecke, während ihre Zimmergenossin Farah einerseits Unterstützung zukommen lässt, ihr dafür auch jegliche Illusion für eine reale Chance auf Aufnahme hochgradig pragmatisch-abgeklärt nimmt. «Die Freundlichkeit der Beamtin ist reine Show, mit dem einzigen Ziel, dich auszuhorchen», warnt Farah zuerst vergeblich. In der Gemeinschaftsküche entwickelt sich aus ihnen plus zwei weiteren Frauen eine Art flüchtiger Übergangsclique zur gegenseitigen Inschutznahme, wobei die allgemeine Furcht vor einer komplett ungewissen Zukunft die Grundstimmung dominiert. Die Zimmergenossinnen verlieben sich ineinander, wohl wissend, wie aussichtslos dieses Gefühl im Hinblick auf eine längerfristige Erfüllung bleiben wird, aber wer will schon unterdrücken, was ihn/sie für den Augenblick die herrschende Misere vergessen helfen kann? Als Farah ohne Ankündigung zur Aussschaffung verhaftet wird, ist Isios Rolle gegenüber ihrer neuen, bislang fremden Zimmergenossin, die der erfahreneren. Die Fluchtpläne, die sie jetzt noch zu dritt schmieden, tendieren realistischerweise selbst im Film nicht in Richtung Sorglosigkeit, sondern bleiben bitter bis zum Ende.
Der afghanische Teenager im Iran, offiziell ohne Papiere und einem Herkunftsstaat gegenüber ausgeliefert, bei dem die sogenannte Staatsmacht beinahe wöchentlich zwischen Daesh, Taliban und ehemaliger Regierung hin- und herwechselt, hat im Film von Sarvnaz Alambeigi genau drei Chancen, ihre verfahrene Situation nachhaltig zu verändern: Zum Schein einen Iraner heiraten, durch Kampfsport ins Nationalkader aufgenommen werden oder – so abgeschmackt das auch klingen mag – Suizid. Letzteres schliesst die titelgebende «Maydegol» zu Beginn der Filmerzählung zwar kategorisch aus, doch bleibt das Damoklesschwert bis zuletzt bedrohlich über ihrem Kopf hängen. Zumal sich als frauenliebende Frau die Konsequenz einer Heirat ins Kinderkriegen steigern würde und sich ihre gefühlt überragende Kampfkunst als nurmehr der Realität nicht standhaltend erweist. Ihre Situation ist sehr komplex und ohne vorherige Ahnung der gesellschaftlichen Lage von Afghaninnen im Iran nicht ohne weiteres restlos entschlüsselbar. Als regelrechte Sans-Papiers ist sie in jeder Hinsicht – Wohnen, Arbeiten, Geldverdienen – der Willkür von Männern ausgesetzt. Eine Situation, gegen die selbst die grösste Willenskraft und aufrichtige Bemühung aus eigenem Antrieb nicht anzukommen in der Lage ist. Mit Freundinnen wirft sie in der Halbwüste mit Steinen des Zorns ihre Wut und Ohnmacht regelmässig so weit von sich, wie es eben geht, aber die Gefühle wachsen täglich nach und wuchern, während sich ihre Situation nicht merklich zum Positiven verbessert.
Umdenken lernen
Der trans Mann Oscar, von seinen Heterofreunden um seine Wirkung auf die Frauen beneidet, verbringt mit diesen in «Les garçons dans l’eau» von Pawel Thomas Larue ein Wochenende an der bretonischen Küste und befindet sich durch die ihn durchdringende Anziehung zum ortsansässigen trans Mann Malo unvermittelt vor der Herausforderung wieder, nach dem durchlaufenen Prozess der eigenen Geschlechtsidentitätsfindung nun auch noch jenem der sexuellen Orientierung und damit zum wiederholten Mal einem zu überspringenden Schatten gegenüberzustehen. «Sauna» von Mathias Broe ist vielleicht ein wenig sehr didaktisch aufgebaut, was aber keinesfalls meint, dass er ein drängendes Problem nicht auf den Kopf trifft. Johan ist ein Typ vom Land, der in der einzigen Schwulensauna Kopenhagens jobbt, als er sich während seines Sammelns von Sexualerfahrungen zur eigenen Überraschung plötzlich in den trans Mann William verliebt. Das Miterleben von dessen Ausgrenzungen, zuerst von der Saunaleitung, bald erkennbar auch durch das Gesundheitswesen, ganz zu schweigen von der allgemeinen Gesellschaft, veranlassen Johan zu gut gemeinten Aktionen, die aber letztlich alle nach hinten losgehen. Insbesondere weil er sich selbst weigert, die individuell spezifischen Bedürfnisse von William und die Fragilität, die diese im Umgang und der Abhängigkeit etwa von Ämtern an sich bedeuten, also ihm vollends unbekannt anzuerkennen. Mit seinem Übereifer bringt Johan William regelrecht in Gefahr, wohingegen ein offenes Wort und ehrlich offene Zugeneigtheit und Interesse gegenüber den Bedürfnissen des Vis-à-vis ausreichen würden, solchen Impulsen von vermeintlich heldenhaften Dümmlichkeiten nicht nachgeben zu müssen. Wo genau der Jüngling in Nun Lis «Queerpanorama» überhaupt steht und welchen Nutzen/Mehrwert/Sinn er aus seinem Verhalten glaubt ziehen zu können, ist nur schwerlich überhaupt fassbar. In kontrastreichem Schwarzweiss erzählt der Film von einem Mann, der sich Lebenserfahrung über die Erzählungen seiner zahllosen Sexualpartner anzueignen in der Lage zu fühlen scheint. Aus den für ihn annehmlichsten Anekdoten kreiert er sich Fantasiekonstrukte einer potenziellen Identität im Kontakt zum nächstfolgenden Sexualpartner. Klar wird einzig eine komplette Vereinzelung und Orientierungslosigkeit bezüglich seiner Selbstwahrnehmung und -verortung. Ziel unbekannt.
Demgegenüber vergleichsweise einfach erscheint die grenzüberschreitende Liebe von Fanny aus Strassburg und Lena aus Leipzig, die sich in «Langue étrangère» von Claire Burger wechselseitig als Austauschschülerinnen beieinander besuchen. Während es bei Lena eine tendenziell dysfunktionale Familienkonstellation ist, die dem eigenen Wohlergehen entgegenarbeitet, ist es bei Fanny eine irgendwie übersteigerte Aufmerksamkeitssehnsucht, die sie das Blaue vom Himmel herab behaupten lässt, weshalb sie ihre Mitschüler:innen «Blabla-Fanny» nennen und sie niemand mehr ernst nimmt. Nach der ersten Irritation über das Verhalten ihrer allerersten Liebe entwickelt Lena eine Art Konzept der paradoxen Intervention, indem sie die Haupterzählung Fannys für voll nimmt und alles ihr Mögliche unternimmt, um Fanny ohne einen Vorwurf das Erleben der Irrtümlichkeit ihrer Behauptung im Direktkontakt zu ermöglichen, woraufhin diese von sich aus dazu befähigt wird, ihr eigentlich Innerstes zu offenbaren und die Lüge zu bereuen. Z in J. Stevens «Really Happy Someday» suhlt sich in Selbstmitleid, weil sich der ehemals aufkommende Musicalstar durch die Transition und das Testosteron einer vollkommen veränderten Gesangsstimme gegenüber wiederfindet. Sehr viel Alkohol hilft vermeintlich im Moment, löst aber keine effektiv anzupackenden Herausforderungen. Partnerin Danielle hat ein Stellenangebot in den USA und anerbietet Z, mit ihr mitzukommen, was dieser eher unmotiviert trotzig ablehnt. Immerhin die Idee der Gesangsstunden, um die neue Spannweite der Möglichkeiten der jetzigen Stimme, nimmt Z von ihr an und besucht Privatunterricht. Immer knapp bei Kasse heuert Z bei Santi als Barkeeper an, ohne zunächst zu erkennen, dass es sich auch bei Santi um einen trans Mann handelt, der aber die emotionalen Turbulenzen der Anfangszeiten schon länger hinter sich hat und stoischer bis selbstsicherer im Leben steht. Im Gegensatz zu Danielles, kann Z Santis Hilfsangebot mit der Zeit trotz anfänglicher Abwehr annehmen.
Generationen
Fawzla Mirza berichtet in «The Queen of my Dreams», wie sich der Freiheitsdrang zum Selbstausdruck der heute jungen Tochter Azra mit jenem ihrer Mutter Mariam in ihrer eigenen Jugend in den 1970er-Jahren nicht vollends ungleich sind. Nur mit dem Unterschied, dass sich die ehemals sorglos durchs Leben tanzende Mutter längst von den gestrengen pakistanischen Traditionen für das Verhalten einer Frau unterworfen hat und jetzt von ihrer Tochter dasselbe erwartet. Dieses Erkennen und vor allem das Überwinden dieser lange eingeübten neuen alten Rolle der Mutter findet nicht mehr direkt im Film eine auch die Tochter erleichternde Auflösung, aber als Stimmungsbild für eine in vielen Teilen der Welt moralisch und allfällig religiös konnotierte rückläufige Freiheit für Frauen in nur fünfzig Jahren ist die Erzählung beispielhaft. «The Nature of Invisible Things» von Rafaela Camelo ist nur sehr am Rand – und darin ist er nicht der einzige – überhaupt mit der Festivalthematik verbandelt. Zwei zehnjährige Mädchen tragen im übertragenen Sinne Geister mit sich, die sie zur eigenen seelischen Gesundung loswerden respektive beerdigen müssen. Sofia den Fremdkörper nach einer Herzoperation in ihrer Brust und Gloria die immer noch mitschwingende Existenz ihres Geburtsgeschlechts als Belo. In der Stadt glückt beides nicht. Erst als sie die austherapierte Grossmutter Sofias in ihr Zuhause im brasilianischen Urwald begleiten, wo diese und die sie umgebenden Alten gerade von der Zwischengeneration der Mütter in ihrem Naturheilkunde- und Geisterglauben tendenziell belächelt werden, finden beide Kinder und mit ihnen auch die Mütter einen Weg, ihre Überängstlichkeit gegenüber dem Schicksal ihrer Kinder loszulassen. Im indischen «Cactus Pears» von Rohan Parashuram Kanawade steht ausser Frage, welche Folgen es zeitigen würde, wenn die heute wieder aufflammende Liebe der Jugendfreunde Anand und Bayla im kleinen Dorf ruchbar würde, in das Anand aus der Stadt zurückgekehrt ist, um als ältester Sohn die Pflichten der Trauerzeremonie für den verstorbenen Vater abzuhalten. Ein alleinstehender junger Mann, also ein unverheirateter ist hier aber im Mindesten ein vergleichbares Problem, wie die faktische Unüberwindbarkeit einer Beziehung der beiden Männer, weil sie aus unterschiedlichen Kasten stammen. Marie Luise Lehner thematisiert die Klassenunterschiede in Mitteleuropa, genauer in Wien. Anna und ihre gehörlose Mutter leben von der Hand in den Mund. Als Anna in die neue Klasse kommt, ist Mara die einzige Aussenseiterin, weil sie sich nicht über Frisuren und Klamotten definiert, körperlich herausgefordert ist und recht frühreif aus einer wohlhabend-aufgeklärten Sorglosigkeit hinaus emanzipatorische Parolen skandiert, deren Brisanz ihre Mitschüler:innen noch gar nicht richtig einordnen können. Inwieweit die Annäherung dieser beiden höchst unterschiedlichen Mädchen überhaupt über eine Freundschaft hinausweisen, scheint noch gar nicht das Thema. Aber «Wenn Du Angst hast, nimmst Du Dein Herz in den Mund und lächelst» wurde sowohl der Jurypreis als auch der Publikumspreis von PinkApple verliehen.
Machtlosigkeit
Ebenfalls stark in Zusammenhang mit Klassismus steht die Problemlage in «Three Kilometers to the End of the World» von Emanuel Parvu. Dass Adi von den Söhnen des reichen und einflussreichen Ortsvorstehers in einem Ferienort im rumänischen Delta halbtot geschlagen worden ist, steht schnell ausser Frage. Aber der ermittelnde Polizist hat nur innerhalb der formalen juristischen Vorgaben überhaupt eine Handhabe, gegen die Täterschaft vorzugehen, was er auch geflissentlich probiert. Erst ein an Adi verübter Zwangsexorzismus durch seine Eltern und den Popen bringt eine Ermittlerin aus der Stadt ins Spiel, deren Mühe aber an der ausgesprochen effizienten Mauschelei des Dorfchefs mit Verbindungen und offenbar auch Schuldbarkeiten nach überallhin ins Leere laufen lassen kann. In einem kroatischen Ort versucht sich Marko in «Sandbag Dam» von Cejen Cernic Canak, zwanghaft selbst von seinen erotischen Träumen und der ihn überwältigenden – und ganz offensichtlich auch gegenseitigen – Anziehung zu Slaven künstlich fernzuhalten. Gleich mehrere Beiträge, «Light Light Light» von Inari Niemi, «Duino» von Juan Pablo Pace und Andres Pepe Estrada sowie «Baby» von Marcelo Caetano und ein Stück weit auch «Streets of Gloria» von Felipe Sholl behandeln die lähmende Erinnerung an einen zurückliegend begangenen Fehler, respektive einer feigen Nichteinmischung, teils gepaart mit nachgerade physischen Ausbrüchen der Grenzauslotung. Rückwirkend Veränderungen herbeiführen funktioniert nicht, schon gar nicht mit Gewalt. Wobei die Heftigkeit der beiden Darsteller in «Streets of Gloria» – Caio Macedo und Alejandro Claveaux – über das Reissbrettartige der Erzählung hinaus einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ein solcher kann, aktiv hintertrieben auch innert kürzester Zeit verblassen, wie «Copa 71» von Rachel Ramsay und James Erskine, der mit dem Dok-Publikumspreis ausgezeichnet wurde, vorführt. Ein Jahr nach der Fussballweltmeisterschaft in Mexiko 1970 fand die erste inoffizielle Frauenfussballweltmeisterschaft mit sechs internationalen Teams ebenda statt. Vor Ort engagierten sich gewiefte Geschäftspersonen, schrieben die Zeitungen Titelseite um Titelseite in Erwartung eines Ausnahmeereignisses voll, entwickelte sich eine Sporteuphorie im ganzen Land. Dann kam ein von Greisen besetzter Weltfussballverband noch vor dem ersten Anpfiff auf die Idee, diesen Wettbewerb zu unterbinden. Mit aller Macht, was soviel heisst wie dem Entzug von finanzieller Unterstützung für die Landesverbände, dem Aussprechen von klaren Verboten inklusive der Androhung von Strafen bei Nichtbeachtung, versuchte die FIFA diesen Event abzuwürgen. Allerdings waren die beiden grössten Stadien des Landes nicht unter den Fittichen der Verbände und die Investoren dermassen weit fortgeschritten in ihren Investments, dass sie das Turnier kurzerhand noch weiter vergrösserten und zuletzt ein Finalspiel in Mexico City vor 110 000 Zuschauer:innen spielen liessen – bislang ungeschlagener Rekord für eine Frauensportveranstaltung. Die Weltmeisterinnen in Dänemark wurden grad noch halbbatzig feierlich empfangen, während in Grossbritannien eisiges Stillschweigen herrschte. Leider wird im Film, der zahlreiche der damaligen Fussballerinnen vor die Kamera holt und Anekdote an Anekdote reiht, dass es einem regelrecht warm ums Herz wird, nicht aufgeschlüsselt, wer wie wann und warum über die offensichtlich vorhandenen Originalaufnahmen und -dokumente gestolpert war, was dieser Erzählung vorangegangen sein musste.