Mit Marx in die Zukunft der Digitalisierung?

Mit der Frage, wie das Werk von Karl Marx heute fruchtbar gemacht werden kann, befasst sich das neue ‹Denknetz»›-Buch (siehe «MarxnoMarx – das Buch» auf Seite 19). Im Folgenden drucken wir das Kapitel von Min Li Marti und Balthasar Glättli über Marx und die Zukunft der Digitalisierung ab.

 

 

Min Li Marti und Balthasar Glättli

 

 

 

Die Diskussion rund um Digitalisierung verläuft heute allzu oft in Extremen. Die Positionen sind dann entweder maschinenstürmerisch-alarmistisch oder geprägt durch naiven Techno-Optimismus beziehungsweise -Fatalismus. Die Digitalisierung ist in dieser letzteren Lesart unaufhaltsam wie ein Naturereignis, dem wir uns beugen oder durch das wir untergehen müssen.

 

Linker Pessimismus – rechter Optimismus

In der Linken scheint – nach einer euphorischen Phase zu Beginn des Internets – die pessimistische Lesart zu dominieren: Dies, weil die Digitalisierung Tendenzen wie wachsende Ungleichheit zu verschärfen und beschleunigen droht, weil sie reale Verlierer-Innen produziert und teilweise schon produziert hat und weil sie uns ganz neue Überwachungs- und Repressionsmöglichkeiten beschert hat. Im Zentrum der Diskussion steht die Frage, ob die Digitalisierung Arbeitsstellen bedroht oder gar obsolet macht, dies auch aufgrund von Studien, die aufzeigen, welche und wie viele Arbeitsplätze inskünftig bedroht sein könnten (Frey, 2013). Seit einigen Jahren steigt die Produktivität, ohne dass sie zu einer Vermehrung von Stellen führt (vgl. Rotman, 2013). Gründe sind für Erik Brynjolfsson vom MIT die schon spürbaren Auswirkungen der Digitalisierung. Bereits nachweislich ist, dass im Detailhandel Stellen verschwunden sind (vgl. Krugman, 2017), dieser Trend wird sich, vor allem wegen des Online-Handels, aber auch aufgrund der Automatisierung im Detailhandel (Self-Scanning) noch verstärken. Um diese VerliererInnen mag sich niemand so recht kümmern. Sie erhalten – im Gegensatz zu durch die globalisierte Arbeitsteilung wegrationalisierten IndustrierarbeiterInnen – kaum politische und mediale Aufmerksamkeit. Das kann auch damit zusammenhängen, dass diese digitalen VerliererInnen oft Frauen und MigrantInnen sind (vgl. World Economic Forum, 2016).

 

Auf der politischen Rechten dagegen herrscht eher Techno-Optimismus vor: Neoliberale wittern in der Digitalisierung die Chance, endlich gründlich zu deregulieren. Arbeitgeber wie der Online-Versandhändler Amazon freuen sich wohl auch schon, endlich die lästigen ArbeiterInnen loszuwerden: Denn Roboter beklagen sich nicht, organisieren sich nicht und müssen nicht mal aufs Klo. Und das Aufkommen von Uber wird zum Anlass genommen, sozialversicherungsrechtliche oder arbeitsrechtliche Regulierungen aufzuheben. Die Begründung: Gäbe es diese Auflagen nicht, hätte das heimische Taxigewerbe kein Problem mit der Uber-Konkurrenz. Dies verkennt aber die besondere Eigenschaft des Plattform-Kapitalismus, der sich nicht damit begnügt, auf einem gemeinsamen Marktplatz mitzuspielen – die vielzitierte Disruption der Plattformen ist darauf aus, den Markt als regulierten Rahmen des bürgerlichen Staates zu zerstören und ihn dann in privaten Händen neu aufzubauen, um alleine den ganzen Prozess steuern und den Marktzugang kontrollieren zu können (vgl. Lobo, 2014). Aus rechter Perspektive wird Regulierung grundsätzlich als Innovationshindernis dargestellt, obwohl tatsächlich rechtliche Sicherheit und rechtliche Rahmen Innovation befördern können. Ohne klare Regelungen, wie beispielsweise mit Haftungsfragen umgegangen wird, werden keine selbstfahrenden Autos auf den Strassen fahren. Gemeinsame Standards wie bei Steckern oder Batterien, aber auch bei Datenformaten erleichtern die Zusammenarbeit und Entwicklung von Technologie. Ausgeblendet wird auch, dass in der digitalen Ökonomie wegen der Netzwerkeffekte der bereits im industriellen Kapitalismus sichtbare Trend zur Monopolbildung noch dominanter ist. Die Vertreter des (Plattform)Kapitalismus propagieren also in erster Linie die Herrschaft der Macht des Kapitals, keinesfalls aber den Wettbewerb.

 

Dies zeigt sich auch in der libertär geprägten Ideologie der neuen Master of the Universe im Silicon Valley: Sie verbinden dabei die – früher links geprägte – Pop- und Gegenkultur mit knallharter neoliberaler Ideologie. Nicht jeder ist dabei so unverblümt ehrlich wie Peter Thiel, Paypal-Gründer, Trump-Unterstützer und Vordenker: «Wir glauben immer, dass Kapitalismus und Wettbewerb fast das Gleiche sind. Aber die großen Kapitalisten der Geschichte haben einzigartige Unternehmen aufgebaut. Das war so im späten 19. Jahrhundert mit den Rockefellers, Carnegies und Mellons, und es ist jetzt so in der Internetrevolution. Google ist heute das beste Beispiel für solche einzigartige Monopolfir-men. Es ist hochprofitabel und wird weiter wachsen, soweit man das sehen kann. Das extreme Gegenbeispiel ist ein Restaurant, das sich in extremem Wettbewerb mit anderen Restaurants befindet, aber nicht sonderlich kapitalistisch ist, weil die Betreiber kaum Geld damit machen.» (Heusser, 2014) Thiel lobt also das Monopol und verdammt den Wettbewerb. Er fordert eine Rückkehr in die sogenannten «Guilded Ages», die Zeit der Räuberbarone, die sich dank Monopolen und Kartellen immensen Reichtum und politischen Einfluss verschaffen konnten. Deren Macht wurde in den Vereinigten Staaten am Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts dank populistischer Bewegungen gebrochen, die sich kartellrechtliche Massnahmen erkämpften (vgl. Kazin, 2016). Heute haben die Räuberbarone selbst den Populismus entdeckt – wie Thiel, der den US-Präsidenten Donald Trump massgeblich unterstützt hat.

 

Abwehrkampf statt Zukunftsvision

Wir hielten es allerdings für falsch, wenn die Linke sich als Reaktion auf diese Umstände nur dem Abwehrkampf verschreiben oder das Rad zurückdrehen wollte. Dies ist beispielsweise bei einigen Vorschlägen von Gewerkschaften der Fall, wie beispielsweise beim Vorschlag, dass Firmen-Email-Server über Nacht pausieren sollten, so dass die Arbeitnehmenden nicht auch noch in der Nacht arbeiten. So verständlich es ist, dass man Arbeitnehmende vor der (Selbst-)Ausbeutung schützen will, so wenig geht dieser Vorschlag auf die sich veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ein. Die digitale Rundumerreichbarkeit muss durchaus kritisch betrachtet werden. Allerdings ist für etliche die Vorstellung vom flexiblen Arbeiten nicht bloss ein Schreckgespenst, für einige ist die Befreiung von der Stechuhr gar eine verlockende Perspektive, die es ermöglicht, Beruf und Familie oder Beruf und Freiwilligenarbeit oder anderes vereinen können, sowie die Arbeit autonomer und selbstbestimmter zu gestalten. Diese flexiblen ArbeiterInnen fügen sich gut in das neoliberale Bild eines «unternehmerischen Selbst» ein, das seit den 1970er Jahren propagiert wird (vgl. Bröckling, 2007). Dieses «unternehmerische Selbst», das sich in einem permanenten Prozess der Selbst-optimierung befindet, ist heute auch für die individualistischen, postmaterialistischen und nach Selbstverwirklichung strebenden urban-gebildeten Kreise zum Leitbild geworden, die einen wachsenden Teil des linken Elektorats ausmachen. Umso mehr aus der Zeit gefallen wirken dann die Forderungen nach erzwungener Offline-Zeit gerade bei jenen, die eigentlich ihre politische Durchsetzung voranbringen sollten.

 

Die linke Diskussion ist herausgefordert: Ein strukturkonservativer Diskurs widerspricht dem inneren Selbstverständnis einer progressiven, also vorwärts orientierten Kraft. Es gibt für uns als Linke kein utopisches Gestern, zu dem wir gerne zurückwollen. Stattdessen müssen wir konstatieren, dass unsere erkämpften sozialstaatlichen Errungenschaften wie die AHV nach wie vor geprägt sind von einem Ernährermodell, das überwunden werden muss, um mit den aktuellen gesellschaftlichen Realitäten und Wunschvorstellungen übereinzustimmen. Zudem ist das linke Elektorat seit den 1970er-Jahren zunehmend geprägt von Berufen, die von den kommenden Entwicklungen nur beschränkt bedroht oder betroffen sind, wie beispielsweise soziokulturelle Berufe, Care-Arbeit oder hochqualifizierte WissensarbeiterInnen. Der linke Diskurs krankt im Allgemeinen da-ran, dass ihm die positive Zukunftsvision abhandengekommen ist. Seit dem Fall der Mauer scheinen Alternativen zum Status quo undenkbar geworden, Visionen definitiv nur ein Fall für den Augenarzt. Der Linken fällt es schwer, eine Zukunftsvision, eine Vorstellung des anderen Lebens, des besseren Lebens zu formulieren, das mehr ist als eine leicht verbesserte Variante des Status quo.

 

Die Linke verpasst es zudem insbesondere hierzulande, die Digitalisierung zu nutzen, um die eigene politische Agenda voranzutreiben, wie dies die Rechte im Bereich der Deregulierung tut. Zum Beispiel liesse sich die Forderung nach Wirtschaftsdemokratie mit nicht-hierarchischen Organisationsmodellen kombinieren, die durch technologische Innovation begünstigt werden könnten (vgl. Saheb, 2016). Oder der Zugang zu eigenen Daten, die in Datenkollektiven selbstbestimmt als Gemeingut genutzt werden, könnte eine konkrete Alternative zum «Überwachungskapitalismus» (Foster, 2014) schaffen. Stattdessen stehen meist Abwehrkämpfe im Zentrum, und rot-grüne Reparatur- und Begleitarbeit versucht, die negativen Folgen etwas abzudämpfen, beispielsweise durch Bildungs-offensiven. Selbst das garantierte Grundeinkommen würde unter diesen Umständen letztlich zur reinen Abfederungsmassnahme für die am schlimmsten betroffenen Digitalisierungs-VerliererInnen, eine Art Suppenküche 2.0 zu ihrer Ruhestellung und Sicherung der minimalen Kaufkraft. Darum ist es in dieser Form auch attraktiv für die rechtslibertären DigitalisierungspredigerInnen.

 

Zwei Denkanstösse aus dem Maschinenfragment

In diesem Zusammenhang kann die Lektüre von Karl Marx interessanterweise durchaus Impulse bieten. In seinem Maschinenfragment (MEW 42, 590 – 609) liefert Marx Ansätze für eine optimistische Lesart der Entwicklung hin zur Wissensgesellschaft. Die innere Logik des Kapitals führt nach ihm dazu, dass dieses nicht nur das gesellschaftliche Wissen kolonisiert und in die Form einer Maschinerie bringt, welche den Menschen entmachtet, sondern dass diese Bewegung gleichzeitig auch die Bedingungen schafft für eine mögliche Überwindung seiner Macht und für eine neue Form des Reichtums: «Das Kapital arbeitet […] an seiner eignen Auflösung als die Produktion beherrschende Form» (MEW 42, 596), es schafft «freie Zeit, die sowohl Mussezeit als Zeit für höhere Tätigkeiten ist» (ebd, 607) und verwandelt damit auch den Menschen. Damit wird angedeutet, dass der grundlegende Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit dank technologischem Fortschritt aufgehoben werden könnte.

 

Wir versuchen hier, aus der Lektüre des Maschinenfragments mögliche Inspirationen für emanzipatorische Beiträge in der Digitalisierungsdebatte zu ziehen. Wir greifen dabei zwei Punkte heraus, welche bei der Lektüre des Maschinenfragments auffallen: Zuerst die Frage der Arbeitszeit respektive der verfügbaren Zeit als wahren Reichtum, und dann den «general intellect» (ebd, 602) und das doppelte Gesicht der Wissenschaft und des Wissens.

 

Der wahre Reichtum: Verfügbare Zeit

Ein Thema ist in der Digitalisierungsdiskussion allgegenwärtig: Geht uns bald die Arbeit aus? Wird Arbeitskraft überflüssig, wenn durch den technologischen Fortschritt Arbeit immer weiter automatisiert wird? In der politischen Diskussion wird – mit dem gleichen Argument der Digitalisierung – seitens der ArbeitgeberInnen das Gegenteil verlangt: Eine Arbeitszeitflexibilisierung gegen oben. Das illustriert einen inneren Widerspruch im Kapitalismus, den Christian Lotz wie folgt  beschreibt: «Dieser Widerspruch besteht kurz gesagt darin, dass der immer produktiver werdende Arbeitsprozess dahin tendiert, die lebendige Arbeit auf das Minimum zu reduzieren, damit mehr Mehrwert aus dem Arbeitsprozess herausgepresst werden kann.» (Lotz 2014, 13) Dass im kapitalistischen System für Marx aber kein Mehrwert ohne lebendige Arbeit entsteht, ohne den «Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht» (MEW 42, 601), erklärt, warum der Produktivitätsfortschritt dann nicht dafür genutzt wird, den ArbeiterInnen mehr freie Zeit zu geben. Nur bei gleichbleibender oder längerer Arbeitszeit wird der Anteil der Mehrarbeit (Surplusarbeit) grösser im Verhältnis zur Arbeit, welche tatsächlich zur Herstellung der lebensnotwendigen Güter, also zur gesellschaftlichen Reproduktion, nötig ist – und nur so steigt der Mehrwert.

 

Auch wenn Marx am Anfang des Maschinenfragments ausführt, dass gemäss der Logik des Kapitals «die Maschinerie die entsprechendste Form des Gebrauchswerts des Capital fixe» (ebd, 596) ist, «[verliert umgekehrt] die Maschinerie […] ihren Gebrauchswert nicht, sobald sie aufhörte, Kapital zu sein.» (ebd) Das heisst: Auch wenn unter dem Regime des Kapitals, in der bürgerlichen Gesellschaft der Gebrauchswert der Maschinerie ihre Rolle zugunsten des Kapitals selbst im Prozess der Kapitalakkumulation ist, so könnte in einer neuen, kommunistischen Gesellschaft ihr Gebrauchswert durchaus die Produktion der notwendigen Güter sein. Das heisst, die Maschine kann auch ohne Kapitalismus Güter produzieren. In diesen neuen gesellschaftlichen Verhältnissen würde die Maschinerie dann die Befreiung des Menschen hin zur Tätigkeit ausserhalb der unmittelbaren Produktion ermöglichen.

 

Die Frage allerdings bleibt, wie ein solcher historischer Umschlag realisiert werden kann. Marx zeigt wie beschrieben, dass sich der innere Widerspruch verschärft zwischen einerseits der Tendenz des Kapitals, die Produktivität zu steigern und damit die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren, und andererseits seiner Fixierung auf die ausgebeutete Arbeitszeit als einzige Quelle des Mehrwerts. Obwohl für das Kapital «die Produktivkräfte und gesellschaftlichen Beziehungen […] nur Mittel [sind], um von seiner bornierten Grundlage aus zu produzieren», sind sie gleichzeitig «In fact […] die materiellen Bedingungen, um [diese Grundlage] in die Luft zu sprengen.» (ebd, 602) Allerdings wäre es zu einfach, daraus eine gewissermassen automatische Entwicklung hin zu einer post-kapitalistischen Gesellschaft abzuleiten. Marx selbst spricht vielmehr davon, dass dann, wenn der obige Widerspruch sich zuspitzt, «die Arbeitermasse selbst ihre Surplusarbeit sich aneignen muss.» (ebd, 604) Es braucht also trotzdem den gemeinsamen politischen Kampf, um dieses Ziel zu erreichen. Nur so wird aus verfügbarer Zeit befreite Zeit. Diese neue Gesellschaft definiert ihren Reichtum durch die verfügbare Zeit und nicht mehr durch die (ausgebeutete) Arbeitszeit.

 

Marx sah also voraus, dass sich die notwendige Arbeitszeit in entwickelteren Ökonomien – dank der Maschinerie, welche die Kräfte der Natur durch die Anwendung der Naturwissenschaften dem Menschen nutzbar macht – drastisch reduziert. Dies verhindert aber nicht von selbst, dass die darüber hinausgehende Surplusarbeit, also die nicht notwendige Arbeitszeit, unter dem Diktat des Kapitals steht und für dieses Mehrwert produziert, nun ihrerseits anwächst. Erst und nur durch die Aneignung der Surplusarbeit durch die Arbeitermasse wird diese Entwicklung auch tatsächlich zur Befreiung führen. Diese zeigt sich darin, dass die notwendige Arbeit der Gesellschaft auf jenes Mass reduziert wird, das für die unmittelbare Reproduktion (Subsistenz) benötigt wird, und damit ein neuer Reichtum ausserhalb der Warenwelt entsteht: «Die freie Entwicklung der Individualitäten und daher nicht das Reduzieren der notwendigen Arbeitszeit, um Surplusarbeit zu ersetzen, sondern überhaupt die Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann die künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für sie alle freigewordne Zeit und geschaffnen Mittel entspricht.» (ebd, 601) Für die heutige Diskussion könnten wir aus dem Maschinenfragment ableiten, dass der zentrale Arbeitskampf der Digitalisierung die Forderung nach der Verkürzung der Arbeitszeit mindestens im Gleichschritt zum Produktivitätsfortschritt sein muss – dass aber nicht der rückwärtsgewandte Kampf gegen die «Maschinerie» und gegen die Digitalisierung der Weg hin zum Umschlag zu anderen gesellschaftlichen Verhältnissen ist, sondern dass vielmehr die technische Entwicklung überhaupt erst die materiellen Bedingungen schafft, aufgrund derer die Grundlage «in die Luft zu sprengen» (ebd, 602) ist.

 

Wenn es gelingt, eine relevante Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit durchzusetzen, kann die neu verfügbare Zeit einerseits dazu verwendet werden, die ungleiche Verteilung zwischen heute bezahlter und unbezahlter Arbeit abzumindern und gesellschaftlich notwendige Arbeit, die als Care-Arbeit heute oft unbezahlt von Frauen oder schlecht bezahlt von MigrantInnen geleistet wird, gerechter zu verteilen – ein Aspekt, den wir im Maschinenfragment nicht finden. Sie kann andererseits im Sinne Marx’ zur «künstlerischen, wissenschaftlichen Ausbildung der Individuen» (ebd) genutzt werden, also zur Entwicklung von Talenten, welche in der sich entwickelnden Wissensgesellschaft ganz besonders benötigt werden, weil dies jene menschlichen Fähigkeiten sind, die am wenigsten durch Maschinen oder künstliche Intelligenz ersetzt werden können.

 

Wissen nicht als Eigentum, sondern als gesellschaftliche Kraft

Eine oberflächliche Lektüre des Maschinenfragments führt die LeserInnen in die Zeit der klassischen Industrialisierung zurück. Ein Bezug zur Wissensgesellschaft und zur Digitalisierung erschliesst sich aber bereits in den einleitenden Passagen des Textes. In der Herleitung des Begriffs und der Bedeutung der Maschinerie zeigt Marx, welche zentrale Bedeutung dafür die Wissenschaft, ja das allgemeine, gesellschaftliche Wissen hat. Die Maschinerie ist für ihn etwas ganz anderes als ein Instrument des einzelnen Arbeiters, «dessen Handhabung daher von seiner Virtuosität abhängt.» (ebd, 593) Vielmehr ist die Maschine «selbst der Virtuose, die ihre eigne Seele besitzt in den in ihr wirkenden mechanischen Gesetzen» (ebd), und die Wissenschaft, welche die Grundlage der Funktion des Automaten ist, «existiert nicht im Bewusstsein des Arbeiters, sondern wirkt durch die Maschine als fremde Macht auf ihn.» (ebd)

 

Allerdings ist hervorzuheben, dass Marx die Wissenschaft nicht als einzelne Erfindung in den Blick nimmt, sondern als gesamtgesellschaftliche Entwicklung. An der Entwicklung des Capital fixe zur Maschinerie lässt sich laut ihm nämlich ablesen, wie weit «das allgemeine gesellschaftliche Wissen, knowledge, zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des general intellect gekommen […] sind.» (ebd, 602) Es geht also um mehr als um patentierbares einzelnes formelles Wissen. Vorweggenommen wird hier also die Spezifität der Wissensarbeit: Dass WissensarbeiterInnen und Wissenschaftler-Innen für den Erfolg auf das Kollektiv angewiesen sind, dass sie auf bereits vorhandenem Wissen aufbauen und in dem Sinne jeder Fortschritt der Wissenschaft auf der Schulter von Riesen gewachsen ist. Nicht zuletzt hat ja Wissen auch sogenannt positive Externalitäten, das bedeutet, dass der gesamtgesellschaftliche Nutzen grösser ist, wenn es geteilt wird.

 

André Gorz hat festgestellt, dass für das Kapital der «Wert von Wissen […] gänzlich an die Fähigkeit gebunden [ist], seine Nutzung zu monopolisieren» (Gorz 2004, 60). Zu Recht hält Gorz damit fest, dass in der kapitalistischen Gesellschaft ein direkter Wert des Wissens nur durch die künstliche Verknappung geschaffen werden kann. Marx spricht aber immer wieder vom allgemeinen Stand des Wissens. Das führt uns zur Erkenntnis, dass das allgemeine gesellschaftliche Wissen als offenes Wissen (oder im Bereich der Software als Open Source) eine doppelte Rolle spielen kann: Im Kapitalismus, indem es in Form der Maschinerie oder auch von Software zur unmittelbaren Produktivkraft gewordene Macht ist. Und in einer neuen Gesellschaft, indem es eben zur Produktion von geteiltem gesellschaftlichem Reichtum beiträgt.

 

Gorz führt dabei an, dass gerade die Arbeit im Bereich der Open Source Software-Entwicklung bereits ein Übungs- und Erfahrungsfeld darstellt, das den dort Beschäftigten die Möglichkeit gibt, ein neues, wissenskommunistisches Gesellschaftsmodell in der Praxis einzuüben und eine andere Form von Reichtum zu erleben (ebd, 85-94).

 

Spannend ist, dass Marx, obwohl er betont, wie stark die Maschinerie als ihm selbst passendste Form des Capital fixe ein Ausdruck des Standes der Wissenschaft ist, die wissenschaftliche Ausbildung sich in die frei verfügbare Zeit verschiebt. So hat bereits im Maschinenfragment nicht nur die Maschinerie, sondern auch ihre Grundlage, die Wissenschaft, ein doppeltes Gesicht: Unter kapitalistischer Herrschaft dient sie der Weiterentwicklung eines Ausbeutungsregimes, in der frei verfügbaren Zeit betrieben ist sie Ausdruck der Freiheit selbst. Als zweiten Denkanstoss aus der Lektüre des Maschinenfragments nehmen wir also mit, dass  – genauso wie beim Dilemma der Produktivität  – die wesentliche Frage auch bei der Wissenschaft und ebenso beim Wissen ganz allgemein jene ist, unter welchen gesellschaftlichen Bestimmungen sie produziert werden und zum Einsatz kommen. So kann uns das Maschinenfragment, weit über die Beschäftigung mit einer materiellen Maschinerie hinaus, auch Denkanstösse für die Analyse und Gestaltung der Digitalisierung geben (vgl. weiterführend Fuchs, 2016b).

 

Alter Marx in neuen Schläuchen?

Die Digitalisierung ist weder Naturereignis noch Selbstzweck. Heute wird sie vor allem als Grundlage des Überwachungs- und Plattformkapitalismus wirksam. Sie trägt in sich aber ebenso die Grundlagen für Organisationsformen jenseits der kapitalistischen Ausbeutung, die das Leben der Menschen verbessern. Auf dem Weg dorthin stehen folgende politische Forderungen im Zentrum:

• Reduktion der Erwerbsarbeitszeit, Verteilung der Produktivitätsgewinne in Form von freier Zeit und Beteiligung an den Produktionsmitteln

• Recht zum freien Zugang zu allen Daten mit Bezug zur eigenen Person zur Subversion des Überwachungskapitalismus und Demokratisierung des Zugangs zu Wissen

• Plattformen und technologische Infrastruktur müssen als Service public verstanden und organisiert werden, Zugang zu diesen Commons muss für alle zu gleichen Bedingungen möglich sein

• Stärkung von Bildung und Wissenschaft, in deren Fokus soziale Fähigkeiten, Kreativität, kritisches, selbständiges und selbstreflexives Denken stehen, also menschliche Eigenschaften, die eben vermutlich durch künstliche Intelligenzen nicht ersetzt werden können.

Diese Forderungen sind weder neu noch revolutionär. Eine positive Utopie der realen Möglichkeiten einer solidarischen Digitalisierung kann das nötige Gegengewicht werden zur rechten Dystopie des Plattformkapitalismus. Der Weg dorthin bedingt aber nach wie vor die politische Auseinandersetzung – wir haben dabei nichts zu verlieren, sondern eine Welt zu gewinnen.

 

 

Literatur

Das Argument, Nr. 248 (2002): Das Imperium des High-Tech-Kapitalismus. Hamburg.

Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst – Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a.M.

Foster, John Bellamy (2014). Surveillance Capitalism. In: Monthly Review, Vol. 66, Nr. 3

Frey, Carl Benedikt und Michael A. Osborne (2013): The Future of Employment: How susceptible are Jobs to Computerisation? Oxford. www.oxfordmartin.ox.ac.uk/downloads/academic/The_Future_of_Employment.pdf (abgerufen 9. Januar 2018)

Fuchs, Christian (2016a): Reading Marx in the Information Age. New York.

Fuchs, Christian (2016b): Knowledge, Technology, and the General Intel-
lect in the Grundrisse and its «Fragement on Machines», in: Fuchs, Christian (2016a), S. 360 – 375

Gorz, André (2004): Wissen, Wert und Kapital. Zürich.

Heusser, Uwe Jan (2014): Peter Thiel. Funkelnder Kapitalismus. In: Die ZEIT Nr. 39. http://www.zeit.de/2014/39/peter-thiel-wettbewerb-kapitalismus/komplettansicht (abgerufen 11. Januar 2018)

Kazin, Michael (2016): Trump and American Populism, Old Wine, New Bottles, in: Foreign Affairs, 6.10.2016. www.foreignaffairs.com/articles/united-states/2016-10-06/trump-and-american-populism (abgerufen 19. April 2018)

Krugman, Paul (2017): Why Don’t All Jobs Matter? New York Times. www.nytimes.com/2017/04/17/opinion/why-dont-all-jobs-matter.html (abgerufen 9.  Januar 2018)

Lobo, Sascha (2014): Auf dem Weg in die Dumping-Hölle. Spiegel Online. www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/sascha-lobo-sharing-economy-wie-bei-uber-ist-plattform-kapitalismus-a-989584.html (abgerufen 10. Januar 2018)

Lotz, Christian (2014): Karl Marx. Das Maschinenfragment. Hamburg.

Rotman, David (2013): How Technology Is Destroying Jobs. In: MIT Technology

Review 2013, Nr. 7. www.technologyreview.com/s/515926/how-technology-is-destroying-jobs/ (abgerufen 10. Januar 2018)

Saheb, Alexander (2016): Arbeiten ohne Chef und Hierarchie. In: NZZ 5.4.2016. www.nzz.ch/wirtschaft/unternehmen/neue-firmenorganisation-arbeiten-ohne-chef-und-hierarchie-ld.11539

World Economic Forum (2016): The Future of Jobs. Employment. Skills and Workforce Strategy for the Fourth Industrial Revolution. Genf. www3.weforum.org/docs/WEF_Future_of_Jobs.pdf (abgerufen 9. Januar 2018)

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