Mir graut

Mir graut ein wenig, und zwar vor mir selber.

 

Ich sass in einem Restaurant und lauschte dem Gespräch am Nebentisch. Einer sagte etwas über die USA. Dass so viele Menschen dort dick seien und auch kleinste Distanzen nur im Auto zurückgelegt werden und wie wahnsinnig oberflächlich die Amerikaner sind. Herzlich zwar auf den ersten Blick, aber nichts dahinter. Die einzige Frau am Tisch erzählte, dass sie fünf Jahre in den USA gelebt habe und diese Klischees immer wieder höre, aber sie, sie könnte das jetzt gar nicht bestätigen. Nicht mehr Dicke als hier, das mit dem Auto habe sie ganz anders erlebt, und auch die Herzlichkeit, Offenheit, das sei eine echte gewesen. Es gab eine kurze Stille. Dann meinte einer der Männer, er sei auch schon in den USA gewesen, auf einer Rundreise, und er habe noch nie so viele übergewichtige Menschen gesehen wie dort. Und alle im Auto. Immer. Alle. Und dieses «How are you», so oberflächlich, dabei interessiere es keinen wirklich, wie es dem anderen gehe. Die anderen Männer erzählten dann auch von ihren Ferienerlebnissen. Und die Frau schwieg. Bis zum Schluss, sie sagte kein einziges Wort mehr. Ich wollte aufstehen, zu diesem Tisch gehen und in die Runde fragen, ob es jetzt niemand ausser mir etwas komisch finde, dass Ferienerlebnisse der Männer mehr zählten als die Erfahrungen der Frau, die immerhin in diesem Land gelebt hat. Ob es keinem von ihnen jetzt etwas peinlich sei, ihre Rundreiseerlebnisse zum Besten zu geben, ob sie wirklich der Meinung seien, ihre Ferieneindrücke seien aussagekräftiger als das, was jemand vor Ort während mehreren Jahren gesehen hat. Ich tat es dann nicht, blieb sitzen und schaute der Gruppe zu, wie sie die Mäntel von der Garderobe holten und nach Hause gingen.

 

Und dann graute mir eben vor mir selber. Weil ich merke, dass ich zwar durchaus fremde Menschen im öffentlichen Raum zusammenscheissen kann, weil sie neben mir im Tram in der Nase bohren oder laut schnürfen oder schmatzen beim Popcornessen im Kino. Aber ich bleibe manchmal stumm, wenn es darum geht, Partei zu ergreifen, nicht in einer öffentlichen politischen Diskussion, sondern im kleinen, im privaten Rahmen. Ich hätte diese Frau verteidigen müssen, weil es sonst niemand konnte. Nur ich habe das Gespräch mitbekommen, nur ich hätte eingreifen können. Ich war die einzige Zeugin, und ich habe nichts gemacht. Und ich erinnere mich an andere, weitaus gravierendere Situationen, in denen ich ebenfalls stumm blieb. An Momente, in denen ich die politische Diskussion vermied oder gar verhinderte, weil es mir gerade zu mühsam war. Politische Aussagen und Meinungen von Arbeitskollegen oder Freunden, die ich einfach unwidersprochen liess, weil mir nicht danach war und ich die Auseinandersetzung scheute. Und immer war ich die einzige, die hätte eingreifen können, aber ich tat es nicht.

 

Kürzlich war einiges zu den Geschwistern Scholl zu lesen. Rund um ihren Todestag am 22. Februar. Und wie immer, wenn ich dazu etwas lese, frage ich mich, zu welchen ich wohl gehört hätte. Zu den Widerständigen? Oder den vielen anderen?

 

Wenn ich mich dann heute so sehe, oft schweigend im privaten Raum, in dem es nur auf mich ankommt und ich allein die Anwältin für oder gegen etwas sein könnte, dann wünsche ich mir, dass ich den einen Moment nicht verpasse, in dem ich dann wirklich etwas sagen muss. Und mir graut dann nicht nur, weil ich befürchte, zu stumm zu sein, wenn es drauf ankommt, sondern auch, weil ich mich frage, ob es nicht längst darauf angekommen wäre.

 

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