Meinungsfreiheit

Es gibt viele Leute, die sich politisch interessieren, aber nicht einer Partei beitreten wollen. Häufig ist der Grund, dass sie Angst haben, dass sie ihre eigene Meinung verlieren würden, dass sie die Meinung der Partei übernehmen müssten. Ich sage dann jeweils, dass man auch in einer Partei eine Meinungsfreiheit hat, wir seien keine Sekte.

 

Um ganz ehrlich zu sein: Das mit der Rede- und Meinungsfreiheit stimmt zwar, aber das heisst nicht, dass es immer gern gesehen wird. Einiges liegt auf der Hand: Ich kann nicht als Fraktionspräsidentin öffentlich einen Entscheid der Fraktion kritisieren, selbst wenn ich der Meinung wäre, die Fraktion habe einen Mist beschlossen. In gewissen Parteifunktionen gehört es sich einfach nicht, die Partei öffentlich zu kritisieren. Es wäre mir auch nie in den Sinn gekommen, wie Roger Köppel in der ‹Weltwoche› vor den Wahlen einen mehrseitigen Artikel zu platzieren, in dem ich ausführe, wen ich in Bern alles für eine Pfeife halte. Jacqueline Badran bezeichnete dies pointiert als «Gesinnungspolizei steinigt Kollegen: SVP-Scharia». Etwas weniger pointiert: Seine Unabhängigkeit beweist man nicht mit Kollegenschelte, damit zeigt man bloss schlechten Stil.

 

Man kann natürlich nicht erwarten, dass diese Zurückhaltung ein lebenslängliches Verdikt ist. Trotzdem habe ich mich am Sonntag bei der Zeitungslektüre ein wenig geärgert. Nicht so sehr über Daniel Jositsch (dazu später), sondern über den Artikel in der ‹NZZ am Sonntag›, wonach verschiedene SP-Promis ins Komitee von Ständeratskandidat Ruedi Noser gehen wollen. Ausgenommen dabei ist Werber Hermann Strittmatter, der schon immer neben SPlern auch für Freisinnige wirbt. Verstehen würde ich es auch bei Mario Fehr, zumal Ruedi Noser ja auch in seinem Komitee für die Regierungsratswahlen war. Markus Notter und Elmar Ledergerber, die laut ‹NZZ am Sonntag› Noser unterstützen, sind ehemalige Exekutivpolitiker, die mittlerweile keine Funktion mehr in der Partei haben. Sie sind – wie alle anderen Mitglieder – frei darin, ihre Meinung zu äussern, auch wenn sie der der Partei nicht entspricht. Man darf sich dann aber auch darüber ärgern.

 

Es hat mich geärgert, weil ich finde, dass die SP den Grünen gegenüber ein wenig verpflichtet ist. Sie haben Daniel Jositsch unterstützt, und dank der grossen Listenverbindung hat die SP zwei Sitze im Nationalrat dazugewonnen. Einer davon ist der verloren gegangene Sitz der Grünen. Natürlich kann man in einer Gesamtbetrachtung sagen, dass auch die Grünen schon von der SP profitiert haben und zum Beispiel bei diesen Wahlen in Basel dank der SP wieder einen Sitz gewonnen haben. Aber es wirkt trotzdem ein wenig undankbar.

 

Zum zweiten scheint mir das Argument, mit Ruedi Noser Hans-Ueli Vogt zu verhindern, nicht sonderlich schlagend. Ruedi Noser ist in den letzten Jahren ziemlich stark nach rechts gerückt. Als Vortrommler der Vereinigung «Succéss Suisse» schiesst er gegen alles, was ein bisschen links riecht. Wenn Hans-Ueli Vogt nicht der Vater der unsäglichen Völkerrechts-Initiative wäre, dann könnte man schon fast behaupten, er sei gesellschaftspolitisch liberaler als Ruedi Noser. Zum Beispiel befürwortet Vogt im Gegensatz zu Noser das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Partnerschaften und dass gleichgeschlechtliche Paare Pflegekinder aufnehmen können. Vogt ist auch für eine Cannabis-Legalisierung. Negativ aufgefallen ist mir zudem eine Bemerkung von Ruedi Noser an einem Ständeratspodium. Wie die NZZ berichtete, sagte Noser über ‹seinen› Bundesrat Didier Burkhalter: Es gäbe Gerüchte, dass der Aussenminister mit der EU in institutionellen Fragen einig sei – und das verheisse nichts Gutes. «Ich bin in der FDP-Fraktion einer der grössten Kritiker Burkhalters, ja, ich misstraue ihm.» Da ist der berühmte halbe Bundesrat nicht weit weg davon entfernt.

 

Man kann durchaus finden, dass Bastien Girods Berechnung und Kandidatur doch sehr optimistisch ist und seine Wahlchancen klein sind. Aber dass er eine Chance sieht und diese packen will, ist sehr legitim. Wir sollten ihm mindestens diese kleine Chance nicht vermiesen. Die Chance von Hans-Ueli Vogt ist so oder so relativ gering. Es ist davon auszugehen, dass sein Potenzial ausgeschöpft ist. Er wird kaum Stimmen aus der Mitte oder von links erhalten. Und wenn Noser sein Potenzial in der Mitte nicht ausschöpft, ist das nicht unser Problem.

 

Ich bin froh, dass wir am 22. November mit Bastien Girod eine echte Alternative und nicht bloss das kleinere Übel zu wählen haben. Gerade auch, weil er tatsächlich etwas mitbringt, was im Ständerat fehlt: Eine konsequente grüne Stimme.

 

Einige Leute haben sich am Sonntag über das Interview von Daniel Jositsch in der ‹Sonntags-Zeitung› geärgert. Dazu gehöre ich nicht. In einem Punkt finde ich seine Einschätzung sogar sehr richtig: Die SP muss den Anspruch haben, eine breit aufgestellte Volkspartei zu sein. Und eigentlich müsste das Ziel sein, dreissig Prozent zu erreichen, genauso wie die SVP. Damit das ansatzweise gelingt, brauchen wir ein gewisses politisches Spektrum von Daniel Jositsch bis Fabian Molina, von Mattea Meyer bis Pascale Bruderer. Die Debatte darüber, ob das Gras fetter in der Mitte sei oder ob links von uns kein Gras wachsen soll, ist eine alte. Beide Ansichten sind je nach Standpunkt richtig.

 

Die SP hat in den Kantonsratswahlen in der Stadt Zürich kräftig an die AL verloren. Also gegen links. Sie hat in den vergangenen Jahren aber auch schon an die Grünliberalen verloren. Also gegen rechts. Das heisst also, dass die SP so oder so eine gewisse Breite in der Position abdecken muss, sonst verliert sie entweder gegen rechts oder gegen links oder an beide zusammen.

 

Die USP, also die Unique Selling Proposition beziehungsweise der Hauptverkaufsgrund der SP liegt – neben der Geschichte und der Erfahrung – in ihrer Grösse. Die SP ist als grösste linke Partei nach wie vor die einzige, die auch Kraft ihrer Grösse die Möglichkeit hat, etwas zu bewegen. Dazu kommt die Regierungsbeteiligung. Das hat durchaus auch Nachteile. Sie muss auf ihre Exekutiv-mitglieder Rücksicht nehmen. Aber beliebte und gute Magistratinnen und Magistraten sind ein Vorteil der SP, weil sie sozialdemokratische Politik konkret umsetzen können – immer im Rahmen ihrer Möglichkeiten.  Sozialdemokratische Politik richtet sich immer sowohl am Machbaren wie auch am Wünschbaren aus.

 

Zuletzt: Der Reflex, auf jedwelche Diskussion mit «Ach, ist das wirklich nötig» oder «Könnte man das nicht intern klären» zu reagieren, ist sehr stark. Auch bei mir (wie diese Zeilen zeigen). Aber eigentlich müsste man die Diskussion um Politik und Inhalte und Ausrichtung der SP begrüssen. Es kann der SP nur nützen, wenn sich die mediale Diskussion um Inhalte der SP statt der SVP dreht.

Min Li Marti

 

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.