«Meine Erwartungen wurden erfüllt»

Letzte Woche hatte Claudia Kaufmann ihren letzten Arbeitstag als Ombudsfrau der Stadt Zürich. Bevor sie nun in Pension geht, gewährt sie im Gespräch mit Nicole Soland einen Einblick in ihre Tätigkeit als Leiterin der Ombudsstelle, die sie über 15 Jahre lang ausübte.

 

Bevor Sie Ombudsfrau wurden, arbeiteten Sie in der Bundesverwaltung, zuletzt als Generalsekretärin im Departement des Inneren unter SP-Bundesrätin Ruth Dreifuss. Was bewog Sie damals dazu, diese gute Stelle aufzugeben?

Claudia Kaufmann: Bundesrätin Ruth Dreifuss trat per Ende 2002 zurück. Es war klar, dass ihr Nachfolger im Eidgenössischen Departement des Inneren EDI, Bundesrat Pascal Couchepin, seineN GeneralsekretärIn selber auswählen sollte. Also bot ich meinen Rücktritt an.

 

Was interessierte Sie speziell daran, Leiterin der Ombudsstelle der Stadt Zürich zu werden?

Im EDI hatte ich an sozialen, gesellschaftspolitischen und gesundheitspolitischen Themen gearbeitet, und zwar von der gesetzgeberischen Seite her und aus der Per­spektive des Bundes. An der Stelle als Ombudsfrau interessierte mich, dass ich mich mit denselben Themen würde beschäftigen können, jedoch vom konkreten Fall her und aus städtischer Perspektive. Da ich – abgesehen von einigen Gerichtspraktika direkt nach dem Studium – mein ganzes Berufsleben lang in der Bundesverwaltung gearbeitet hatte, war dies eine faszinierende neue Perspektive.

 

Nun ist Ombudsfrau ein spezieller Job: Haben Sie sich nie zurückgewünscht in die Bundesverwaltung?

Nein, überhaupt nicht – und das, obwohl ich von der Zeit in der Bundesverwaltung keinen Tag missen möchte: Alle Funktionen, in denen ich dort tätig war, habe ich als sehr interessant empfunden. Mir war zudem immer wichtig, dass ich mich im Beruf als Person einbringen kann und einen gewissen Gestaltungsspielraum habe, und das war dort ebenso der Fall wie danach als Ombudsfrau: Die Stadt Zürich ist faszinierend, und hier erkennen Behörden, Gemeinderat, Verwaltung und Stadtrat gleichermassen das Potenzial der Ombudsstelle. Sie anerkennen ihre Selbstst­ändigkeit und Unabhängigkeit, statten sie mit den nötigen Ressourcen aus und unterstützen sie tatkräftig, was mir sehr viel ermöglich hat und wofür ich dankbar bin. Ich hatte hohe Erwartungen an die Stelle, weil ich das Modell «Parlamentarische Ombudsstelle» bereits aus dem Ausland kannte und es stets als grosse Chance betrachtete, unkompliziert und unbürokratisch Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen. Meine Erwartungen wurden erfüllt.

 

In welchem Rahmen hatten Sie sich bereits mit der Institution Ombudsstelle befasst?

Als ich noch im EDI tätig war, wurde darüber diskutiert, ob auf Bundesebene eine Ombudsstelle eingeführt werden sollte. Ich schaute mir deshalb verschiedene Modelle an. Leider hat es dann nicht geklappt; das Parlament lehnte das Vorhaben sehr deutlich ab. Auch deshalb ist die Schweiz bis heute ein Flickenteppich, was Ombudsstellen betrifft: Ein paar grosse Städte und einige Kantone haben eine, doch auf Bundesebene gibt es nichts Vergleichbares. Angesichts der stark föderalistischen Strukturen der Schweiz ist das ein grosser Fehler: Es gibt immer wieder Themen, die ich spannend fand, aber beim besten Willen nicht bearbeiten konnte, weil dafür der Kanton oder der Bund zuständig ist. Auch mein Kollege beim Kanton macht diese Erfahrung immer wieder. Es wäre deshalb sehr wünschenswert, auf jeder der drei Ebenen parlamentarische Ombudsstellen oder vergleichbare Einrichtungen zu haben.

 

Als Ombudsfrau nahmen Sie, von Einzelfällen ausgehend, Grundsätzliches ins Visier: Gibt es demnach spezielle Einzelfälle, aufgrund derer eine bestimmte Praxis für alle weiteren Fälle geändert wird?

Ja, das gibt es häufig: Man merkt beispielsweise, dass ein Formular, um einen Antrag zu stellen, nicht verständlich ist. Möglicherweise sind die verwendeten Textbausteine schlicht ungeeignet. Dann gilt es, das Formular entsprechend anzupassen. Es kann aber auch sein, dass man merkt, dass mit bestimmten Formularen persönliche Angaben verlangt werden, die gar nicht nötig sind, um die für diesen Antrag relevanten Fragen zu klären. Oder es kommt vor, dass man die Verwaltung darauf hinweisen muss, dass sie gewisse Aspekte bislang nicht genügend berücksichtigt oder dass sie eine falsche Praxis hat.

 

Haben Sie ein Beispiel für eine Gesetzes- oder Praxisänderung in der Stadt Zürich, die auf diesem Weg entstanden ist?

Als ich als Ombudsfrau anfing, fiel mir auf, dass die Stadtpolizei Zürich Menschen, die sie zur Befragung auf die Wache nahm, automatisch in eine Abstandszelle führte und vorher einer Leibesvisitation unterzog. Dieses Prozedere wurde unabhängig davon durchgezogen, ob es sich um drei spätnachts aufgegriffene Teenager-Mädchen, einen verwirrten Rentner oder um einen möglicherweise gefährlichen Tatverdächtigen handelte. Den meisten unserer KlientInnen hätte man einfach einen Stuhl anbieten und ihnen mitteilen können, in einer Viertelstunde kümmere man sich um sie. Darauf wiesen wir von der Ombudsstelle hin und erklärten, dieser Automatismus sei nicht verhältnismässig. In der Folge wurde die Praxis geändert. Bei den sozialen Diensten wiederum wurde die aufschiebende Wirkung einer Einsprache grundsätzlich entzogen, was nicht rechtens ist. Wir wiesen erfolgreich auf den Ausnahmefall hin, der jedes Mal individuell begründet werden muss und ein überwiegendes öffentliches Interesse verlangt.

 

In der ersten Hälfte der Nuller-Jahre machten die Sozialen Dienste der Stadt regelmässig Schlagzeilen, und auch in Ihren Jahresberichten dominierte das Soziale. Unterdessen hat sich die Lage anscheinend normalisiert – diesen Eindruck erhält man jedenfalls, wenn man sich die Berichte der Ombudsstelle der letzten Jahre anschaut. Oder täuscht der Eindruck?

Es ist tatsächlich so, dass sich der damalige mediale Wirbel und politische Druck in Zürich zum Glück beruhigt hat, während die Sozialhilfe andernorts aktuell stark angegriffen wird. Damals, kurz nachdem ich meine Stelle als Ombudsfrau angetreten hatte, ging es los mit dem sogenannten Hotelfall: Eine Grossfamilie musste in einem Hotel einquartiert werden, was sogleich skandalisiert wurde. Danach folgten generelle Angriffe auf die Sozialen Dienste und die Menschen, die Sozialhilfe bezogen; die «Missbrauchsdebatte» nahm ihren Anfang. Auf der politischen Ebene wurde die damalige Sozialvorsteherin Monika Stocker angegriffen, doch in der täglichen Arbeit der Sozialen Dienste resultierten daraus völlig verunsicherte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Viele hatten Angst oder waren frustriert; sie fragten sich, was dürfen wir jetzt noch? Es war eindrücklich für mich zu sehen, wie die massiven medialen und politischen Angriffe einen gut funktionierenden Verwaltungszweig zum Erliegen brachten. Viele MitarbeiterInnen machten nur noch Dienst nach Vorschrift und hielten sich sehr eng an den Buchstaben, um ja nichts falsch zu machen und nicht angegriffen zu werden.

 

Das hat sich unterdessen wieder normalisiert?

Ja, mit grossem Aufwand. Es hat mich genauso beeindruckt, dass es sehr lange, drei bis vier Jahre, dauerte, bis die Sozialen Dienste wieder am Vorherigen anknüpfen konnten, nämlich ein professioneller und engagierter Bereich der Stadtverwaltung zu sein. Das war für mich einmalig. Leidtragende waren die MitarbeiterInnen, vor allem aber auch die KlientInnen. In unserer Statistik sieht man das sofort: Die Fallzahlen waren enorm hoch.

 

Trotzdem haben auch heute noch etliche Fälle einen Bezug zu den Sozialen Diensten.

Stimmt, das ist nicht weiter erstaunlich: Bei der Sozialhilfe geht es um die Existenzgrundlage der Menschen. In Zürich behandeln die Sozialen Dienste zudem auch Fragen, bei denen es um Kindes- und Erwachsenenschutz oder um Beistandschaften geht; auch Anfragen zu diesen Themen gelangen oft an die Ombudsstelle. Zudem sagt die reine Zahl der Fälle aus einem bestimmten Gebiet noch nichts über die geleistete Qualität der Arbeit aus. Es kann auch bedeuten, dass die betroffenen Menschen den Mut haben, die Ombudsstelle aufzusuchen. Das ist ein gutes Zeichen. Es kommt übrigens immer wieder vor, dass jemand auf die Frage, wie er oder sie uns gefunden hat, erklärt, seine Sozialarbeiterin habe ihn ermuntert, sich an uns zu wenden.

 

Sind wegen der Corona-Pandemie im Sozialen mehr Fälle oder spezielle Vorkommnisse zu befürchten?

Bisher kamen sehr wenige Personen zu uns, die von den Sozialen Diensten die eigens geschaffenen Überbrückungshilfen beanspruchen mussten. Ich habe es ausserordentlich geschätzt, dass die Sozialen Dienste auch während des Lockdowns stets physisch anwesend waren – dies vor allem angesichts der grossen Verunsicherung von Menschen, die nie gedacht hätten, eines Tages selbst mit der Sozialhilfe zu tun zu haben. Wie sich die Pandemie längerfristig auswirkt, ist hingegen offen. Um dazu seriös Stellung zu nehmen, ist es meines Erachtens noch zu früh.

 

Kurz vor den Sommerferien überwies der Zürcher Gemeinderat eine Motion der SVP «zur Verhinderung von Vetternwirtschaft»; nun wird das Personalrecht der städtischen Verwaltung ergänzt. Zur Begründung des Vorstosses bezog sich die SVP auf einen Ihrer Berichte, in dem Sie schrieben, die Fälle nähmen zu.

Der Ombudsstelle war es wichtig, auf das Thema hinzuweisen und der Verwaltung nahezulegen, sich ernsthaft damit zu beschäftigen. Eine Anpassung des Personalrechts haben wir nicht vorgeschlagen, sondern der Verwaltung die Empfehlung gegeben, sich damit vertieft auseinanderzusetzen. Es spielt beispielsweise eine Rolle, wann und durch wen ein Verhältnis transparent gemacht wird und ob zwei Menschen bereits eine Beziehung – worin diese auch immer bestehen mag – hatten, bevor sie in der Verwaltung zu arbeiten begannen, oder nicht. Dabei geht es ja nicht nur um Verwandtschafts- oder Liebesbeziehungen. Die Verwaltung muss einen Kodex und eine klare, transparente Vorgehensweise entwickeln. Ob sie dies im Personalrecht oder anderswo festschreibt, ist jedoch zweitrangig: Entscheidend ist die Umsetzung. Hier muss die Verwaltung dranbleiben.

 

Weshalb ist das Thema gerade jetzt aktuell?

Wir haben es über mehrere Jahre beobachtet, und im vorletzten Jahr gab es gleich mehrere schwerwiegende Fälle. Deshalb entschied ich damals, es in den Jahresbericht aufzunehmen mit einer klaren Empfehlung an die Verwaltung.

 

Und weshalb haben die Fälle zugenommen?

Ich bin mir nicht sicher, ob sie zugenommen haben: Es kann auch sein, dass sich mehr Betroffene an uns wandten als früher. Vielleicht ist das Unbehagen und Bewusstsein gewachsen. Dazu ein aktuelles Beispiel: Der Themenbereich Diskriminierung, Ausgrenzung und rassistische Benachteiligung beschäftigt die Ombudsstelle seit mehreren Jahren und existiert längst nicht nur in Form von sogenanntem Racial Profiling bei der Polizei. Solche Fälle gibt es z. B. auch in der Schule, im Gesundheitsbereich oder in Arbeitsverhältnissen in der Stadt. Seit ein paar Monaten läuft die öffentliche Diskussion ja aus aktuellem Anlass darüber intensiv, und seither haben die Zahlen bei uns in den verschiedensten Bereichen wesentlich zugenommen: Das Thema ist zu einer gesellschaftlichen Fragestellung geworden und wird nicht mehr nur als individuelles Problem einer bestimmten Person wahrgenommen, die etwas als Diskriminierung erlebt hat. Das ermutigt Betroffene, sich zu beschweren und die Stimme zu erheben.

 

Die Ombudsstelle kann der Verwaltung nur etwas empfehlen, nicht befehlen: Kam es auch vor, dass Sie etwas vorschlugen, und es passierte – nichts?

Ja, das kam vor, beispielsweise dann, wenn die Verwaltung nicht mit unseren Empfehlungen einverstanden war. In der Stadt Zürich ist das jedoch eindeutig die Ausnahme, nicht die Regel. Eher kommt es vor, dass die Verwaltung zusagt, eine Empfehlung umzusetzen, doch einige Monate später ist noch nichts passiert. In solchen Fällen gehört es zur Ombudsarbeit, so lange dranzubleiben, bis die vereinbarte Massnahme tatsächlich umgesetzt ist. Meist fussen solche Versäumnisse ja nicht auf bösem Willen, sondern das Thema ist sperrig oder schlicht untergegangen.

 

Kommen wir zum Schluss: Was ist Ihnen besonders gut gelungen, was weniger?

Ombudsarbeit ist eine Daueraufgabe, und bekanntlich ist das Bessere der Feind des Guten. Entsprechend gibt es Themen, welche die Verwaltung und damit auch die Ombudsstelle immer beschäftigen werden. Themen setzen konnten mein Team und ich beispielsweise in der Kommunikation, von verständlicher Sprache über Barrierefreiheit und Digitalisierung bis hin zum Einbezug jener Menschen, die an der Digitalisierung nicht teilnehmen können oder wollen. Auch das Verständnis für die heute geforderte Transparenz und gute Verwaltungsführung hat in den letzten fünfzehn Jahren zugenommen. Ein wichtiges Thema ist das Ermessen, und zwar nicht nur in der Sozialhilfe. Andernorts sind wir aber noch nicht dort, wo wir hinsollten, etwa bei der Bedeutung von Grund- und Menschenrechten. Das Thema Zugang zum Recht hat einen Schub genommen, aber auch da gilt es, dran zu bleiben. Fragen von Diskriminierungen, Ausgrenzungen und Benachteiligungen werden ein Dauerthema bleiben – und zwar nicht, weil die Stadt diesbezüglich besonders schlecht dastünde, sondern einfach, weil wir alle uns damit immer wieder beschäftigen müssen.

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