Mehr Gelassenheit

Elisabeth Noelle-Neumann erfand in den 1970er Jahren die Theorie der «Schweigespirale». Die Theorie besagt, dass Menschen sich häufig nicht getrauen, ihre Meinung zu äussern, wenn sie das Gefühl haben, sie widerspreche der vorherrschenden Meinung. Viele Leute befürchteten beispielsweise, dass die Abstimmungsumfragen zur Durchsetzungsinitiative falsch seien, weil BefürworterInnen vielleicht nicht offen dazu stehen würden, dass sie Ja stimmen wollen. Nun war Elisabeth Noelle-Neumann eine Konservative und die 1970er-Jahre anders als heute. Sie und andere erhofften sich bei der ‹schweigenden Mehrheit› mehr Unterstützung für ihre Politik, als sie dies von der öffentlichen und veröffentlichten Meinung zu erwarten hatten.

Heute gäbe es keine ‹Schweigespirale› mehr, sondern eine ‹Schreispirale›, schreibt der Internet-Kenner Sacha Lobo in einer Kolumne auf ‹Spiegel Online›. Im Zeitalter der sozialen Medien hält keiner mit seiner Meinung mehr hinter dem Berg. «Der Social-Media-Nachfolger der Schweigespirale ist die Schreispirale. Die politische Öffentlichkeit wird genau durch diese Grenzverschiebungen zum immer schriller kreischenden Stammtisch, begünstigt durch die sozialen Medien, befeuert aber auch von redaktionellen Medien, die sich selbst in einen Sharing-Teufelskreis hineinsteigern: je schriller, desto like.»

Wer ab und zu die Kommentare in Online-Medien durchliest, verliert dabei immer ein wenig den Glauben an die Menschheit. So viel Hass und Wut auf Flüchtlinge, Linke, Feministinnen und überhaupt auf alles und jeden schlägt einem da entgegen. Auch wenn wir alle wissen, dass diese Kommentare nicht repräsentativ sind, hinterlassen sie dennoch Spuren. Verschiedene Medien haben sich denn auch schon überlegt, die Kommentarspalten abzuschalten.

Über das Wesen der sogenannten Internet-Trolle wurde schon viel spekuliert. Eine psychologische Studie kam zum Schluss, dass solche Hasskommentatoren oft auch im wirklichen Leben Sadisten seien. Ihnen macht es offenbar Freude, andere Leute zu ärgern und sie zu verletzen. Eine andere Kategorie von ‹Trollen› wurde im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine bekannt. Laut Medienberichten nutzt Russland Online-Kommentare gezielt als Propagandainstrument. Dazu gäbe es eigens sogenannte Troll-Fabriken, wo nach Bezahlung Kommentare fabriziert werden.  Wieviel Einfluss diese Hass-Kommentare (oder auch Hass-Demonstrationen) wirklich auf die öffentliche Debatte haben, weiss ich nicht. Ich merke einfach persönlich, dass ich mich zuweilen nach etwas mehr Gelassenheit in politischen Debatten sehne.

Flavia Kleiner ist das Aushängeschild der ‹Operation Libero›. Diese hat sich im Nachgang der Abstimmung zur Masseneinwanderung formiert und ist eine eher lose Vereinigung von politisch Interessierten, die sich im liberalen Spektrum ansiedeln, aber durchaus eine breite politische Ausrichtung haben. Sie fühlen sich von den aktuellen Parteien nicht wirklich vertreten und engagieren sich daher lieber in der eigenen Bewegung. Sie erinnert – nicht nur mich – an die nach der verloren gegangenen EWR-Abstimmung gegründete Jugendbewegung «Geboren am 7. Dezember». Das Aushängeschild war damals die Jungfreisinnige Sabina Döbeli. Flavia Kleiner und die Operation Libero erhielten im Laufe der Abstimmung und danach sehr viel Medienaufmerksamkeit. Kleiner sei der «Alptraum der SVP», hiess es beispielsweise im ‹Tages-Anzeiger›.

Nun liegt es ein wenig in der Natur der Ungerechtigkeit von Medienaufmerksamkeit, dass Kleiner mehr Lorbeeren erhielt als andere, die auch Wesentliches zur Abstimmungskampagne beigetragen haben. Der Erfolg hat stets viele Mütter und Väter. Zum Beispiel hat Pierre Heusser im P.S. als erstes die Fallbeispiele zur Durchsetzungsinitiative gebracht, die danach vielerorts weiterverbreitet wurden. Aber: Die Fallbeispiele wurden auch wesentlich ergänzt und von der ‹Tages-Woche› attraktiv aufbereitet. Zum Schluss zählt aber vor allem das Resultat. Und das war positiv. Es ist klar, dass für die Medien eine junge, bis anhin nicht bekannte Frau interessanter ist als ein 80jähriger ehemaliger TV-Chefredaktor, der das Aushängeschild des «Dringenden Aufrufs» war. Das schmälert das Engagement der Leute des «Dringenden Aufrufs», wie der unermüdlichen Kampagnenkoordinatorin Andrea Arezina, nicht.

Man kann durchaus die Medienmechanik kritisieren, die gerne Leute hypt, um sie nachher wieder niederschreiben zu können. Aber dafür kann Flavia Kleiner nichts. Dass sie die Plattformen nutzt, um ihr Anliegen und ihre Organisation zu bewerben, ist ihre Aufgabe. Ich finde einfach, jetzt wo wir die Abstimmung gewonnen haben, braucht es eine Grosszügigkeit aller SiegerInnen. Und nicht eine kleinliche Debatte darüber, wer es jetzt erfunden hat. Schliesslich wird man auch in künftigen Abstimmungen wieder zusammenarbeiten müssen. Die DSI war nur eine Schlacht, weitere folgen. Die nächste schon im Juni, wenn es um das Referendum der SVP gegen das Asylgesetz geht. Und jeder, der sich hier im Abstimmungskampf engagiert, der ist willkommen.

Neben mehr Gelassenheit wünsche ich mir manchmal auch mehr Grautöne. Zum Beispiel bei der kommenden Abstimmung um das Grundeinkommen. Ich verstehe alle Argumente dagegen und teile sie auch. Die Finanzierung des Grundeinkommens ist ungelöst. Die Höhe des Grundeinkommens müsste existenzsichernd sein, die von den Initianten vorgeschlagenen 2500 Franken sind das nicht. Das Grundeinkommen erhielten auch Leute, die es nicht brauchen. Wenn das Grundeinkommen die bestehenden Sozialwerke ersetzen soll, dann ist es real eine Verschlechterung für die Betroffenen. Es kann auch nicht sein, dass die Unternehmen das Grundeinkommen zum Anlass nehmen, die Löhne massiv zu senken und man damit Löhne staatlich subventioniert (wobei das natürlich für das P.S. finanziell toll wäre). Und: Letztlich hat Erwerbsarbeit einen hohen Wert für die gesellschaftliche Integration. Wer nicht arbeitet, ist ausgeschlossen.

Und dennoch ist es eine interessante Idee, mit der man sich ernsthaft über die Juni-Abstimmung hinaus auseinandersetzen sollte. Ich habe mich in den letzten Monaten intensiv mit der Digitalisierung, der sogenannten ‹vierten industriellen Revolution› auseinandergesetzt. Selbst wenn man den pessimistischen Szenarien keinen Glauben schenkt, ist es dennoch einigermassen realistisch, dass Automatisierung und Digitalisierung grosse Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben. Und dass eine Reihe von Menschen im künftigen Arbeitsmarkt Probleme haben werden. Ich kann das als Vertreterin einer durch die Digitalisierung massiv herausgeforderten Branche aus eigener Erfahrung sagen. Zur Lösung dieser Frage könnte das Grundeinkommen ein interessanter Ansatz sein.

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Im Buch «Die Idee des Sozialismus» schlägt Axel Honneth einen experimentellen Ansatz vor. Er plädiert für einen Mut, «Experimente» mit dem Ziel zuzulassen, «die Spielräume sozialer Freiheit im Wirtschaftsbereich … zu erweitern». Das wäre auch eine Chance, die Idee des Grundeinkommens und anderer Spielarten zu erproben. So wie dies in den Niederlanden in verschiedenen Gemeinden der Fall sein wird und wie es sich auch Kanada überlegt. Neben Gelassenheit und Grautönen wünsche ich mir auch etwas mehr Wagnis. Vielleicht schaffen wir das.

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