«Man sollte aufhören, solange es noch Spass macht»

Insgesamt 17 und 19 Jahre sassen die beiden SP-Kantonsräte Roland Munz und Benedikt Gschwind fast jeden Montag im Ratshaus. Im Gespräch mit Zara Zatti schauen sie auf ihre Zeit im Kantonsparlament zurück, sprechen über besondere Highlights und die neuen Mehrheitsverhältnisse.

 

Wie war der erste Montag ohne Ratssitzung?
Benedikt Gschwind: Es war schon ein bisschen ein komisches Gefühl zu wissen, dass gerade eine Sitzung stattfindet, man aber nicht dabei ist. Als ich am Abend die Bilder meiner Ratskollegen- und Kolleginnen gesehen habe, wurde mir nochmals bewusst, dass ein Kapitel zu Ende gegangen ist.
Roland Munz: Ich hatte am Morgen noch ganz viel anderes zu tun, es war mir also gar nicht langweilig. Erst als ich am Mittag für ein Geschäft nochmals in die Fraktion musste, wurde mir bewusst, dass der Rat am Morgen ohne mich stattgefunden hat. Wahrscheinlich dauert es noch einen Moment, bis ich voll realisiere, dass die Ratszeit vorbei ist.

 

Sie beide kommen aus dem Landesring. Wieso sind sie damals nicht in die SP eingetreten?
R.M.: Bei mir waren schon die letzten zwei Generationen im Landesring, ich kannte also bereits die Leute, wäre aber allein aus diesem Grund nicht der Partei beigetreten. Bereits als Schüler war ich politisch aktiv, wobei der soziale und grüne Gedanke für mich immer sehr wichtig war. Der Landesring war eine kleine soziale, demokratische Partei, wo man grosse Freiheiten hatte. Es hätte schon damals auch die SP werden können, ich wollte mich zu dieser Zeit aber noch nicht zu stark an Parteiprogramme- und Strukturen binden. Dass man unabhängig vom Parteichef seine eigenen Projekte verfolgen konnte, hat mir als Jugendlicher sehr zugesagt.
B.G.: Ich habe mich um 1980 entschieden, politisch aktiv zu werden und mir die verschiedenen Parteien angeschaut. Die SP kam dabei durchaus in die engere Auswahl. Ich war damals 18 Jahre alt und befand mich in der kaufmännischen Lehre. Der zu dieser Zeit noch herrschende 68er-Groove erschien mir sehr abstrakt und zu weit entfernt von den konkreten Problemen der Menschen. Der unabhängige Gedanke des Landesringes, dass man nicht ideologisch fixiert ist, hat mir zudem sehr gepasst. Ich blieb dem LdU bis zur Auflösung treu, danach war es für mich klar, in die SP überzutreten. In den 90er-Jahren kam eine von der Wirtschaft forcierte Deregulierungseuphorie auf. Meiner Meinung nach brauchte es dazu ein politisches Gegengewicht, was mich nochmals bestärkte, der SP beizutreten.

 

War für Sie auch klar, nach der Auflösung des LdU der SP beizutreten, Herr Munz?
R.M.: Ja. Ich wurde wenige Wochen nach der Parteiauflösung als letzter Landesring-Kantonsrat vereidigt und stand dann vor der Situation, dass ich gar keine Partei mehr hatte. Ich habe mir also überlegt, in welcher Partei ich eine neue politische Heimat finden könnte, eine Wiederwahl in den Kantonsrat war dabei zweitrangig. In Schwamendingen war die Parteilandschaft zu dieser Zeit noch nicht so üppig, der grüne Bereich wurde vom Landesring abgedeckt, links der Mitte gab es eigentlich nur die SP. Die Partei kam dabei selbst auf mich zu, da sich meine im Rat vertretenen Werte stark mit denen der SP deckten. Ich merkte schnell, dass ich mich in der Partei auch unabhängig von einem Kantonsratssitz wohlfühlen würde. Dass wir den Sitz 2003 dann für die SP gewinnen konnten, glich einem kleinen Wunder und ich blieb weiterhin im Kantonsrat.

 

War es von Beginn weg klar, dass Sie in den Kantonrat wollten oder wäre der Gemeinderat auch eine Option gewesen?
B.G.: Was in der Stadt Zürich geschieht, interessiert mich durchaus. Ich denke aber, dass die Gestaltungsmacht auf kommunaler Ebene stärker bei der Exekutive liegt. Als kantonaler Parlamentarier hat man einfach mehr Gestaltungsmöglichkeiten, weshalb ich es nie angestrebt habe, dem Gemeindeparlament beizutreten.
R.M.: Für mich lag der Gemeinderat auch nie im Fokus, da mir die kommunale Ebene zu konkret ist. Es ist wichtig, dass sich Menschen mit diesen konkreten Fragen auseinandersetzen, ich bin aber jemand, der lieber strategisch denkt. Die strategischen Fragen werden in unserem föderalistischen System zu einem grossen Teil auf kantonaler oder Bundesebene behandelt. Der Nationalrat war für mich nie eine Option, ich hätte als Teilselbstständiger auch gar nicht die Möglichkeit gehabt, während ganzer Sessionen in Bern zu sein.

 

Der Nationalrat war für Sie auch kein Thema, Herr Gschwind?
B.G.: Ich hätte mir das durchaus vorstellen können, es hat sich aber nie ergeben. Zu der Zeit, als es für mich infrage kam, gab es kaum Vakanzen bei der SP, danach war es für mich schon etwas zu spät. Ich hadere aber nicht mit dem, dass es nicht geklappt hat, und schaue dankbar auf die Zeit im Kantonsrat zurück.

 

Wieso jetzt der Rücktritt?
B.G.: Ich war jetzt insgesamt 19 Jahre im Parlament, dabei beginnen sich gewisse Abläufe zu wiederholen. Bei den Geschäften, die ich konkret in der Kommission betreut habe, war ich bis zum Schluss mit grosser Motivation dabei. Im Kantonsrat muss man aber auch viel zuhören, das verfolgt man irgendwann nicht mehr mit dem gleichen Interesse wie am Anfang. Wenn das der Fall ist, dann ist die Zeit reif für eine Veränderung.
R.M.: Ich wollte aufhören, solange es noch Spass macht. Die eigene Partei sollte es auch noch ein bisschen bedauern können, wenn man geht. Es sollte nicht sein, dass alle nur noch darauf warten, dass man endlich den Platz freimacht. Ich wusste schon vor vier Jahren, dass dies meine letzte Legislatur sein wird. Ich ging bis zum letzten Tag mit grosser Leidenschaft in die Fraktion und werde das vielleicht auch weiterhin machen, wenn ein Thema interessiert. Über meine verschiedenen Mandate, zum Beispiel im Migrationsbereich, bleibe ich weiterhin politisch aktiv und setze dort meine zusätzliche Energie ein.

 

Wie hat sich der Kantonrat über die Jahre verändert?
B.G.: Der mediale Fokus auf das kantonale Parlament hat meiner Meinung nach stark abgenommen, die institutionelle Politik scheint nicht mehr so sexy zu sein. Als ich damals in den Kantonsrat kam, war die Medienbank noch voll besetzt. Die Landzeitungen hatten noch je ihre eigene Redaktion für den Kanton , bei der NZZ gab es ein Verhandlungsprotokoll, bei dem jedes Votum erwähnt wurde, und auch die Lokalradios berichteten regelmässig über das Ratsgeschehen. Der Kantonsrat war dadurch viel präsenter in der Öffentlichkeit, viele Leute aus meinem Umfeld wissen heute gar nicht mehr so recht, was die Aufgaben des Kantonsparlaments sind. Das beeinflusst wiederum auch die Debattierfreudigkeit im Rat. Ich habe das Gefühl, dass es früher mehr und farbigere Debatten gab. Heute ist die Motivation zu debattieren nicht mehr so gross, weil man weiss, dass die meisten Voten gar nicht erwähnt werden.

 

Bei den letzten Wahlen haben sich die Mehrheitsverhältnisse geändert. Ärgert es Sie, dass Sie diese neue Zusammensetzung jetzt nicht mehr miterleben oder hätte es gar etwas an ihrem Rücktritt geändert?
R.M.: Die neue Zusammensetzung bietet in Umweltfragen sicher neue Chancen, man darf aber auch nicht zu grosse Erwartungen haben. Die Grünliberalen haben vor allem auf Kosten des Freisinns zugelegt, wobei sich die grünliberale Partei auf kantonaler Ebene in den letzten Jahren nur marginal vom Freisinn unterschied. Es besteht aber durchaus die Chance, dass die grünliberale Politik auf Kantonsebene nun auch sozialer wird, wie das auf kommunaler Ebene der Fall ist. Denn bei den letzten Wahlen gelangten viele aus dem städtischen Umfeld in den Kantonsrat, zudem viele junge Frauen. An meinem Entscheid hätte dies allerdings definitiv nichts geändert. Ich kam von Anfang an in einen bürgerlich dominierten Kantonsrat und habe mich aus diesem Grund stark auf die Kommissionsarbeit und den direkten Dialog mit den Verantwortlichen in Behörden und Unternehmen des Kantons fokussiert, um dort Überzeugungsarbeit zu leisten. Nur in Ausnahmefällen habe ich mich mit Anträgen im Parlament bemüht, weil ich wusste, dass linke Anliegen dort sowieso chancenlos bleiben. Mit dieser Strategie bin ich sehr gut gefahren, das Parlament beinhaltet eben mehr als nur die Sitzungen am Montagmorgen.

 

Was für Erfolge sehen Sie in den vergangenen Jahren, Herr Gschwind?
B.G.: Wenn man sich als SP-Mann oder -Frau in den Kantonsrat wählen lässt, muss man sich der Minderheitenposition bewusst sein, gerade auch im Unterschied zum städtischen Parlament. Aus diesem Grund sind echte Erfolge etwas seltener und es braucht einen langen Atem. Wenn ich auf meine Vorstösse zurückschaue, dann sehe ich beispielsweise einen Erfolg in der fünften Ferienwoche für das Staatspersonal, was allerdings erst kurz vor meinem Rücktritt vom Regierungsrat beschlossen wurde. Es ist aber sehr wichtig, dass man trotz Minderheitsstellung präsent ist und seine Anliegen präsentiert.

 

Welche Geschäfte sind Ihnen über die Jahre besonders in Erinnerung geblieben?
R.M.: Das Swissair-Grounding ganz zu Beginn meiner Ratszeit. Um die negativen Auswirkungen zu begrenzen, hat man damals, unter Beteiligung des Kantons, die Swiss gegründet. Was mir dabei besonders in Erinnerung blieb, war die Geschwindigkeit, mit der das Parlament agierte. Normalerweise kann es Jahre dauern, bis Vorstösse verwirklicht werden, aber damals wurden innerhalb von wenigen Wochen Vorlagen umgesetzt, riesige Kredite gesprochen und Koalitionen geschmiedet. Dieses Erlebnis hat mir gezeigt, dass das Parlament nicht nur träge sein, sondern im Notfall sehr schnell handeln kann. In meiner anschliessenden Zusammenarbeit mit den Unternehmen des Kantons, zum Beispiel mit der ZKB, wurde diese Erfahrung wichtig, weil man dort oft die Ansicht hörte, ein Parlament könne kaum rasche Entscheide fällen.
B.G.: Was die SP in ihrer Minderheitenposition immer wieder gut kann, ist etwas zu verhindern, etwa mit dem Referendum. Das hat man zuletzt beim Wassergesetz gesehen. Schwieriger ist es, selbst etwas mitzugestalten. Mir sind zwei Beispiele geblieben, als uns das dennoch gelungen ist. Zu Beginn meiner Amtszeit war ich in der zuständigen Kommission für den Lastenausgleich der Stadt Zürich. Damals war das Klima zwischen Kanton und Stadt noch angespannter als heute. Es war also durchaus nicht sicher, inwiefern ein solcher Lastenausgleich überhaupt zustande kommt. Dass dies dann dennoch mit einer breiten Allianz gelungen ist, blieb mir als Erfolg im Gedächtnis. Das zweite Beispiel ganz am Schluss meiner Zeit im Kantonsrat ist das Taxigesetz, das zeigt, dass die SP manchmal auch unkonventionelle Wege gehen muss, um Mehrheiten für Reformen in ihrem Sinne herbeizuführen.

 

Eine der letzten Debatten betraf den Rosengartentunnel in Wipkingen. Sie, Herr Gschwind sprachen sich, anders als die Parteimehrheit, für den Tunnel aus. Wieso?
B.G.: Ich habe diesbezüglich lange mit mir gerungen. Ich bin in Wipkingen aufgewachsen und lebe auch heute noch im Quartier, habe also alle Diskussionen für eine Verbesserung der Wohnsituation mitbekommen. Ich möchte am jetzigen Zustand etwas verändern, und das Projekt erscheint mir aus städtebaulicher Sicht ein Gewinn für das Quartier zu sein.

 

Kam es oft vor, dass Sie anderer Meinung waren als die Partei?
B.G.: Nein, das war eher selten der Fall. Wenn man in einer konkreten Frage anderer Meinung ist, dann hat die SP-Fraktion gewisse Spielregeln, wie man auch abweichend Stellung nehmen kann. Das ist für mich ein gelebter Minderheitenschutz, den ich gut finde. Natürlich kommt es immer auch darauf an, ob es sich um existenzielle Fragen der Sozialdemokratie handelt, wie etwa die Sozialhilfe oder die Umverteilung im Steuersystem, oder eben um Infrastrukturprojekte. Bei Ersterem finde ich die Linientreue sehr wichtig, bei Letzterem können die verschiedenen Aspekte unterschiedlich gewichtet werden.
R.M.: Die SP-Kantonsratsfraktion hat eine sehr ausgeprägte Diskussions- und Debattierkultur. Es gibt eigentlich nur wenige Geschäfte, bei denen es nicht einzelne Leute gibt, die aus irgendwelchen Gründen eine andere Position als die Mehrheit der Fraktion einnehmen. Ich wäre nicht bei der SP, wenn ich gezwungen wäre, immer der Mehrheitsmeinung zu folgen. Ich bin selten abweichend zur Parteimeinung, aber wenn das der Fall ist, möchte ich das Recht haben, meine Ansicht zu vertreten.

 

Wollen Sie zum Schluss noch etwas loswerden?
R.M.: Ich möchte mich bei allen bedanken, die die Arbeit des Parlaments aktiv mitverfolgt und Interesse gezeigt haben. Nur wenn man als Politiker auch merkt, dass das Interesse da ist, kann etwas Fruchtbares entstehen.
B.G.: Ich habe das Gefühl, dass viele Junge aus der SP in den Gemeinderat wollen, weil sie das Gefühl haben, dort etwas bewegen zu können. Die Entscheidungskompetenzen des Kantonsrats dürfen aber nicht unterschätzt werden. Ich würde mir wünschen, dass sich die Jungen noch mehr für die kantonale Ebene interessieren.

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