«Mach kän Jositsch»

So richtig herzhaft Lustiges ist im vergangenen Jahr eher nicht passiert, was den Jahresrückblick der zehn HumorarbeiterInnen für den  «Bundesordner 2022» eher in Richtung ernsthafter Infragestellung von realen Sonderbarkeiten treibt. Indes kann auch Nachdenkliches unterhalten.

 

Aus dem Orbit grüsst melancholisch ein singender Has, Queen Elisabeth springt mit Fallschirm aus dem Helikopter, Rastaperücken sind aus Polyester und deswegen brandgefährlich und Schlagzeilen suggerieren Betroffenheit, wo sie Zynismus meinen. Oder gabs jemals eine Krise, aus der die Armen als GewinnerInnen hervorgegangen wären? Der «Bundesordner 2022» ist so ernsthaft wie selten zuvor. Marienkäfer sind depressiv, Kunst liebende Protestkleberinnen leiden unter Harndrang und die letzthin aufgebaute Sehnsucht nach Normalität meint auch einen AfD-Slogan. Wer soll da die Welt noch verstehen? Und sich selbst darin? 

 

Diätprodukte lösen Welthunger 

Die Männer, vom Chauvi-Influencer bis zum Polittrötzli, haben es tatsächlich fertiggebracht, dass Mozart nicht mehr gespielt werden kann, weil Cis-Dur zur problematischen Tonlage mutiert ist. Kleine runde Tische statt überlanger Tafeln stellen höchstens eine symbolische Gegenwehr zu Grössenwahn dar, aber wie soll daran der wieder mögliche Besuch Platz finden? Für immerhin eine Mangellage ist eine Lösung in Sicht und vereint zwei unzusammenhängend erscheinende Probleme: Grossflächig zu propagierende Risikosportarten für AusländerInnen erledigen Ausschaffungen und fehlende Spenderorgane zugleich. Während die Partisanenhymne «Bella ciao» den Aufständischen im Iran viel weniger zu helfen vermag, als eine installierte Snowflake-Weberweiterung ihnen den sicheren Internetzugang ermöglicht. Die zehn BühnenarbeiterInnen lassen also ihre Köpfe doch nicht hängen. Selbst wenn die Krimis von Giorgia Meloni in der Spannung nicht an jene von Roger Graf heranreichen und die Lösung für den Welthunger erst rechnerisch aufgeht: Wenn sämtliche Ausgaben für Diätprodukte in den USA gegen den Hunger aufgewendet würden, bliebe sogar noch was übrig.

 

Immerhin die beste Absicht, die sich in ihr Gegenteil verkehrt, scheint gerecht verteilt durchs Band viele zu betreffen: Allergische Hautreaktionen auf Sekundenkleber, eine vermieste CO2-Bilanz durch die Solidaritätsbekundung am Balkongeländer, zeitgleich stattfindende Friedensdemos, die das jeweilige Gegenteil skandieren. Es ist schon eher zum verrückt werden. Abtreibungsverbote stehen in den USA steigenden Schusswaffentoten gegenüber, die sogenannte Cancel-Culture wird als hochdramatischer Abstieg in die Gosse inszeniert und die Jungparteien dramatisiert die Bevölkerungsentwicklung völlig an der Geburtenstatistik vorbei, während selbst die mitreissendste Punknummer das Pflegepersonal nicht vor dem Dilemma befreit, für zehn Minuten PatientInnenkontakt mit zehn Stunden Bürokratieaufwand bezahlen zu müssen. Die Hilfsbereitschaft von Kakerlaken, die bekanntlich auch einen GAU überleben würden, dann halt einfach ziemlich einsam wären, ist vergleichbar hinterhältig wie die der Menschheit, die diese Problematik einfach so lange verdrängt, bis jede Halbwertszeit verstrichen ist. Zudem singen sie mit Verve, aber nur mittelprächtig und dann kommt auch noch DJ Bobo …

 

Schwindel durch Haarfarbe

Statt des titelgebenden Kartongeräts der Aufbewahrung ist die Bühne diesmal die Projektionsfläche für Schreckensbilder und davon gabs im letzten Jahr wahrlich ausreichend. Eine Märchenstunde ergänzt die Projektionen, schlägt aber bei genauerer Betrachtung auch bloss in dieselbe Kerbe. Ein fliegender Bundesrat sucht Frankreich auf dem Petersplatz, Engel hegen übelste Rachegedanken und Neutralität ist primär eine Frisurenfrage, die Farbe machts. Hier wie dort liegt das Potenzial für ein Lächeln auf den Stockzähnen, aber das Team um  Regisseurin Fabienne Hadorn legt es sichtlich – und leider auch erfolgreich – darauf an, jedwedes Gefühl von Bequemlichkeit oder Nichtgemeintsein geschickt zu unterwandern. Sei es eine unpässliche Erfahrung im Ruheabteil, eine ungelenk erscheinende Verteilung von Gefängnistagen für Exsportler und Sportfunktionäre oder eine mindestens an Quantenphysik gemahnende, unsachgemässe Handhabe eines kollektiven Traumas, von irgend einer der Verlockungen zur Schadenfreude fühlen sich alle früher oder später persönlich betüpft. Auch eine Möglichkeit, die Leute mit der Nase drauf zu stossen. Die Vorstellungskraft verwandelt dies in eine stilechte Pirouette, passend schwindlig geredet, ist man da schon.

 

«Bundesordner 2022», bis 12.2., Casinotheater, Winterthur. www.casinotheater.ch

 

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