Linke zwischen Palästina & Holocaust

100 Jahre sind seit der Balfour-Deklaration vergangen, 50 Jahre seit dem Juni-Krieg 1967: Aus diesem Anlass findet am Montag in Zürich eine Veranstaltung mit dem Historiker Lutz Fiedler statt. Über sein Buch «Matzpen – eine andere israelische Geschichte» gibt er P.S. vorab Auskunft. Das Interview wurde schriftlich geführt; die Fragen stellte Nicole Soland.

 

Sie haben sich bereits im Aufsatz mit dem Titel «Israel in Revolution – Matzpen, the Palestine Conflict, and the Hebrew Nation» mit Matzpen (zu Deutsch «Kompass»), einer 1962 gegründeten Abspaltung der Kommunistischen Partei Israels, befasst. Was hat Sie dazu bewogen, der Gruppe mit «Matzpen. Eine andere israelische Geschichte» Ihre Dissertation zu widmen?

Lutz Fiedler: Eigentlich war die Entwicklung anders herum. Ich hatte zuerst das Buch geschrieben, als Dissertation an der Universität Leipzig, und dann habe ich entschieden, die wesentlichen Erkenntnisse einer breiteren Leserschaft zugänglich zu machen. Das Ziel war es dabei vor allem, ein politisch durchaus aufgeladenes Thema in einen historischen Gegenstand zu verwandeln, um sich der Geschichte der israelischen Linken aus einer methodischen Distanz neu anzunähern. Dafür bot auch der akademische Zugriff eine gewisse Chance. An die Stelle eines eiligen, oftmals voreiligen politischen Urteils konnte erst einmal historisches Verstehen treten. Das ist ohnehin die Voraussetzung für politisches Urteilen. Deshalb musste ich zuerst ein Buch schreiben, um das Thema zu durchdringen. Erst dann war es möglich, die Essenz in einem kürzeren Aufsatz zu bündeln.

 

Was hat Sie an Matzpen interessiert?

Matzpen – das ist die Geschichte der israelischen Linken, die 1962 als Abspaltung von der dortigen Kommunistischen Partei entstanden ist. Ihre «zweite Geburt» erlebte die Gruppe schliesslich im Gefolge des Sechstagekriegs 1967, als Matzpen schon unmittelbar nach Kriegsende gegen die israelische Besatzung aufgetreten ist. Ohnehin war es die Auseinandersetzung der Gruppe mit dem Palästinakonflikt und die Suche nach Lösungsperspektiven jenseits des Nationalstaats, für die sie vorrangig einstand. Im Zentrum stand der Versuch, den historischen Konflikt zu überwinden, um israelischen Juden und palästinensischen Arabern gleichermassen eine Zukunft in der Region auf Grundlage individueller und kollektiver Gleichheit und gegenseitiger Anerkennung zu sichern. Da diese Themen in Europa meistens nur vor dem Hintergrund eigener, europäischer Fragen diskutiert werden, hat mich insbesondere die israelische Position interessiert. Spannend war auch, etwas über die politische Sozialisation der einzelnen Protagonisten beziehungsweise darüber zu erfahren, welche jüdischen Erfahrungsbestände jenseits eines zionistischen Selbstverständnisses in ihre Politisierung eingegangen sind. Anderseits habe ich mich immer gefragt, wie es möglich war, dass die Anhänger von Matzpen eine Position im Palästinakonflikt formuliert haben, die gewissermassen von den Ereignissen des Holocausts unberührt war. Das hat mich irritiert und viele Fragen aufgeworfen – eben jene nach dem Ort bzw. Nicht-Ort des Holocausts im Selbstverständnis der israelischen Linken. Die Spannung zwischen Palästinakonflikt und Holocaust bildet sicherlich eine der zentralen thematischen Achsen des gesamten Buches.

 

Es gab in den 1960er-/70er-Jahren «eine andere israelische Geschichte». Was genau machte diese Geschichte aus?

Diese andere Geschichte ist im doppelten Sinne gemeint. Einerseits will ich damit sagen, dass sich entlang der Geschichte von Matzpen eine andere Geschichte von Israel erzählen lässt. Damit wird die Geschichte von Matzpen gleichsam als Medium entschlüsselt, in dem sich Grundfragen der israelisch-jüdischen Existenz wie in einem Brennspiegel bündeln. Andererseits stand Matzpen für die Suche nach einer Neubegründung, ja Neuerfindung der israelischen Existenz im Nahen Osten. Auch das meint «eine andere israelische Geschichte». Diese Neubegründung sollte die israelischen Juden von der fortdauernden Last ihres Gründungskonflikts mit den palästinensischen Arabern befreien, um dadurch zugleich deren Anerkennung wie die von Seiten der arabischen Welt zu erwirken. So sollte einerseits das den Palästinensern im Zuge der israelischen Staatsgründung widerfahrene Unrecht korrigiert werden und den palästinensischen Arabern zu Anerkennung und Selbstbestimmung verholfen werden; andererseits sollte langfristig die Zukunft der israelischen Juden als der Region zugehörige Nation gesichert werden.

 

Warum gelang es nicht, diese «andere Geschichte» weiterzuschreiben, nachdem sich Matzpen 1983 aufgelöst hatte? Bzw. wenn der Libanonkrieg «ein möglicher Neuanfang für die Erfindung eines anderen Israels» war, wie Sie zum Schluss des Buchs festhalten, warum ist daraus nichts geworden?

Ich schreibe am Ende des Buches, dass der Libanonkrieg einen möglichen Neuanfang geboten hatte, weil etwa zehn Prozent der israelischen Bevölkerung damals gegen diesen Krieg demonstrierten – ihren Protest auf die Strasse trugen. Das bedeutete auch die Einsicht, dass eine langfristige Lösungsperspektive des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern nur gemeinsam, auf der Grundlage einer gegenseitigen Anerkennung möglich sein kann. Die Geschichte nahm dann eine Zeit lang einen Verlauf, der Hoffnungen für eine solche Entwicklung geweckt hat, allem voran mit dem Friedensprozess von Oslo. Die Ermordung von Rabin, der Terror der zweiten Intifada, die fortschreitende Zersiedelung der Westbank, die symbolisch für eine fortdauernde Kontinuität der gesamten Konfliktgeschichte steht – all dies und viele andere Faktoren haben in je eigener Form dazu geführt, dass die Hoffnungen von Oslo enttäuscht wurden. Dennoch hoffe ich, dass Frieden und eine gemeinsame Perspektive möglich sind.

 

Matzpen prangerte die Entstehungsgeschichte Israels an, die mit der Zerstörung der arabisch-palästinensischen Gesellschaft einherging, und stellte sich gegen die koloniale Unterordnung der Palästinenser unter die jüdischen Israelis. Sie sind Historiker, der Gegenstand Ihres Buches ist eine Gruppe, die es nicht mehr gibt; dennoch könnte man Ihr Buch auch als politische Stellungnahme zur Situation lesen, die Matzpen anprangerte und die bis heute andauert.

Ich habe mir während des Schreibens des Buches voll und ganz versagt, die Gegenwart zum Thema werden zu lassen. Dies vor allem, weil ich zuerst verstehen wollte, was die Mitglieder von Matzpen angetrieben hat, sich politisch in der Form zu engagieren, wie sie es getan haben. Dieses «Verstehen-wollen» wollte ich mir nicht durch eine unmittelbare politische Parteinahme verderben. Dann hätte ich ja keine Fragen an die Geschichte gestellt und mich mit Perspektiven konfrontiert, die ich vorher noch nicht kannte, sondern in die Geschichte nur hineingeschrieben, was ich ohnehin schon dachte und wusste. Gerade in der Auseinandersetzung mit dem Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern ist das oftmals ein Problem: Politische Parteilichkeit führt nicht selten dazu, die Geschichte nur sehr partiell in den Blick zu nehmen, vor allem aber, sich gar nicht irritieren zu lassen. Natürlich biete ich jetzt mit meiner Beschreibung von Matzpen auch eine Charakteristik des Konflikts an, aus der man eine politische Position ableiten kann. Einfach wird das indes nicht: Denn ebenso wie ich versucht habe zu zeigen, vor welchem historischen Hintergrund die Positionen von Matzpen entstanden sind – etwa dem Algerienkrieg einerseits, dem kulturellen Selbstverständnis, einer im Lande entstandenen hebräischen Nation israelischer Juden zugehörig zu sein, andererseits – habe ich gezeigt, inwiefern die Lösungsperspektiven von Matzpen an einen utopischen Erwartungshorizont – den sozialistischen Internationalismus bzw. eine sozialistische Revolution als Garantie gegenseitiger Anerkennung – geknüpft war, den es so nicht mehr gibt.

Wenn es eine Übertragung in die Gegenwart gibt, dann vielleicht diejenige, dass eine Perspektive der Gemeinsamkeit, in der sich israelische Juden und palästinensische Araber in der Zukunft als gleiche, dem Land zugehörige Bevölkerung anerkennen, die Voraussetzung für alles weitere ist. Wie dies aussehen könnte, das steht mir gar nicht zu, dies zu sagen: Wichtig ist gegenseitige Anerkennung und ein gemeinsamer Weg für eine Perspektive, für deren Findung freilich auch äussere Partner hilfreich sein können.

 

War der Sechstage-Krieg im Juni 1967 der Punkt, an dem sich zeigte, dass eine Gruppe wie Matzpen, die nicht in den allgemeinen Jubel einstimmte, schlicht zu wenig Gewicht hatte, um mit ihrer Kritik an den Siedlungen als Ursache des Konflikts gehört zu werden?

Das Auseinanderdriften der Perspektiven ist sicherlich ein entscheidendes Merkmal der israelischen Geschichte von 1967, was dann auch dazu geführt hat, das Matzpen kein Gehör gefunden hat. So steht die Gruppe paradigmatisch für die Rückkehr der Palästinafrage und den erneuten Beginn von deren offener Thematisierung. Das meint nicht nur, dass Matzpen gegen die Besatzung aufgetreten war und sich mit den Palästinensern als besetzter Bevölkerung solidarisiert hat. Wichtiger noch ist, dass Matzpen argumentiert hat, dass 1967 nicht der Beginn des Konflikts war – sondern dieser eine Geschichte hat. Einerseits die Staatsgründung von 1948; andererseits die konflikthafte Geschichte der zionistisch motivierten Ansiedlung in einer arabisch geprägten Region. In der israelischen Mehrheitsgesellschaft steht 1967 wiederum für etwas anderes. «Jeder hat daran gedacht», heisst etwa ein Kapitel in Tom Segevs Buch über die Holocaust-Erinnerung in Israel, das beschreibt, in welchem Masse die arabischen Vernichtungsdrohungen gegen Israel am Vorabend des Krieges die Erinnerung an die Katastrophe des Holocausts wachgerufen und diese auf den Kontext des Nahen Ostens übertragen haben. Nach dem Sechstagekrieg hat dann Abba Eban das Wort geprägt, dass eine Rückkehr zu den Grenzen von 1967 eine Rückkehr zu den Grenzen von Auschwitz wäre, und deutlich gemacht, dass sich die Existenz Israels unmittelbar aus dem Holocaust legitimiert. Andererseits hat sich mit 1967 aber noch ein anderer, ein sakraler Zeithorizont geöffnet. Die Begegnung der meisten Israelis mit den sakral aufgeladenen Orten in den neu gewonnenen Territorien glich – in den Worten eines zeitgenössischen Beobachters – jedenfalls einer Art «Zusammentreffen mit einem tieferen vergessenen Selbst». Auf einmal trat die Bindung an ein heiliges Land in den Vordergrund, das ganz neue Schwierigkeiten für einen territorialen Kompromiss mit den Palästinensern aufwarf. Diese vielen gegenläufigen Perspektiven von 1967 waren in der Tat nur schwerlich miteinander zu vermitteln und führten dazu, dass Matzpen auf entschiedene Ablehnung stiess.

 

Hat es der Gruppe eventuell ‹geschadet›, dass ihre Mitglieder nach dem 2. Weltkrieg geboren und in Israel aufgewachsen waren und den eigenen Staat deshalb schärfer kritisierten als beispielsweise Holocaust-Überlebende, die nach dem 2. Weltkrieg nach Israel ausgewandert waren?

Niemand entscheidet die eigene Herkunft bzw. Zeit und Raum der Geburt. Dennoch mag der Umstand, dass die Gründergeneration von Matzpen im britischen Mandatsgebiet Palästina und damit in räumlicher Distanz zu den Ereignissen in Europa – dem Holocaust – aufgewachsen waren, Einfluss darauf genommen haben, dass vor allem der Palästinakonflikt zwischen Israelis und Palästinensern – Israels Gründungskonflikt im Nahen Osten – zur sie bestimmenden existenziellen Frage wurde. Zugleich lässt sich entlang der Geschichte von Matzpen eine Situation konstatieren, in der die neuen israelischen Linken vor dem Hintergrund des Palästinakonflikts eine politische Utopie formulierten, die mit einem jüdischen Selbstverständnis kollidierte, das der Erfahrung der Katastrophe, dem Zivilisationsbruch von Auschwitz entsprungen war. Zwar hatte ihr zukunftsfroher Internationalismus den Angehörigen von Matzpen die Möglichkeit verschafft, sowohl die Grundfragen des israelisch-palästinensischen Konflikts aufzurollen, als auch von neuem über die Bedingungen einer gesicherten jüdisch-israelischen Existenz im Nahen Osten zu räsonieren. In einer Zeit nach Auschwitz, als sich die jüdische Welt nahezu ausnahmslos in ihrer Israel-Solidarität einig wusste, rührte ein solcher Optimismus zugleich an einem kollektiven Selbstverständnis, das im Bestand eines jüdischen Staates die gleichsam alternativlose Bedingung der eigenen Existenz nach dem Holocaust ausmachte.

Im weltanschaulichen Gebäude von Matzpen hatte die Erfahrung von Auschwitz demgegenüber keinen Eingang gefunden.

 

Was war die erstaunlichste Erkenntnis, die Sie beim Schreiben von «Matzpen» hatten?

Das erstaunlichste war, zu verstehen, wie stark die Geschichte von Matzpen selbst mit der Geschichte Israels verschränkt ist. Was ich damit meine ist, dass Matzpen mehr war als nur eine kleine linke Organisation, die mit ihrem politischen Protest für Aufsehen gesorgt hat und deren Organisationsgeschichte deshalb erzählt werden musste. Im Buch habe ich vielmehr behauptet, dass es möglich ist, durch das Prisma von Matzpen eine andere israelische Geschichte zu schreiben und dass es möglich ist, entlang der Geschichte von Matzpen zahlreiche Grundfragen der israelischen Geschichte zu thematisieren. Davon bin ich immer noch überzeugt: Entlang von Matzpen wird etwa die Geschichte des Seemannsstreiks von Haifa 1951 zum Thema, durch den Akiva Orr, ein Gründer der Gruppe, politisiert wurde. Auch der Palästinakonflikt, seine Vorgeschichte, seine Entwicklung seit der Staatsgründung, aber auch die jeweiligen Positionierungen der Palästinenser geraten entlang einer Geschichte von Matzpen in den Blick. Kulturelle Fragen des israelischen Selbstverständnisses – versteht man sich als jüdische oder als hebräische, dem Land entsprungene Nation – werden sichtbar. Die je unterschiedlichen Biographien der einzelnen Matzpen-Mitglieder bieten hier viel Material. Es sind beeindruckende Personen, die diese Gruppe gegründet und geprägt haben. Matzpen hat die israelische Gesellschaft immer wieder mit ihrem Gründungskonflikt konfrontiert und diesen in universalistischer Absicht zu überwinden gesucht.

 

Fiedler, Lutz: Matzpen – eine andere israelische Geschichte. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Die 2., durchgesehene Auflage (408 Seiten, 70 Euro) wird in Kürze ausgeliefert.

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